Die Geschichte ist ein Loblied auf die Geschwisterliebe. Zudem rührend und äußerst dramatisch von den Grimms erzählt. Da verwundert es kaum, dass das Märchen schon früh und bis heute verfilmt wird.
Das Schicksal der Geschwister findet sich seit der Erstausgabe in den „Kinder- und Hausmärchen“ (1812) der Brüder Grimm: Brüderchen und Schwesterchen fliehen vor ihrer hexenhaften Stiefmutter in den Wald, wo sie den Jungen in ein Reh verwandelt. In einem kleinen Haus finden die Kinder Unterschlupf. Ein König, der auf der Jagd ist, verliebt sich in Schwesterchen, nimmt es mitsamt Reh auf sein Schloss und heiratet das Mädchen.
Doch die Stiefmutter und ihre Tochter erfahren von beider Glück. Gerade nachdem sie ein Kind bekommen hat, töten beide die junge Königin. Dann nimmt die Stieftochter deren Gestalt an. Vorerst merkt der König den Betrug nicht. Doch jedes Mal um Mitternacht erscheint die rechte Königin, stillt ihr Kind und streichelt das Reh. Am Ende erlöst der König seine Frau und Brüderchen erhält seine menschliche Gestalt, gerade als Hexe und Tochter ihr Leben lassen müssen.
Drakonische Strafen, klassische Handlungsorte
Wenngleich der Tod von Schwesterchen, das in der Badstube als „schöne junge Königin […] ersticken mußte“ (Grimm 1980, S. 84), und das Ende von Stiefmutter und Stieftochter (die eine „mußte jammervoll verbrennen“, die andere „ward in [den] Wald geführt, wo sie die wilden Tiere zerrissen“, ebd. S. 86) gegen eine Verfilmung für Kinder sprechen, so bedient die Geschichte mit ihren Handlungsorten klassische Erwartungen an das Märchenfilm-Genre.
Da ist zum einen der romantische, vermeintlich Schutz bietende Wald, in dem Brünnlein fließen, wenngleich verzauberte, die dem Brüderchen zum Verhängnis werden. Zum anderen das Königsschloss nebst Garten, in dem das Reh herum springt. Außerdem ist dessen vorherige Verwandlung filmisch schon früh mit Trickverfahren, wie Überblendung oder Stopptrick, machbar (vgl. Wulff, Bender/Kempken).
Und doch gehört „Brüderchen und Schwesterchen“ zu den Märchen, die verhältnismäßig selten als Schauspielfilm adaptiert werden.
„Wie Brüderchen und Schwesterchen das Christkind besuchen“ (D 1912)
Eine erste Verfilmung, in dem das Geschwisterpaar im Titel genannt ist, datiert aus dem Kaiserreich. Das Drehbuch verfasst die Berliner Dramaturgin Luise Heilborn-Körbitz (1874–1961), eine der produktivsten Autorinnen der 1910er- und 1920er-Jahre. So schreibt sie zum Beispiel am Filmskript für die Thomas-Mann-Adaption „Buddenbrooks“ (1923, R: Gerhard Lamprecht) mit.
Exakt 100 Jahre später gehört sie zu den Filmfrauen, die in der 2023er-Ausstellung „WEIMAR WEIBLICH. Frauen und Geschlechtervielfalt im Kino der Moderne (1918–1933)“ im Deutschen Institut und Filmmuseum (DFF) in Frankfurt/Main vorgestellt werden. Hier mehr erfahren.
Über ihren siebenminütigen Stummfilm „Wie Brüderchen und Schwesterchen das Christkind besuchen“ in der Regie von Emil Albes (1861–1923) ist aber bislang wenig bekannt. Die Vermutung liegt nahe, dass der Kinostreifen in Anlehnung an sogenannte „Weihnachtsmärchen“ konzipiert ist. Das sind ursprünglich Bühnenstücke fürs Theater, die im Advent aufgeführt werden (vgl. Uther 2014, Sp. 562–565).
