Hervorgehobener Beitrag
Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Was ist heute vom DEFA-Märchenfilm der untergegangenen DDR übrig geblieben?

Als der Historiker llko-Sascha Kowalczuk mit „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ (2019) ostdeutsche Befindlichkeiten unter die Lupe nahm, provozierte er – dreißig Jahre nach dem Mauerfall – eine kontroverse Debatte. Lobte der 1976 von der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann in der „Berliner Morgenpost“ Kowalczuks Essay als „glänzendes Buch“ und „wahrhaftige Analyse“, so urteilte im „Deutschlandfunk Kultur“ die DDR-Ex-Leistungssportlerin Ines Geipel deutlich kritischer.

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de


Kowalczuk bediene mit seiner „Strategie des halben Blicks“ nur den „aktuellen Hype: da der Schuld-Westen, dort der Opfer-Osten“, so Geipel, die auch Mitbegründerin des „Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR“ ist. Gleichwohl hält die Zeit des Bilanzziehens unvermindert an. Sie mündet dabei vor allem in einer Frage: Wie wirkt sich eine sogenannte „Übernahme“, oder anders gesagt: der Beitritt der DDR (nach Artikel 23 des alten Grundgesetzes), auf das heutige Deutschland aus?

„Kulturelle Hegemonie“ und fehlende „Ost-Eliten“

Dabei rückte Kowalczuk den Blick auch auf eine westdeutsche ‚Vorherrschaft’ im Kulturbetrieb des seit 30 Jahren vereinten Deutschlands. Diese Erkenntnis war zwar schon damals nicht neu, gewann aber mehr und mehr an Relevanz im öffentlichen Diskurs. Jene ‚West-Dominanz’ nannte Kowalczuk „kulturelle Hegemonie“, geprägt von fehlenden „Ost-Eliten“ und einer damit verbundenen „Abwertung“ ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler.

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de


Dabei meint der wissenschaftlich eher umstrittene Begriff „Eliten“ (vgl. Waldmann 1998, S. 113–116) Personen, die in Institutionen oder Organisationen aufgrund ihrer (Leitungs-)Funktion und der daraus resultierenden Macht einen gesellschaftspolitischen Einfluss besitzen. „Ost-Eliten“ sind hierbei jene, die in der DDR geboren oder nach dem 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern oder Ostberlin geboren und/oder aufgewachsen sind und deren Eltern aus der DDR stammen.

Eine ‚West-Vorherrschaft’ im Märchenfilm nach 1990?

Zwar gibt es einige wenige Statistiken, die den Anteil der Ostdeutschen an den gesamtdeutschen Eliten bemessen (vgl. Kollmorgen 2021), doch gilt landläufig die Meinung, dass sich ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler „im vereinten Vaterland noch am besten behauptet“ haben (Eckert 2021, S. 283).

Dennoch finden sich selten valide Erhebungen, die sich tiefergehend dem Kulturbetrieb, zum Beispiel der Filmbranche widmen. Schon gar nicht dem bundesdeutschen Märchenfilm, der aber vor dem Hintergrund der 40-jährigen DDR-Märchenfilmgeschichte und des anhaltenden gesamtdeutschen Märchenfilmbooms seit Mitte der 2000er-Jahre einen näheren Blick lohnt und Fragen aufwirft.

Gibt es heute (oder immer noch) eine sogenannte „Repräsentationslücke“ (Kollmorgen 2021, S. 231) von DDR-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern, oder umgekehrt gefragt eine ‚West-Vorherrschaft’, im bundesdeutschen Märchenfilm nach 1990? Und wenn ja, wie groß ist diese, was sind hierfür die Gründe und folgen daraus unmittelbare Defizite?

Die Abwicklung von DFF und DEFA

Als die DEFA, das ehemalige staatliche Filmstudio der DDR, 1992 von der Treuhandanstalt an einen französischen Mischkonzern verkauft wird, blickt es in seiner über 45-jährigen Geschichte auf etwa 40 Schauspieler-Märchenkinofilme zurück. Zudem produziert die DEFA für den staatlichen Deutschen Fernsehfunk (DFF, 1956–1971, 1990–1991) bzw. das Fernsehen der DDR (1972–1990) etwa 20 Märchenfernsehfilme bzw. -spiele.

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG


Ihr künstlerisches Niveau, lobenswerte Leistungen der Schauspielstars und dramaturgisch gut durchdachte Geschichten machten viele der Märchenadaptionen – trotz einer mal mehr, mal weniger durchschimmernden Ideologie – damals wie heute zu Filmklassikern, die sogar in den Westen exportiert und dort in TV und Kino gezeigt wurden. Dennoch fielen mit der Abwicklung von DEFA und DFF schlagartig zwei Institutionen weg, die diese Märchenfilme produzierten. Das daran beteiligte künstlerische Personal verlor von heute auf morgen seine gesicherte Existenz.

Neuanfang in unbekanntem Produktionsmarkt

„Das Telefon stand plötzlich still“, erinnerte sich später der Filmkomponist Peter M. Gotthardt in einem Interview an die Nachwendezeit – und meinte damit die ausbleibenden Aufträge. Gotthardt, der mit der Filmmusik zu „Die Legende von Paul und Paula“ (DDR, 1973, R: Heiner Carow), aber auch zum DEFA-Märchenfilm „Schneeweißchen und Rosenrot“ (DDR, 1979, R: Siegfried Hartmann) zu den wichtigsten DDR-Filmkomponisten zählte, schaffte den Neuanfang in einem gänzlich unbekannten Produktionsmarkt mit hohem Konkurrenzdruck. Vielen anderen Kolleginnen und Kollegen gelang das allerdings nicht.

