Vor genau 60 Jahren wird der DEFA-Märchenfilm „Schneewittchen“ uraufgeführt. Obwohl recht konventionell inszeniert, ist die DDR-Adaption bis heute überaus beliebt. Mehr noch: Der Märchenfilm gilt beim Publikum – neben Disneys Zeichentrickvariante von 1937 – als die gültige Verfilmung des „Schneewittchen“-Märchens.
Als der DEFA-Märchenfilm „Schneewittchen“ am 8. Oktober 1961 im Berliner Kino „Babylon“ als Premiere gezeigt wird, gibt es am Schluss der Vorführung langanhaltenden Beifall von den Zuschauern in den Rängen. Offenbar hat die Adaption genau die Erwartungen erfüllt, die an einen Märchenfilm gestellt werden: erzählerische Nähe zur Vorlage, klassische Inszenierung, traditionelle Filmmusik. Dass das Premierenpublikum mit seinem Urteil damals überraschend treffsicher ist, zeigt ein Blick in die Statistik: „Schneewittchen“ zählt mit ca. 7,6 Millionen Kinozuschauern (1961–1990, Quelle: InsideKino.com) zu den drei erfolgreichsten DDR-Märchenfilmen.
Und das obwohl die Adaption des Märchens von der Königstochter, die „so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz“ (Grimm) ist und von der bösen Stiefmutter wegen ihrer Schönheit mit einem vergifteten Apfel getötet wird, von der DDR-Kritik mehr Ablehnung als Zustimmung erfährt. So urteilt die „Berliner Zeitung“:
„Es ist alles ein bißchen karg und phantasielos gemacht, gar nicht so fröhlich-freundlich und geheimnisvoll, wie es in einem guten Märchen doch zugehen müsste. Ein konventioneller Märchenfilmstil wurde gepflegt, wie er auch schon vor 25 Jahren gang und gäbe war.“ (12.10.1961)
Und die „Junge Welt“ fragt:
„Kann man nicht verlangen, daß ein bei uns hergestellter Märchenfilm den Kindern einen tieferen Eindruck hinterläßt als eine Märchenbuch-Illustration? […] Die Märchenfiguren sind nicht viel mehr als bewegte, von Menschen dargestellte Puppen. […] Auch sonst gelang es der Regie nicht, die Plattheit der Vorlage zu mildern.“ (28.10.1961)
Disneys „Snow White and the Seven Dwarfs“ beeinflusst DDR-Verfilmung
Gewiss, die Verfilmung ist wenig experimentell und greift auf bewährte dramaturgische Konzepte zurück. Das zeigt sich bereits am Beginn: Ein altes Buch mit antikem Ledereinband und vergoldeten Metallecken wird aufgeschlagen, in dem auf der ersten Seite der Titel des Märchenfilms zu sehen ist. Diese Einleitungstechnik, die das klassische Märchenbuch als Einstieg in die Geschichte nutzt, verwendet schon Walt Disney in seinem 1937 entstandenen stilbildenden Zeichentrickfilm „Snow White and the Seven Dwarfs“. Hier wird – wie auch im DDR-Film – erst der gedruckte Märchentext gezeigt, um später in die Handlung zu blenden.
Zudem beginnt in der DEFA-Verfilmung eine männliche Off-Stimme mit den Worten „Es war einmal mitten im Winter …“ und zitiert wortgetreu den Beginn der Märchenvorlage von den Brüdern Grimm. Somit verweist Drehbuchschreiber Günther Kaltofen – von 1961 bis 1977 wird er zehn Szenarien für DDR-Märchenfilme verfassen – bereits in den ersten Filmminuten auf seine nur behutsame Bearbeitung des bekannten Stoffes. Das Hauptthema des Schneewittchen-Märchens, „das der bewegenden Schönheit, die bei Frauen Hass, bei Männern Liebe auslöst“ (Kawan 2007, Sp. 129), fabuliert er trotzdem geschickt weiter aus.
Schneewittchen und das trotzige Haare-nach-hinten-Werfen
So ist die böse Stiefmutter (Marianne Christina Schilling) auf Schneewittchen (Doris Weikow) nicht nur wegen seiner Schönheit eifersüchtig, sondern vor allem auch, weil die jüngere Königstochter ihr – der älteren Königin – den Freier streitig macht: Ein junger König aus dem Nachbarreich (Wolf-Dieter Panse), der den Hof der Stiefmutter besucht, möchte nicht sie, sondern Schneewittchen heiraten. Erst nach dieser psychischen Demütigung befiehlt die Königin den Tod ihrer Stieftochter. Die Adaption erweitert damit die Gründe für den Hass der Stiefmutter und versucht, die Literaturvorlage psychologisch zu deuten und zu ergänzen.