Denkbar wäre, dass das vor der Stiefmutter flüchtende Geschwisterpaar am Weihnachtsabend auf das Christkind trifft, das den beiden Wünsche erfüllt. Offen bleibt, ob diese Szenen dann im Studio oder an Außenschauplätzen gedreht sind.
Drehort: unbekannt
Film: „Wie Brüderchen und Schwesterchen das Christkind besuchen“ (D, 1912, R: Emil Albes)
„Brüderchen und Schwesterchen“ (D 1929)
Ende der 1920er-Jahre startet der Regisseur Alf Zengerling (1884–1961) eine Märchenfilm-Offensive. Seine Stummfilme meist nach Grimmvorlagen, mit wenig Geld, aber viel Herzblut produziert, sind fürs Kinderpublikum gedacht. An Weihnachten 1928 laufen „Rotkäppchen“, „Schneewittchen“ und „Hans im Glück“ in den Kinos an. „Brüderchen und Schwesterchen“ folgt im Sommer 1930.
Zwar hat sich der einstündige Märchenfilm – so der jetzige Stand – nicht erhalten, doch die Zulassungskarte der Film-Prüfstelle, die „Brüderchen und Schwesterchen“ am 11. Dezember 1929 freigibt, und ein Standfoto haben die Zeiten überdauert. Letzteres zeigt ein mittelalterlich anmutendes, aber wohl im Historismus (etwa 1850–1914) entstandenes Torhaus-Ensemble, das den Weg zu einer Baumallee begrenzt. Es könnte eine Schlossansicht darstellen.
Davor stehen ein uniformierter Wachsoldat sowie ein historisch gekleideter Mann (Karl Pflüger) und ein Mädchen (Eva Beer). Ob es sich um König und Schwesterchen handelt, ist nicht auszumachen. Dafür spricht aber, dass laut Zulassungskarte der junge Herrscher das Mädchen mit auf sein Schloss nimmt (3. Akt) und erst später („eines Tages“) heiratet (4. Akt). Denn: „Schwesterchen nahm an Alter und Schönheit zu …“.
Sonst hält sich der Märchenfilm, so die fünfseitige Inhaltsangabe, an die Grimm’sche Fassung. Bei den Dreharbeiten stehen der Däne Marius Holdt (1877–1974) und Rolf von Bodescu hinter der Kamera. Zudem wird die jüdische Sängerin und Schauspielerin Maria Forescu (geb. Maria Füllenbaum, 1875–1947) als eine der Darstellerinnen genannt. Forescu, die dem Holocaust nur knapp entgeht, könnte die Rolle der Stiefmutter übernommen haben.
Drehort: unbekannt
Film: „Brüderchen und Schwesterchen“ (D, 1929, R: Alf Zengerling)
Hohenschwangau/Bayern: „Brüderchen und Schwesterchen“ (BRD 1953)
Obgleich 1953 ein zeitgenössisches Filmplakat den westdeutschen „Märchenspielfilm getreu nach Gebrüder Grimm“ bewirbt, wird die Geschichte anders erzählt. Die Stiefmutter entfällt. Brüderchen (Götz Wolf) und Schwesterchen (Maria Kottmeier) sind zwei glückliche Königskinder, deren Mutter (Bettina Falckenberg, 1926–2020) aber krank ist.
Ihr Mann, der König (Arnold Marquis, 1921–1990), macht sich große Sorgen. Die Schwarze Usa (Martina Eginhart), eine böse Zauberin, und ihre Tochter Sule (Annemarie Wernicke) sind jetzt die neuen Gegenspielerinnen.
Abseits dieser dem Zeitgeist geschuldeten Verbesserungen, die das Bild der intakten Familie im Nachkriegsdeutschland bedienen, ist der schwarz-weiße Märchenfilm hübsch fotografiert. Einer der Drehorte ist das bayerische Schloss Hohenschwangau mit seinem zwischen 1833 und 1837 entstandenen Schlossgarten. So sind am Anfang der Gänsemännchen- und der Löwenbrunnen zu sehen. Später filmt Kameramann Wolfgang Schwan noch den Schwanenbrunnen.