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR


Das hatte auch damit zu tun, dass sich – auf das Märchenfilmgenre bezogen – die Nachfolger des DFF, die 1992 neu gegründeten ARD-Landesrundfunkanstalten Mitteldeutscher Rundfunk (MDR) und Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB, seit 2003: Rundfunk Berlin-Brandenburg, kurz: RBB) erst einmal neu aufstellen mussten (vgl. Wiedemann 2017, S. 215). Die Produktion neuer Märchenfilme stand nicht auf der Tagesordnung. Das künstlerische DEFA-Märchenfilmerbe schien vorerst niemanden zu interessieren.

Einige ‚Überläufer’ in Fernsehen und Kino

Mit wenigen Ausnahmen: MDR und ORB übernahmen 1992 gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem Sender Freies Berlin (SFB) die Endproduktion von „Sherlock Holmes und die sieben Zwerge“ (TV-Erstausstrahlung: 10.5.1992). Gedreht wurde die 8-teilige Fantasy-Serie nach Motiven der Brüder Grimm noch von der bereits abgewickelten DEFA-Studio Babelsberg GmbH (vgl. Wiedemann 2015, S. 9).

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB


Der Filmstab gehörte fast ausschließlich zum früheren DEFA-Personal: Die Regie übernahm der ehemalige DDR-Regisseur Günter Meyer (u. a. „Spuk unterm Riesenrad“, 1978), der bis Anfang der 2000er-Jahre weiter Akzente im Fantasy-Fach setzte.

Zudem starteten sogenannte ‚Überläufer’ wie „Das Licht der Liebe“ (DDR/D 1991) und „Olle Hexe“ (DDR/D 1991), die bereits vor dem 3. Oktober 1990 abgedreht, aber erst danach im gesamtdeutschen Kino uraufgeführt wurden.

Stabile Strukturen und Netzwerke im Westen

Der frühe gesamtdeutsche Märchenfilm nach 1990 wurde dennoch von den Akteurinnen und Akteuren in den etablierten alten Bundesländern geprägt. Hier gab es Strukturen und Netzwerke, die über Jahrzehnte gewachsen waren und sich weiter als stabil erwiesen. So führte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) Anfang der 1990er-Jahre seine Reihe „Die Welt des Märchens“ fort. Darin verfilmte der öffentlich-rechtliche Sender in Koproduktion mit der ČSSR (später: ČSFR und ČZ) sowie westeuropäischen Fernsehanstalten bekannte Märchen für Kino und TV.

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF


Opulente Produktionen wie „Dornröschen“ (ČSSR/D/F 1990), „Der Reisekamerad“ (ČSSR/D/F/I/AT 1990), „Der Froschkönig“ (ČSFR/D/F/I 1991), „Schneewittchen und das Geheimnis der Zwerge“ (ČSFR/D/I/ES 1992) oder „Des Kaisers neue Kleider“ (ČZ/D/ES/I 1994) rekrutierten ihr Personal dabei ausschließlich aus populären westdeutschen Schauspielstars, wie Iris Berben, Judy Winter, Michael Degen oder Harald Juhnke, und tschechoslowakischen Filmschaffenden.

Ebenso verfuhr die ARD, die „Das Zauberbuch“ (ČZ/D 1996) mitproduzierte, oder der Bayerische Rundfunk (BR), der sich an „Der Feuervogel“ (ČZ/D 1997) und „Die Seekönigin“ (ČZ/D 1998) beteiligte. Ostdeutsches Personal war auch hier, aufgrund der beteiligten westdeutschen Landesrundfunkanstalt (BR), so gut wie nicht vertreten.

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF


Für westliche Entscheidungsträgerinnen und -träger in ARD und ZDF kamen Ostdeutsche auch deshalb nicht infrage, weil etwaige künstlerische Positionen in den TV-Redaktionen oder Filmstäben ohnehin bereits besetzt waren. Eine Neu- oder Umverteilung war nicht gewollt.

Ostdeutsche Aspirantinnen und Aspiranten wurden nicht zuletzt diskreditiert („Bolschewistenfunk“), weil sie nach Ansicht der westdeutschen Elite mit ihrer (künstlerischen) Arbeit das DDR-Regime direkt oder indirekt gestützt hätten. Und das, obwohl nach dessen Ende das DEFA- und DFF-Personal über berufliche Qualifikationen und notwendiges Fachwissen verfügte.

Lichtblick am Ende der 1990er-Jahre

Da wirkte es wie eine große Überraschung als Ende der 1990er-Jahre der frühere DEFA-Regisseur Rolf Losansky „Hans im Glück“ (D 1999) vorlegte – und dabei auf ein proportional ausgeglichenes hochkarätiges Ost-West-Schauspielensemble zurückgriff. Der Grund dafür mag darin gelegen haben, dass den von der Westberliner Genschow-Film GmbH produzierten Märchenfilm neben dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) auch der in Potsdam ansässige ORB und der 1997 im thüringischen Erfurt gestartete ARD-/ZDF-Kinderkanal (seit 2012: KiKA) mitfinanzierte, für den der MDR bis heute verantwortlich ist.

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film


Und auch wenn der Posten des KiKA-Programmgeschäftsführers von 1997 bis 2017 mit westdeutsch sozialisierten männlichen Entscheidungsträgern besetzt wurde (seit 2018: Astrid Plenk aus Bernburg/Sachsen-Anhalt), ist es denkbar, dass sich schon Ende der 1990er-Jahre die Redaktionen zum Teil aus ostdeutschem Personal zusammensetzten – und sich dieser Umstand auf die Märchenfilm-Produktionsplanung (Regie, Drehbuch, Schauspiel etc.) auswirkte.

Märchen-Parodien in Kino und TV für Erwachsene

Dennoch ging von „Hans im Glück“ vorerst keine Trendwende aus. Schlichtweg aus dem einfachen Grund, weil das deutsche Märchenfilmgenre Anfang der 2000er-Jahre keine wichtigen Adaptionen nach Grimm, Andersen und Co. für ein Kinderpublikum produzierte. Fragen nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ spielten deshalb vorerst noch keine Rolle.

