Hervorgehobener Beitrag
Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Was ist heute vom DEFA-Märchenfilm der untergegangenen DDR übrig geblieben?

Als der Historiker llko-Sascha Kowalczuk mit „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ (2019) ostdeutsche Befindlichkeiten unter die Lupe nahm, provozierte er – dreißig Jahre nach dem Mauerfall – eine kontroverse Debatte. Lobte der 1976 von der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann in der „Berliner Morgenpost“ Kowalczuks Essay als „glänzendes Buch“ und „wahrhaftige Analyse“, so urteilte im „Deutschlandfunk Kultur“ die DDR-Ex-Leistungssportlerin Ines Geipel deutlich kritischer.

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de


Kowalczuk bediene mit seiner „Strategie des halben Blicks“ nur den „aktuellen Hype: da der Schuld-Westen, dort der Opfer-Osten“, so Geipel, die auch Mitbegründerin des „Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR“ ist. Gleichwohl hält die Zeit des Bilanzziehens unvermindert an. Sie mündet dabei vor allem in einer Frage: Wie wirkt sich eine sogenannte „Übernahme“, oder anders gesagt: der Beitritt der DDR (nach Artikel 23 des alten Grundgesetzes), auf das heutige Deutschland aus?

„Kulturelle Hegemonie“ und fehlende „Ost-Eliten“

Dabei rückte Kowalczuk den Blick auch auf eine westdeutsche ‚Vorherrschaft’ im Kulturbetrieb des seit 30 Jahren vereinten Deutschlands. Diese Erkenntnis war zwar schon damals nicht neu, gewann aber mehr und mehr an Relevanz im öffentlichen Diskurs. Jene ‚West-Dominanz’ nannte Kowalczuk „kulturelle Hegemonie“, geprägt von fehlenden „Ost-Eliten“ und einer damit verbundenen „Abwertung“ ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler.

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de


Dabei meint der wissenschaftlich eher umstrittene Begriff „Eliten“ (vgl. Waldmann 1998, S. 113–116) Personen, die in Institutionen oder Organisationen aufgrund ihrer (Leitungs-)Funktion und der daraus resultierenden Macht einen gesellschaftspolitischen Einfluss besitzen. „Ost-Eliten“ sind hierbei jene, die in der DDR geboren oder nach dem 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern oder Ostberlin geboren und/oder aufgewachsen sind und deren Eltern aus der DDR stammen.

Eine ‚West-Vorherrschaft’ im Märchenfilm nach 1990?

Zwar gibt es einige wenige Statistiken, die den Anteil der Ostdeutschen an den gesamtdeutschen Eliten bemessen (vgl. Kollmorgen 2021), doch gilt landläufig die Meinung, dass sich ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler „im vereinten Vaterland noch am besten behauptet“ haben (Eckert 2021, S. 283).

Dennoch finden sich selten valide Erhebungen, die sich tiefergehend dem Kulturbetrieb, zum Beispiel der Filmbranche widmen. Schon gar nicht dem bundesdeutschen Märchenfilm, der aber vor dem Hintergrund der 40-jährigen DDR-Märchenfilmgeschichte und des anhaltenden gesamtdeutschen Märchenfilmbooms seit Mitte der 2000er-Jahre einen näheren Blick lohnt und Fragen aufwirft.

Gibt es heute (oder immer noch) eine sogenannte „Repräsentationslücke“ (Kollmorgen 2021, S. 231) von DDR-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern, oder umgekehrt gefragt eine ‚West-Vorherrschaft’, im bundesdeutschen Märchenfilm nach 1990? Und wenn ja, wie groß ist diese, was sind hierfür die Gründe und folgen daraus unmittelbare Defizite?

Die Abwicklung von DFF und DEFA

Als die DEFA, das ehemalige staatliche Filmstudio der DDR, 1992 von der Treuhandanstalt an einen französischen Mischkonzern verkauft wird, blickt es in seiner über 45-jährigen Geschichte auf etwa 40 Schauspieler-Märchenkinofilme zurück. Zudem produziert die DEFA für den staatlichen Deutschen Fernsehfunk (DFF, 1956–1971, 1990–1991) bzw. das Fernsehen der DDR (1972–1990) etwa 20 Märchenfernsehfilme bzw. -spiele.