Das Äußere der Lehmhütte, in der Schwesterchen und das Reh unterkommen, entsteht dagegen neu in einem Waldstück. Die Innenaufnahmen dreht Regisseur Walter Oehmichen (1901–1977) wiederum im Atelier der Schongerfilm in Inning am Ammersee. Am ersten Weihnachtstag 1953 feiert der Märchenfilm seine Premiere in mehreren westdeutschen Städten.
Drehorte: u. a.
- Schloss Hohenschwangau, Alpseestraße 30, 87645 Schwangau
- Schongerfilm, Filmstraße 2, 82266 Inning am Ammersee
Film: „Brüderchen und Schwesterchen“ (BRD, 1953, R: Walter Oehmichen, Hubert Schonger). Ist auf DVD erschienen.
Berlin: „Brüderchen und Schwesterchen“ (D 1992)
Anfang der 1990er-Jahre ist die Situation für den deutschen Märchenfilm alles andere als märchenhaft. Die Deutsche Film-AG, kurz: DEFA, wird abgewickelt und 1992 von der Treuhandanstalt an einen französischen Mischkonzern verkauft. Dabei blickt das staatliche Filmstudio der DDR in seiner über 45-jährigen Geschichte auf etwa 40 klassische Schauspiel-Märchenkinofilme zurück. Doch das geht im Nachwende-Trubel völlig unter.
Dazu passt, dass 1992 ein Film entsteht, der zwar von ehemaligen DEFA-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern erzählt ist und den Titel „Brüderchen und Schwesterchen“ trägt, das Märchen aber in die Nachwende-Gegenwart beamt. Kein Geringerer als Rainer Simon (*1941), bekannt durch die Verfilmungen „Wie heiratet man einen König“ (1969) und „Sechse kommen durch die Welt“ (1972), führt Regie.
Hörspielautorin und Dramaturgin Katrin Lange (*1942), die – wie es der Zufall will – ein paar Jahre zuvor eine Schallplattenbearbeitung des Märchens verfasst („Brüderchen und Schwesterchen“, 1987, LITERA), schreibt das Filmdrehbuch. Darin läuft Stefanie (Melanie Nanke) von zu Hause weg, vor allem vor ihrer Stiefmutter (Carina Wiese) und dem nervigen kleinen Bruder Stefan (Florian Huth). Das Mädchen macht sich auf die Suche nach seinem im Westen verschollenen Vater. Doch der Bruder hängt sich an seine Schwester.
Wo die Dreharbeiten stattfinden, lässt sich bislang noch nicht rekonstruieren. Doch da das Geschwisterpaar laut einer Inhaltsangabe „unheimliche Abenteuer“ in einem U-Bahn-Tunnel erlebt, ist es möglich, dass einige Szenen in Berlin entstehen.
Drehort: u. a. Berlin
Film: „Brüderchen und Schwesterchen“ (BRD, 1992, R: Rainer Simon), aus 5-teiligem Episoden-Fernsehfilm „Hier und Jetzt“ im Auftrag des ZDF. Erstsendung: 22.11.1992, 13.55 Uhr, ZDF.
Schloss Kühndorf/Thüringen: „Brüderchen und Schwesterchen“ (D 2008)
Gut 16 Jahre nach dem Gegenwartsmärchen wird die Geschichte wieder klassisch verfilmt. Die ARD, die 2008 ihre Reihe „Sechs auf einen Streich“ beginnt, in der sie bekannte Märchen adaptiert, wählt zum Start „Brüderchen und Schwesterchen“ aus. Weil der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) den Film produziert, zieht die Crew um Regisseur Wolfgang Eißler nach Thüringen.