Gleichwohl war das Märchen weiter präsent: als Parodie in Kino und TV für Erwachsene. So funktionierten die von Otto Waalkes mitproduzierten Filmkomödien „7 Zwerge – Männer allein im Wald“ (D 2004) und „7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug“ (D 2006) an den Kinokassen. Und im Privatsender ProSieben flimmerte „Die Märchenstunde“ (D/AT/ČZ 2006–2012) der Rat Pack Filmproduktion (München) über die Bildschirme.

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures


Hier wie dort griffen die Filmverantwortlichen auf westdeutsches Personal zurück, das vor oder hinter der Kamera agierte, wenn man von wenigen im Osten geborenen Schauspielstars (Nina Hagen, Mirco Nontschew, Jeanette Biedermann etc.) einmal absah.

„Sechs auf einen Streich“ und „Märchenperlen“

Ab Mitte der 2000er-Jahre erlebte der Märchenfilm im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von ARD und ZDF ein Comeback. Die meist an den Weihnachtsfeiertagen erstmalig gezeigten Adaptionen der Reihen „Märchenperlen“ (ZDF, seit 2005, auch Koproduktionen) und „Sechs auf einen Streich“ (ARD, seit 2008) richteten sich dabei sowohl an ein Kinder- als auch Familienpublikum.

Dafür gründete die Kinder- und Jugendredaktion des ZDF Anfang der 00er-Jahre eine Art ‚Think Tank’, dem auch der Münchner Filmproduzent Ernst Geyer angehörte. Die Denkfabrik sollte eine Konzeption für zunächst sechs Märchenfilme entwickeln. Darin wurden auch fünf Drehbuchautoren und eine Drehbuchautorin aus den alten Bundesländern berufen. Mitfinanziert wurden die ersten vier Märchenfilme (2005–2008) neben der Länderförderung Bayern und Hamburg von der in Leipzig ansässigen Mitteldeutschen Medienförderung (vgl. Ungureit 2009, S. 10f.).

Ostdeutsche im ARD- und ZDF-Märchenfilm

Um tendenzielle Aussagen darüber zu treffen, ob und wie viele DDR-sozialisierte Filmemacherinnen und -macher das bundesdeutsche Märchengenre mitpräg(t)en, soll der Blick stichprobenartig auf die Bereiche Regie und Drehbuch gelenkt werden.

Bis 2021 drehte das ZDF 19 Märchenfilme*, an denen insgesamt 13 Regisseure (10) und Regisseurinnen (3) beteiligt waren. Davon sind zwei (15 Prozent)** im Osten geboren: Karola Hattop, die seit 1973 Kinder- und Familienfilme für das DDR-Fernsehen und später für das ZDF zwei Märchenfilme („Die sechs Schwäne“, 2012 und „Die Schneekönigin“, 2014) inszenierte, sowie Carsten Fiebeler („Die goldene Gans“, 2013), der erst nach der Wende als Regisseur arbeitete. Koproduziert wurden diese drei ZDF-Märchenfilme von der im Jahr 2000 im thüringischen Erfurt gegründeten Kinderfilm GmbH (später: Mideu Films GmbH).

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans


Anders als beim ZDF verteilt sich die Produktion der ARD-Märchenfilme auf die neun Landesrundfunkanstalten. Die in der DDR geborene ehemalige RBB-Mitarbeiterin Sabine Preuschhof koordinierte die Reihe „Sechs auf einen Streich“ in den ersten Jahren. Werden die 52 ARD-Adaptionen bis 2021 im Hinblick auf Ost-West-Besetzung ausgewertet, zeigt sich folgendes Bild: Von insgesamt 26 Regisseuren (20) und Regisseurinnen (6) haben fünf (19 Prozent) eine Ost-Sozialisation**.

Fürneisen und Fiebeler gehören zu Top-Regisseuren

Darunter ist Bodo Fürneisen, der bei fünf ARD-Märchenfilmen auf dem Regiestuhl sitzt – er wird nur übertroffen vom westdeutschen Regisseur Christian Theede mit sechs NDR-Adaptionen. Fürneisen hatte bereits für das DDR-Fernsehen die Klassiker „Die Geschichte vom goldenen Taler“ (DDR 1985) sowie „Die Weihnachtsgans Auguste“ (DDR 1988) inszeniert. Fiebeler kommt insgesamt auf vier ARD-Adaptionen und zeigt, dass man in ZDF und ARD erfolgreich Märchen verfilmen kann.

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR


Dabei verantwortet die fünf Fürneisen-Märchenfilme und eine Fiebeler-Adaption die in Potsdam ansässige Landesanstalt RBB. Fiebelers drei andere ARD-Verfilmungen entstehen zwar unter Federführung der westdeutschen Anstalten Hessischer Rundfunk (HR) bzw. Südwestrundfunk (SWR), werden aber zum Teil von der Kinderfilm GmbH produziert: „Das blaue Licht“ (D 2010).

Nur wenige ‚ostdeutsche’ Märchenfilm-Drehbücher

Bei zwei weiteren mit Osthintergrund (Regie) gedrehten Filmen ist neben Radio Bremen (RB), dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem HR auch der MDR als Koproduzent vertreten. Einen weiteren Märchenfilm verantwortet die in Leipzig ansässige Landesanstalt ganz allein, wobei zudem die Kinderfilm GmbH das Märchen im Auftrag des MDR produziert.

Im Hinblick auf eine Ost-West-Sozialisation von Drehbuchautorinnen und -autoren im ZDF- und ARD-Märchenfilm zeigt sich ein ähnliches Bild: Von insgesamt 17, die an den „Märchenperlen“ beteiligt sind, hat nur ein Drehbuchschreiber (6 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Dieser ist aber an drei ZDF-Märchenfilmen beteiligt. Bei den ARD-Produktionen haben von insgesamt 28 Autorinnen und Autoren vier (14 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Zwei davon arbeiten allerdings gleich an drei Märchenfilmen mit.