Auch Schneewittchen, das bei den Grimms eher passiv beschrieben wird, ist in der Verfilmung eigensinnig, wenngleich eher subtil als direkt. So verrät seine Körpersprache den Widerstand gegen die Königin: Das trotzige Haare-nach-hinten-Werfen als Reaktion auf ein Verbot ihrer Stiefmutter, nicht am Fest für den jungen König teilzunehmen, lässt erahnen, was in der Königstochter vorgeht. Schneewittchen ist zudem häuslich, bodenständig und hält sich unstandesgemäß gern in der Schlossküche bei der Dienerschaft auf. Die offene Frage in der Grimmschen Vorlage – wo lernt Schneewittchen als Königstochter Hausarbeiten, wie Kochen und Waschen, die es doch bei den sieben Zwergen verrichtet – wird hier im Vorfeld beantwortet.
Nach „Liliputanern“ und Kindern spielen erwachsene Männer die Zwerge
Das hat aber den Nachteil, dass die Protagonistin allzu fleißig und arbeitsam dargestellt und als positive Identifikationsfigur überzeichnet wird – was zum Teil auch für die sieben Zwerge gilt, bei denen die Königstochter Obdach findet: Nachdem in deutschen „Schneewittchen“-Adaptionen von 1928 und 1939 die Fabelwesen von kleinwüchsigen Männern („Liliputanern“, wie die damalige Presse schreibt) dargestellt werden und sich in der BRD-Verfilmung von 1955 eine Kindertanzgruppe als sieben Zwerge verkleiden, entscheidet sich Regisseur Gottfried Kolditz für sieben kleine Schauspieler unterschiedlichen Alters, darunter der nur 1,60 Meter große Fred Delmare als neugieriger Zwerg Naseweis.
Kolditz hält sich an das im Volksglauben verankerte Bild von Zwergen als kleine, alte und bärtige menschenähnliche Erdgeister, die Schätze bewachen und handwerklich geschickt sind. Um dem Anspruch eines Kinderfilms gerecht zu genügen, werden die Zwerge zudem als „infantilisiert[e], ordnungsliebend[e] Herren“ (Liptay 2004, S. 76) eingeführt. Löblich ist da schon eher, dass die kleinen Männer auch als individuelle Wesen agieren dürfen: Puck (Heinz Scholz) wäscht sich nicht gern oder Purzelbaum (Jochen Kloeppel) möchte zeigen, dass er alleine Purzelbaum schlagen kann, wird aber vom Ältesten Rumpelbold (Arthur Reppert) stets mit dem Ruf „Ordnung!“ daran gehindert.
Zwischen sozialistischer Erziehung und künstlerischem Anspruch
Doch was hier auf den ersten Blick als humorvoller Einschub zum Schmunzeln animiert, kann auf einer zweiten Ebene durchaus als Teil einer kollektiven Formung im „sozialistische[n] Erziehungsplan“ interpretiert werden, der nach dem Politikwissenschaftler Klaus Schroeder die Kindheit in der DDR durchziehe (vgl. Schroeder 1998, S. 556). Die Unterdrückung von Freiheit und Individualität, hier: das übermütige Vor-sich-hin-Purzeln des Zwergs, ist vor diesem Hintergrund zudem als eine „Kollektiverziehung“ (ebd. S 563) deutbar, die von autoritären Formen der Unterweisung und Belehrung („Ordnung!“) flankiert wird. Ein Beispiel, dass auch der DDR-Märchenfilm zwischen pädagogischem Auftrag und künstlerischem Anspruch pendelte und Regisseuren und Autoren oftmals einen Spagat abverlangte.