Einer der Drehorte ist das Hennebergische Museum Kloster Veßra im Landkreis Hildburghausen/Südthüringen. Im pittoresken Fachwerkensemble müssen Brüderchen (Hans-Laurin Beyerling) und Schwesterchen (Odine Johne) erkennen, dass ihre neue Stiefmutter (Andrea Sawatzki) keinesfalls so bescheiden und liebevoll ist, wie sie sich zunächst gibt.
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Nachdem sie dem Vater (Christoph M. Ohrt) den Kopf verdreht hat, zeigt sie ihr wahres Gesicht. Sie vergiftet ihren Mann und sperrt die Geschwister ein. Zwar gelingt beiden die Flucht, aber unweit des Dolmar (ein Ausflugs- und Aussichtsberg im Südthüringer Raum) verwandelt die Stiefmutter den Jungen in ein Reh. Als der junge König (Jonas Jägermeyr) das Mädchen auf sein Schloss mitnimmt – es ist die Johanniterburg in Kühndorf –, holen die Stiefmutter und ihre Tochter (Lisa Altenpohl) zum letzten Schlag aus.
Drehorte: u. a.
- Hennebergisches Museum Kloster Veßra, Anger 35, 98660 Kloster Veßra
- Johanniterburg Kühndorf (auch: Schloss Kühndorf), Schlossstraße 17, 98547 Kühndorf
- Waldgebiet um den Berg Dolmar, 98547 Kühndorf
Film: „Brüderchen und Schwesterchen“ (BRD, 2008, R: Wolfgang Eißler). Ist auf DVD erschienen.
Verwendete Quellen:
- ARD „Das Erste“: Märchenhaft! Andrea Sawatzki spielt böse Stiefmutter. MDR verfilmt „Brüderchen und Schwesterchen“ für ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“. In: Presseportal (vom: 7.7.2008, abgerufen: 28.5.2024)
- Bender, Theo/Kempken, Markus: Stopp-Trick. In: Lexikon der Filmbegriffe (abgerufen: 22.5.2024)
- Brüder Grimm: Brüderchen und Schwesterchen. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam, 1980, Bd. 1, S. 79–86.
- Gandert, Gero (Hrsg.): Der Film der Weimarer Republik 1929. Ein Handbuch der zeitgenössischen Kritik. Berlin/New York: De Gruyter, 1993, S. 757.
- Grimm-Bilder Wiki: Brüderchen und Schwesterchen (abgerufen: 28.5.2024)
- Hier und Jetzt (BRD 1992). In: Filmportal (abgerufen: 22.5.2024)
- Jaspers, Christina: Podcast // WEIMAR WEIBLICH #9: Luise Heilborn-Körbitz. In: DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum e.V. (abgerufen: 22.5.2024)
- Osborn, Max: Der Märchenbrunnen am Friedrichshain zu Berlin. In: Architekturmuseum TU Berlin (abgerufen: 29.5.2024)
- Uther, Hans-Jörg: Weihnachtsmärchen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich u. a. Berlin/New York: de Gruyter, 2014, Bd. 14, Sp. 562–565.
- Wie Brüderchen und Schwesterchen das Christkind besuchen (D 1912). In: Filmportal (abgerufen: 22.5.2024)
- Wulff, Hans Jürgen: Blende II: Ab-, Auf- und Überblendung. In: Lexikon der Filmbegriffe (abgerufen: 22.5.2024)
- Zulassungskarte: Brüderchen und Schwesterchen (1929), Prüf-Nr. 24478, vom 11.12.1929, ausgefertigt am 22.5.1930. In: BArch R 9346-I/16716.
- [o. A.]: Märchenfilme. In: Modenschau. Illustrierte Monats-Zeitschrift für Heim und Gesellschaft 17 (1930), Nr. 211, Juli 1930, S. 3.
Brüderchen und Schwesterchen (2008): Der Junge (Hans-Laurin Beyerling) ist in ein Reh verwandelt; das Mädchen (Odine Johne) tröstet es / Foto: MDR/Antje Dittmann