Von „Das kalte Herz“ zu „Timm Thaler“

Einzelne Kinofilme in den 2010er-Jahren wie die Filmmärchen „Aschenbrödel und der gestiefelte Kater“ (D 2013) und „Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte“ (D 2013, koproduziert vom BR), aber auch das nach einer klassischen Vorlage entstandene „Das kalte Herz“ (D 2016, koproduziert u. a. von ARD/MDR/SWR und mitfinanziert u. a. von Mitteldeutsche Medienförderung und Medienboard Berlin-Brandenburg) entstehen wieder weitgehend mit westdeutsch sozialisierten Filmschaffenden, wobei letztere Märchenverfilmung mit André M. Hennicke und Jule Böwe zwei ostdeutsch sozialisierte Schauspielstars engagiert.

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH


Eine Ausnahme stellt die fantastische Romanverfilmung „Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen“ (D 2017) dar, die u. a. von den im thüringischen Gera geborenen Andreas Dresen (Regie) und Jörg Hauschild (Schnitt) sowie von der aus Potsdam stammenden Sabine Greunig (Kostüme) inszeniert wurde. Ostdeutsche wie Charly Hübner, Nadja Uhl, Reiner Heise oder Steffi Kühnert, aber auch die westdeutschen Schauspieler Justus von Dohnányi, Axel Prahl oder Bjarne Mädel machten den u. a. vom ZDF koproduzierten Kinofilm zu einem gesamtdeutschen Projekt.

Ostanteil proportional zur Gesamtbevölkerung

Demnach sind seit 1990 in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden, die entweder vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ARD, ZDF) oder von freien Produktionsfirmen hergestellt wurden. Doch untermauern die Statistiken und Filmbeispiele die These, dass es im bundesdeutschen Märchenfilm heute noch eine „Repräsentationslücke“ von DDR- oder ostdeutsch-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern gibt?

Vor dem Hintergrund, dass etwa 17 Prozent aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger ostdeutscher Herkunft sind (vgl. Kollmorgen 2021, S. 235) und diese Zahl als Vergleichsgröße gilt, wirkt der Regieanteil im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von 19 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“) und 15 Prozent (ZDF: „Märchenperlen“) sowie der Drehbuchanteil von 14 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“)** relativ proportional. Nur der ‚ostdeutsche’ Drehbuchanteil am ZDF-Märchenfilm von 6 Prozent ist unterproportional.**

Die Zahlen zeigen zudem wenig überraschend, wenn die beiden ‚Ost-Landesanstalten’ RBB und MDR an Märchenfilmen der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ beteiligt sind, werden für die Posten Drehbuch und Regie ebenso ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler interessant. Zudem wirkt sich die Beteiligung ostdeutscher Produktionsfirmen, beispielsweise der „Kinderfilm-GmbH“, auf den Anteil im Osten sozialisierter Akteure und Akteurinnen aus.

ARD-Landesanstalten mit ‚Lokalpatriotismus’

Dennoch lässt das nicht pauschal den Schluss zu, die in Thüringen bzw. Sachsen-Anhalt ansässige Firma arbeite vorrangig mit ostdeutschem Personal, im Unterschied zu im Westen ansässigen Produktionsfirmen.

Dafür spricht, dass „Kinderfilm“ auch ZDF-Märchenfilme verantwortete, die eine westdeutsche Regisseurin (Anne Wild: „Hänsel und Gretel“, 2006) oder einen westdeutschen Regisseur (Frank Stoye: „Der Zauberlehrling“, 2017; „Der süße Brei“, 2018) rekrutierten. Das gilt auch für die von „Kinderfilm“ produzierten ARD-Märchenfilme „König Drosselbart“ (D 2008), „Die Gänsemagd“ (D 2009) und „Rotkäppchen“ (D 2012) – alle in der Regie der Münchnerin Sibylle Tafel.

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland


Trotzdem scheint es, dass „Kinderfilm“ – im Gegensatz zu im Westteil Deutschlands ansässigen Produktionsfirmen – ein Stück weit sensibilisierter mit der Rekrutierung von Filmschaffenden umgeht. Andererseits kann dem Unternehmen, wie auch einigen ost- und westdeutschen ARD-Landesrundfunkanstalten allgemein vorgehalten werden, dass sie einen ‚Lokalpatriotismus’ bedienen, das heißt: vor allem Filmschaffende engagieren, die auf dem Gebiet der jeweiligen Rundfunkanstalt oder eines Bundeslandes leben und für den Sender bereits arbeiten.

Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Wenn RBB und MDR keine oder weniger im Osten sozialisierte Künstlerinnen und Künstler rekrutieren würden, lägen die Anteile bei Regie und Drehbuch deutlich unter dem erwähnten quantitativen Minderheitenstatus der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung (17 Prozent). Denn die anderen sieben im Westen ansässigen Landesanstalten NDR, RB, WDR, HR, SWR, BR und Saarländischer Rundfunk (SR) würden das mit dem von ihnen engagierten Ostpersonal nicht auffangen.

Die ostdeutsche Übernahme

Doch wie wirkt sich der Ost-Regieanteil von 19 bzw. 15 Prozent sowie -Drehbuchanteil von 14 bzw. 6 Prozent auf die öffentlich-rechtliche Märchenfilmproduktion** aus? Folgen daraus unmittelbare Defizite?