Dass der Märchenfilm als Vehikel für eine sozialistische Erziehung dient, stellt auch die damalige DDR-Filmkritik heraus. So schreibt die Tageszeitung „Brandenburgische Neueste Nachrichten“:
„Ohne den Charakter des Märchens gewaltsam zu verändern, wurde die Auseinandersetzung zwischen den Fleißigen und den parasitär Böswilligen, zwischen den Hilfsbereiten und den Schädlingen in den Vordergrund gerückt. Erfaßbar wurde die Sehnsucht unserer Vorfahren nach einem Reich der Gerechtigkeit, wie zugleich die »gute, alte Zeit« [H. i. O.] desillusioniert wurde. Ein Märchenfilm entstand, der in den Kindern den Wunsch nach eigenen guten Taten weckt.“ (4.1.1962)
„Nichts als Schlemmerei alle Tage!“
Das ist ganz im Sinne der DDR-Filmfunktionäre, die dafür plädieren, dass die vorhandenen Tendenzen der Märchenvorlagen ausfabuliert werden: So repräsentieren die Fleißigen und Hilfsbereiten immer das ethisch Gute. Das gilt gerade für Schneewittchen: Es hilft dem Koch und den Mägden in der Küche, unterstützt die Diener beim Servieren der Speisen in den Festsaal und managt den Haushalt der sieben Zwerge. Im Gegenssatz zu ihm wird die Königin als Inbegriff des Böswilligen und Schädlichen positioniert. Sie verbietet ihrer Stieftochter an einem Fest teilzunehmen (am Geburtstag von Schneewittchen) und feiert gern mit Gästen aus den Nachbarreichen. Eine Küchenmagd meint dazu: „Nichts als Schlemmerei alle Tage!“
Obwohl die Verfilmung komplett im Studio gedreht wird und in der Grimmschen Vorlage keine direkte geografische Konkretisierung des Märchens enthalten ist, verweist Filmarchitekt Hans Poppe mit einem Augenzwinkern auf das Land Sachsen (das es allerdings seit 1952 mit der Abschaffung der Länder in der DDR offiziell nicht mehr gibt): In einer kurzen Einstellung – die den jungen König und den Jäger (Harry Hindemith) zeigt, die beschließen, zusammen Schneewittchen zu suchen – ist im Hintergrund das sächsische Wappen mit Balkenschild und Rautenband als Sandstein-Relief zu sehen: hinter den sieben sächsischen Bergen bei den sieben Zwergen.
Behutsame Anpassung und klassische Inszenierung bringen den Erfolg
Dort findet die Königin dann auch Schneewittchen und versucht dreimal, es zu töten. Der vergiftete Apfel verfehlt am Ende seine Wirkung nicht. Doch auch König und Jäger gelangen in das Land der sieben Zwerge und entdecken den Glassarg, in dem die Königstochter liegt. Als einer der Zwerge beim Versuch stolpert, den Sarg auf das Schloss des Königs zu tragen, zerbricht dieser und Schneewittchen schlägt wieder seine Augen auf. Da sich beide bereits in der Exposition kennen gelernt haben, ist die Schnell-Hochzeit „in acht Tagen“ (O-Ton) zwischen den beiden durchaus nachvollziehbar. Zu dieser wird auch die böse Königin eingeladen.
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Zwei ungleiche Frauen: Schneewittchen (DDR 1961)
DDR reloaded: Der identitätsstiftende DEFA-Märchenfilm
Drehbuchschreiber Günther Kaltofen entscheidet sich gegen ein grausames Ende im Film – bei den Grimms muss die Stiefmutter zur Strafe „eiserne Pantoffeln“ tragen, die über „Kohlenfeuer gestellt“ werden, und darin „so lange tanzen, bis sie tot zur Erde“ fällt. Als ihr im Film das verheiratete Königspaar einen wunderschönen rotbäckigen Apfel anbietet – von dem sie denkt, er wäre vergiftet –, nimmt die Königin von selbst Reißaus: „Ihre Flucht verführt zum Lachen und verstärkt die befreiende Wirkung des glücklichen Ausgangs.“ (König/Wiedemann/Wolf)
Ein weiteres Beispiel dafür, dass der DEFA-Film „Schneewittchen“ das Grimmsche Märchen behutsam anpasst, gleichzeitig einem klassischen Inszenierungsstil treu bleibt und damit zu Recht einer der künstlerisch solidesten DDR-Märchenfilme ist.
Film: „Schneewittchen“ (1961, R: Gottfried Kolditz, DDR). Ist auf DVD erschienen.
Literatur:
- Brüder Grimm: S[ch]neewittchen. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 1, S. 269–278.
- Kawan, Christine Shojaei: Schneewittchen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 12, Berlin/New York, 2007, Sp. 129–140.
- König, Ingelore/Wiedemann, Dieter/Wolf, Lothar (Hrsg.): Zwischen Marx und Muck. DEFA-Filme für Kinder. Berlin, 1996, S. 125–127.
- Liptay, Fabienne: WunderWelten. Märchen im Film. Remscheid, 2004, S. 76.
- Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR. München, 1998, S. 556–565.
Headerfoto: Die böse Königin (Marianne Christina Schilling) hat sich als Marktweib verkleidet und will Schneewittchen (Doris Weikow) einen vergifteten Apfel verkaufen / Foto: Progress/Karin Blasig
Dieser Beitrag wurde am 25. Juli 2021 aktualisiert.