Glaubt man Josef Göhlen, ehemaliger Leiter des Kinderprogramms beim HR und ZDF, so ist es genau umgekehrt: Der heutige bundesdeutsche Märchenfilm ist eigentlich ein DEFA-Märchenfilm 2.0. Denn für Göhlen orientieren sich die ARD- und ZDF-Märchen „an einer tradierten Märchendramaturgie, wie sie seinerzeit insbesondere von der ostdeutschen Produktionsfirma DEFA gepflegt wurde“ (Gangloff 2016, S. 8f.). Damit meint er, dass darin die Armen und Unterdrückten immer zu den im ethischen Sinn Guten, die Reichen dagegen durchgehend zu den Bösen zählten. Er halte es für einen großen Fehler, diese Dramaturgie nachzuahmen.

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR


Die Schweizer Filmkritikerin Christine Lötscher meint, dass sich die ARD- und ZDF-Adaptionen zudem gestalterisch „an der historisierenden Ästhetik der DEFA-Märchenfilme“ (Lötscher 2017, S. 310) orientieren. Und: Wie den DDR-Produktionen liege dem öffentlich-rechtlichen Märchenfilm „eine Analyse und Interpretation der Textvorlage zugrunde; die zeitlosen Konflikte der Figuren werden konkretisiert, psychologisiert und in die Gegenwart übertragen“ (ebd. S. 311). Allerdings gelinge es eher selten, den ganz eigenen Zauber der DEFA-Filme zu reproduzieren.

Daraus wäre auf die hier diskutierte Frage zu schließen, dass sich seit 1990 keine westdeutsche „Übernahme“ in der gesamtdeutschen Märchenfilmproduktion, sondern umgekehrt eine ostdeutsche „Übernahme“ vollzogen hat – wenn auch ‚nur’ in dramaturgischer und gestalterischer Hinsicht.

Diversität: Frauenanteil und Migrationshintergrund

Gleichwohl bleibt damit die Frage nach einer angemessenen personellen ostdeutschen Teilhabe in der bundesdeutschen Märchenfilmproduktion bestehen. Flankiert wird sie allerdings im 21. Jahrhundert mit der Forderung nach einer generellen Diversität in diesem Filmgenre: Die stichprobenartigen Statistiken zeigten beispielsweise, dass der Frauenanteil – nicht nur im Regie- und Drehbuchfach – sehr gering ist.

Zudem sind Filmschaffende mit Migrationshintergrund noch Ausnahmen. Der deutsch-türkische Regisseur Cüneyt Kaya („Das Märchen vom goldenen Taler“, 2020), der in Istanbul geborene Regisseur und Drehbuchautor Su Turhan („Die drei Federn“, 2014; „Prinzessin Maleen“, 2015; „Der starke Hans“, 2020) oder der in Vietnam geborene Kameramann und Regisseur Ngo The Chau (u. a. „Die Hexenprinzessin“, D/CZ, 2020) sind drei Beispiele. Ebenso lassen sich hier der Finne Hannu Salonen („Des Kaisers neue Kleider“, 2010) oder die in Stockholm geborene deutsche Regisseurin Maria von Heland („Die Sterntaler“, 2011; „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, 2013) nennen.

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein


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Die Frage nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ im deutschen Märchenfilmgenre sollte deshalb um andere Gruppen (Frauen, Migrationshintergrund) in den nächsten Jahren erweitert werden. Um das personelle Defizit ausgeglichener zu gestalten, braucht es nicht unbedingt starre Quotenregelungen. Dafür sensibilisierte Filmschaffende in den Chefinnen- und Chefetagen wären schon einmal ein Anfang.

* Ohne den Märchenfilm „Zwerg Nase“ (D, 2008, R: Felicitas Darschin). Dieser entstand im Auftrag des BR, wird aber zu den ZDF-„Märchenperlen“ gezählt, obwohl der Sender nicht daran beteiligt war.

** Die Herkunft der Filmschaffenden wurde in öffentlichen Quellen (Internet, Fachmedien) recherchiert und/oder individuell bei den Künstlerinnen und Künstlern angefragt (E-Mail). Da nicht zu allen Filmschaffenden die Herkunft recherchiert werden konnte, können die Zahlen prozentual leicht abweichen (Stand: 24.3.2022).

Verwendete Quellen:


Headerfoto: Die kluge Bauerntochter (BRD 2010): Die Titelfigur (Anna Maria Mühe, l.) und ihre Freundin die Magd (Sabine Krause) bestaunen das Fernrohr des Königs / Foto: MDR/Sandy Rau

Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit

Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit

Der sowjetische Märchenfilm – in Farbe gedreht – gilt als Klassiker des Genres. Obwohl handwerklich gut gemacht, steht seine Berliner Uraufführung im Frühjahr 1947 zugleich für eine kurze (kultur-)politische Entspannung.

Im Nachkriegsdeutschland des Jahres 1947 arbeiten die vier Besatzungsmächte – UdSSR, USA, Frankreich und Großbritannien – mit ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entscheidungen Schritt für Schritt auf die Teilung des Landes hin.

So schließen sich am 1. Januar 1947 die US-amerikanische und britische Besatzungszone zur sogenannten „Bi-Zone“ zusammen, die 1949 ein Teil der Bundesrepublik werden wird. In Moskau streiten sich seit dem 10. März die Außenminister der vier Alliierten über die weitere Zukunft Deutschlands, kommen aber wegen völlig unterschiedlicher Vorstellungen zu keinem Ergebnis. Und am 12. März fordert US-Präsident Harry S. Truman, dass jede Nation frei entscheiden können müsse, zu welchem System – Ost oder West – sie gehören wolle.

Ein Hauch von Frühling in Berlin

In dieser Gemengelage und nach einem eiskalten Nachkriegswinter 1946/47, in dem allein in Berlin über 1.000 Menschen verhungern oder erfrieren, hält ein Hauch von Frühling in der Viersektorenstadt Einzug – es wird milder, kurzzeitig auch politisch und kulturell. Der Grund: ein sowjetischer Märchenfilm, der am 11. April 1947 gleichzeitig in verschiedenen Berliner Kinos aller vier Sektoren zur deutschen Uraufführung kommt. „Die steinerne Blume.“

Der Streifen von Regisseur Alexander L. Ptuschko (1900–1973) gewinnt ein Jahr zuvor bei den ersten Internationalen Filmfestspielen von Cannes (Frankreich) den Preis für den besten Farbfilm (Grand Prix International de la couleur).

Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit

Die schöne Wassilissa (UdSSR 1939): Der Schwarzweiß-Märchenfilm startet am 12. Juli 1946 in der SBZ / © Icestorm


Zwar ist er „nach dem deutschen Agfacolor-Verfahren hergestellt“ (Neue Zeit, 11.4.1947) und wird im Original mit deutschen Untertiteln gezeigt, doch das ist nebensächlich. Vielmehr verzaubert der Märchenfilm, mit wenigen Ausnahmen im Moskauer Mosfilm-Studio gedreht, durch Ausstattung und Kostüm, Tricks und Bühnentechnik, Musik und Tanz.

Er ist allerdings nicht der erste sowjetische Märchenfilm im Nachkriegsberlin. So laufen die schwarzweiß gedrehten „Der unsterbliche Kaschtschej“ (1944, Start: 7.9.1945), „Der Zauberfisch“ (1938, Start: 22.6.1946) oder „Die schöne Wassilissa“ (alle UdSSR 1939, Start: 12.7.1946) schon zuvor – aber nur im Ostsektor Berlins und in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ).

Aufhebung der Sektorengrenzen

Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit

Die steinerne Blume (UdSSR 1946): Kinoplakat / Quelle: Privat

So verwundert es kaum, dass das 1946 in Ostberlin gegründete „Neue Deutschland“ vor der Premiere von „Die steinerne Blume“ ein wenig stolz schreibt, dass es das erste Mal nach Kriegsende sei, „daß bei der Aufführung eines Filmes in Berlin die Sektorengrenzen fallen“ (2.4.1947).

Und auch im Westen gibt man sich hoffnungsvoll, wenn im 1947 erstmals in Hannover erscheinenden „Der Spiegel“ steht, dass „[d]er erste Schritt zur Aufhebung der Sektorengrenzen […] getan [sei], jedenfalls so weit es den Film betrifft“ (19.4.1947).

Der Film, der die Deutschen für gut anderthalb Kinostunden näher zusammenrücken lässt, geht auf Sagen aus dem Ural – ein Gebirge in der Sowjetunion – zurück. Der russische Dichter Pawel P. Baschow (1879–1950) schreibt und veröffentlicht sie im Jahr 1938 („Die Malachitschatulle“).

Worüber erzählt „Die steinerne Blume“?

Seine ursprüngliche Geschichte aus einem Bergbaurevier erzählt vom Waisenjungen Danilo, ein feinsinniger und naturverbundener Tagträumer. Bei Meister Prokopjitsch erlernt er das Handwerk des Steinschneiders und erweist sich als besonders kunstfertig. Dabei will Danilo vor allem die lebendige Schönheit des Malachits – ein Mineral für Schmuckstein – herausarbeiten.

Doch er ist unzufrieden mit seiner Arbeit. Katja, seine Braut, bewundert sie hingegen. Am Schlangenberg trifft Danilo auf die Bergherrin, die ihm die steinerne Blume – Idealbild jener lebendigen Schönheit – im Innern des Berges zeigt, in dem er schließlich bleibt. Auf der Suche nach ihrem Bräutigam begegnet Katja der Bergherrin und stellt sie zur Rede. Am Ende entscheidet sich Danilo für die Menschen und heiratet seine Braut (vgl. Diederichs 1995, S. 324f.).

Keine Pionierhalstücher

Das Filmskript, an dem Baschow beteiligt ist, behält im Kern die Vorlage bei, ergänzt aber die Handlung durch neue Nebenfiguren und erzählerische Details. So wird die Geschichte von einem Grubenwächter „auf staatlichem Gelände“ erzählt, den Kinder darum bitten. Der Film beginnt somit in einer ländlich-geprägten, dörflichen Szenerie in der jungen Sowjetunion.

Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit

Der neue Gulliver (UdSSR 1935): Die Zwerge werden von etwa 1.500 Puppen gespielt / Quelle: Privat


Doch anders als in Ptuschkos „Der neue Gulliver“ (UdSSR 1935) frei nach Jonathan Swift, in dem sich – ebenso in der Gegenwart – der singende und marschierende Pionier Petja (Wladimir Konstantinow, 1920–1944) im Traum „für revolutionäre Liliputaner einsetzt“ (Kuprina 2018, S. 277), so sind in „Die steinerne Blume“ weder Pionierhalstücher zu sehen noch entsprechende Lieder zu hören. Vielmehr nutzt der Film den klassischen zeitlosen Märchenerzähler inmitten seines lauschenden Kinderpublikums als Einstieg.

Zudem ist dessen Rolle ambivalent angelegt: Der steinalte Grubenwächter gibt sich anfangs kauzig und unwirsch, bisweilen grimmig-amüsant, will gar nicht erzählen, wechselt dann aber in die Rolle des weise-fabulierenden Großvaters.

Neue Nebenfiguren im Märchenfilm

Gerade der Charakterzug grimmig-amüsant findet sich dabei auch bei anderen neu hinzugenommenen Figuren. Gemeint sind der Gutsverwalter Sewerjan (Michail M. Janschin, 1902–1976) sowie das adlige Gutsbesitzerpaar (Nikolai Temjakow, Anna Petuchowa).

Sewerjan, Helfershelfer seines Herrn, treibt den fleißigen, aber altersschwachen Meister Prokopjitsch (Michail Trojanowski, 1889–1964) unbarmherzig an, eine Malachitschatulle für den reichen Gutsherrn anzufertigen. Die Geschichte wird damit um die Schilderung des sozialen Milieus, des sozialen Gefälles erweitert.

Gleichwohl wird das auch hier zuweilen mit Humor inszeniert. So als Prokopjitsch seinen Pflegesohn Danilo (Wladimir Druschnikow, 1922–1994) zum Stieglitz fangen in den Wald schickt, damit der Vogel im Bauer singt („Die Arbeit geht besser von der Hand und es ist lustiger“). Sewerjans harsche Reaktion, der Danilo schon als Kind verprügeln lässt, weil er als Hirte nicht auf die Kühe aufpasst, pendelt zwischen böse und amüsant („Pass du bloß auf, dir werd ich … du kriegst so lustige Stieglitze von mir, die … die vergisst du dein Lebtag nicht! Verstanden?“).

Dabei gilt der Stieglitz ganz nebenbei als Symbol für Ausdauer und Beharrlichkeit, eine Voraussetzung für die mühselige Steinschneiderei.

„Sozialistische Differenzierung“

Indes erscheint Sewerjan nicht nur hart, sondern als jemand, der im Kern menschlich sein kann: Als der Gutsherr die Schatulle abholen will, an der der kranke Prokopjitsch nicht weitergearbeitet und die Danilo – unwissentlich anstelle seiner – fertiggestellt hat, will Sewerjan den Alten schützen, als dieser sagt, die Schatulle wäre nicht seine Arbeit („Schweig still, hörst du Alter!“).

Der Filmwissenschaftler Peter Beicken hat dafür innerhalb einer ideologiekritischen Filmanalyse den Begriff „sozialistische Differenzierung“ geprägt. Zwar in Bezug auf einen KZ-Wächter im oscarnominierten Frank-Beyer-Film „Jakob der Lügner“ (DDR 1974), der erst ein jüdisches Opfer brutal zusammenschlägt, aber im Weggehen zwei Zigaretten für ihn absichtlich fallen lässt, „als wolle er sich […] für das angetane Unrecht entschuldigen“ (Beicken 2004, S. 116).

Doch auch der Gutsverwalter Sewerjan im zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts – in dem „Die steinerne Blume“ spielt – ist im Grunde Handlanger eines unmenschlichen Systems, der unter dem Zwang des Gehorsams steht und seine humanen Charakterzüge verkümmern lässt.

Kunst als Nachahmung der Natur

Dabei wird das Böse, wie in der Stieglitz-Episode, wiederholt ins Lächerliche, Absurde gesteigert. So wenn der beleibte Gutsherr den jungen Danilo gönnerhaft mit einem läppischen Rubel („Kauf dir was Schönes dafür!“) für die kostbare Malachitschatulle entlohnt, die ihm selbst – aufgrund einer Wette mit einem Marquis in Paris – eine halbe Million einbringt.

Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit

Die steinerne Blume (UdSSR 1946): Danilos (Wladimir Druschnikow) Schale soll einer Blüte gleichen / © Icestorm


Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit

Die steinerne Blume (UdSSR 1946): Danilo (Wladimir Druschnikow) mit der Schale für die Gutsherrin / © Icestorm


Dennoch: Das überspannende, tieferliegende Thema in „Die steinerne Blume“ ist nicht die Ungerechtigkeit, die von den Mächtigen ausgeht; es sind auch nicht die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich. Vielmehr geht es um die Frage, ob die täuschend ähnliche Nachahmung der Natur das Ziel der Kunst, hier: des Malachitschnitzens, ist oder nicht.

In Meister Danilo, dem Steinschneider, und seinem Kampf mit sich und der Welt, wird versucht, diese Frage zu spiegeln. Er soll für die Gutsherrin eine Schale machen, die „genau wie ein Kelch aus Blumen aussehen [müsste]“. Es ist Katja (Jekaterina Derewschtschikowa, 1926–2006), Danilos Braut, die ihm eine Blüte zeigt – ähnlich einer Glockenblume, Symbol von Zusammengehörigkeit und Einigkeit –, die ihn für die Schale inspiriert.

„Und die lebendige Schönheit, wo ist die?“

Doch obgleich er all sein Können investiert und bewundert wird, ist er mit seinem Werk unzufrieden („Und die lebendige Schönheit, wo ist die?“). Er strebt nach künstlerischer Vollkommenheit, die Danilo mit der Natur gleichsetzt, und die er im unterirdischen Reich der Herrin des Kupferbergs (Tamara Makarowa, 1907–1997) und ihrer nur einmal im Jahr blühenden, steinernen Blume zu finden glaubt.

Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit

Die steinerne Blume (UdSSR): Die Herrin (Tamara Makarowa) im national-fantastischen Kostüm / © Icestorm


Die Antwort auf die Frage, ob das Ziel der Kunst deren Nachbildung sein solle, bleibt am Ende allerdings unbeantwortet. Vielmehr rückt der Märchenfilm die zwischenmenschlichen Folgen der Suche in den Mittelpunkt, wenn Danilo sich von der Gemeinschaft abwendet, im Kupferberg zwar das „Geheimnis lebendiger Schönheit“ entdeckt, aber betrübt sein Leben unter Tage fristet. Denn: Glücklich wird nur derjenige, der mit der Kunst, die er schafft, seinem Volk dient, so die unterschwellige Botschaft.

Katja, die moderne Frau

Nebstdem stellt Katja, wie bereits in der Vorlage, einen positiven weiblichen Kontrast zu Danilo dar. Gegen Kritik (Prokopjitsch: „Ist doch nichts für Mädchen, die Malachitarbeit. So was hat’s mein Lebtag nicht gegeben“) erlernt sie das ‚männliche’ Handwerk des Steinschneidens – und stellt es in den Dienst der Gemeinschaft, wenn sie selbst gefertigte Gürtelschnallen auf dem Markt verkauft.

Sie repräsentiert damit zugleich die neue gesellschaftspolitische, aber vor allem moderne, emanzipatorische Rolle, die der Frau seit den 1920er-Jahren in der Sowjetunion zugedacht ist.

Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit

Neues Moskau (1937): Das Gemälde stammt vom Maler Juri I. Pimenow / Quelle: Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau


Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit

Cover-Girl und -Boy: Makarowa und Druschnikow schaffen es 1946 auf den Titel der österreichischen „Mein Film. Illustrierte Film- und Kinorundschau“ (Nr. 36 und 47) / Quelle: Privat


Dabei gibt sie ihre ‚Weiblichkeit’ nicht etwa auf, wie einige damalige Propaganda-Plakate zeigen, auf denen „muskulöse Arbeiterinnen mit harten Gesichtern und schwach ausgeprägten weiblichen Attributen“ (Neutatz 2013, S. 178f.) zu sehen sind. Katja wirkt hingegen eher wie eine märchenhafte Entsprechung zur jungen, Auto fahrenden, aber ungemein elegant wirkenden Frau in Juri I. Pimenows (1903–1977) Gemälde „Neues Moskau. 1937“, das damals zeitgleich entsteht.

Da verwundert es kaum, wenn der treue Danilo die Heiratsavancen der Herrin des Kupferbergs – die ihm als Prüfungen auferlegt werden – nicht erwidert und für seine Liebe zu Katja kämpft. Trotz nationalem Pathos und folkloristischer Komponente, die „Die steinerne Blume“ erzählerisch wie bildlich durchziehen, erhält der Märchenfilm gute Kritiken (vgl. Lennig, Melis beide 1947, S. 3; auch Mein Film 1946, S. 4).

Das Bild des Sowjetmenschen

Die breit ausgespielten Gesangs- und Tanzeinlagen, flankiert von traditionellen russischen Riten und Bräuchen, mögen bei den Uraufführungen in Deutschland, aber auch anderen Staaten zudem das Bild des Sowjetmenschen in ein günstiges Licht rücken.

Denn sein Image, und das des Landes aus dem er stammt, ist einerseits geprägt vom besiegten Hitlerfaschismus („zivilisationsfeindliche Untermenschen“), andererseits von Erfahrungen der deutschen Bevölkerung beim Einmarsch der Roten Armee (Plünderungen, Vergewaltigungen etc. vgl. Naimark 1995, S. 293ff.; Klier 1996).

Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit

Die steinerne Blume (UdSSR 1946): Danilo (W. Druschnikow) mit Katja (J. Derewschtschikowa) / © Icestorm


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Doch entgegen des Erfolgs, den der Märchenfilm beim Publikum in Ost und West feiert, bringt er – wenig überraschend – keine Wende in der politisch verfahrenen Situation, in der sich das geteilte Land befindet. Gleichwohl wird die „organisatorische Neuerung“, wie „Der Spiegel“ über die sektorenübergreifende Uraufführung schreibt, „viel besprochen und allgemein begrüßt“.

Und: Es bleibt bei der Ausnahme. Denn ein anderer Märchenfilm, der damals für Furore sorgt und auch im April 1947 in die Berliner Kinos kommt, startet nicht sektorenübergreifend. Er heißt: „Es war einmal“ (F 1946), besser bekannt als „La Belle et la Bête“ von Jean Cocteau.

Film: „Die steinerne Blume“ (UdSSR, 1946, R: Alexander L. Ptuschko). Ist auf DVD erschienen.

Video: Hier klicken und „Die steinerne Blume“ auf Veoh anschauen. (zuletzt aufgerufen: 28.3.2024)

Verwendete Quellen:

  • Beicken, Peter: Wie interpretiert man einen Film? Stuttgart: Reclam Verlag, 2004
  • Diederichs, Ulf: Die steinerne Blume. In: Who’s who im Märchen. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1995, S. 324f.
  • Klier, Freya: Verschleppt ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Internierungslagern. Berlin: Ullstein-Verlag, 1996
  • Kuprina, Olena: Terra Incognita. Sowjetischer Märchenfilm (1917–1990). In: Dettmar, Ute u. a. (Hrsg.): Märchen im Medienwechsel. Zur Geschichte und Gegenwart des Märchenfilms. Stuttgart: Metzler Verlag, S. 267–292.
  • Lennig, Walter: „Die steinerne Blume“. Ein sowjetischer Märchen-Farbfilm. In: Berliner Zeitung 3 (1947), Nr. 82, 10.4.1947, S. 3.
  • Melis: Märchenwelt und Wirklichkeit. Russischer Farbfilm „Die steinerne Blume“. In: Neues Deutschland 2 (1947), Nr. 83, 10.4.1947, S. 3.
  • Naimark, Norman M.: Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland und die Frage des Stalinismus. Veränderte Sichtweisen auf der Grundlage neuer Quellen aus russischen Archiven. In: Zeitschrift für Geschichte, Heft 4/1995, S. 293ff.
  • Neutatz, Dietmar: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München: Verlag Ch. Beck, 2013
  • Simons, Rotraudt: Die steinerne Blume/Каменный цветок. In: Berger, Eberhard/Giera, Joachim (Hrsg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin: Henschel Verlag, S. 148–152.
  • -ert: Ein russischer Farbfilm. „Die steinerne Blume“. In: Neue Zeit 3 (1947), Nr. 83, 11.4.1947, S. 2.
  • [o. A.]: Kulturnotizen. In: Neues Deutschland 2 (1947), Nr. 78, 2.4.1947, S. 3.
  • [o. A.]: Aus der Truhe von Malachit. Ural-Märchen in Farben. In: Der Spiegel 1 (1947), Nr. 16, 19.4.1947, S. 19f.
  • [o. A.]: Festwoche des sowjetischen Films in Österreich: Wladimir Drushnikow. In: Mein Film. Illustrierte Film- und Kinorundschau 16 (1946), Nr. 44, 1.11.1946, S. 4.


Headerfoto: Danilo (Wladimir Druschnikow) arbeitet im Reich der Herrin des Kupferbergs (Tamara Makarowa) / Foto: Icestorm