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG


Ihr künstlerisches Niveau, lobenswerte Leistungen der Schauspielstars und dramaturgisch gut durchdachte Geschichten machten viele der Märchenadaptionen – trotz einer mal mehr, mal weniger durchschimmernden Ideologie – damals wie heute zu Filmklassikern, die sogar in den Westen exportiert und dort in TV und Kino gezeigt wurden. Dennoch fielen mit der Abwicklung von DEFA und DFF schlagartig zwei Institutionen weg, die diese Märchenfilme produzierten. Das daran beteiligte künstlerische Personal verlor von heute auf morgen seine gesicherte Existenz.

Neuanfang in unbekanntem Produktionsmarkt

„Das Telefon stand plötzlich still“, erinnerte sich später der Filmkomponist Peter M. Gotthardt in einem Interview an die Nachwendezeit – und meinte damit die ausbleibenden Aufträge. Gotthardt, der mit der Filmmusik zu „Die Legende von Paul und Paula“ (DDR, 1973, R: Heiner Carow), aber auch zum DEFA-Märchenfilm „Schneeweißchen und Rosenrot“ (DDR, 1979, R: Siegfried Hartmann) zu den wichtigsten DDR-Filmkomponisten zählte, schaffte den Neuanfang in einem gänzlich unbekannten Produktionsmarkt mit hohem Konkurrenzdruck. Vielen anderen Kolleginnen und Kollegen gelang das allerdings nicht.

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR


Das hatte auch damit zu tun, dass sich – auf das Märchenfilmgenre bezogen – die Nachfolger des DFF, die 1992 neu gegründeten ARD-Landesrundfunkanstalten Mitteldeutscher Rundfunk (MDR) und Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB, seit 2003: Rundfunk Berlin-Brandenburg, kurz: RBB) erst einmal neu aufstellen mussten (vgl. Wiedemann 2017, S. 215). Die Produktion neuer Märchenfilme stand nicht auf der Tagesordnung. Das künstlerische DEFA-Märchenfilmerbe schien vorerst niemanden zu interessieren.

Einige ‚Überläufer’ in Fernsehen und Kino

Mit wenigen Ausnahmen: MDR und ORB übernahmen 1992 gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem Sender Freies Berlin (SFB) die Endproduktion von „Sherlock Holmes und die sieben Zwerge“ (TV-Erstausstrahlung: 10.5.1992). Gedreht wurde die 8-teilige Fantasy-Serie nach Motiven der Brüder Grimm noch von der bereits abgewickelten DEFA-Studio Babelsberg GmbH (vgl. Wiedemann 2015, S. 9).

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB


Der Filmstab gehörte fast ausschließlich zum früheren DEFA-Personal: Die Regie übernahm der ehemalige DDR-Regisseur Günter Meyer (u. a. „Spuk unterm Riesenrad“, 1978), der bis Anfang der 2000er-Jahre weiter Akzente im Fantasy-Fach setzte.

Zudem starteten sogenannte ‚Überläufer’ wie „Das Licht der Liebe“ (DDR/D 1991) und „Olle Hexe“ (DDR/D 1991), die bereits vor dem 3. Oktober 1990 abgedreht, aber erst danach im gesamtdeutschen Kino uraufgeführt wurden.

Stabile Strukturen und Netzwerke im Westen

Der frühe gesamtdeutsche Märchenfilm nach 1990 wurde dennoch von den Akteurinnen und Akteuren in den etablierten alten Bundesländern geprägt. Hier gab es Strukturen und Netzwerke, die über Jahrzehnte gewachsen waren und sich weiter als stabil erwiesen. So führte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) Anfang der 1990er-Jahre seine Reihe „Die Welt des Märchens“ fort. Darin verfilmte der öffentlich-rechtliche Sender in Koproduktion mit der ČSSR (später: ČSFR und ČZ) sowie westeuropäischen Fernsehanstalten bekannte Märchen für Kino und TV.

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF


Opulente Produktionen wie „Dornröschen“ (ČSSR/D/F 1990), „Der Reisekamerad“ (ČSSR/D/F/I/AT 1990), „Der Froschkönig“ (ČSFR/D/F/I 1991), „Schneewittchen und das Geheimnis der Zwerge“ (ČSFR/D/I/ES 1992) oder „Des Kaisers neue Kleider“ (ČZ/D/ES/I 1994) rekrutierten ihr Personal dabei ausschließlich aus populären westdeutschen Schauspielstars, wie Iris Berben, Judy Winter, Michael Degen oder Harald Juhnke, und tschechoslowakischen Filmschaffenden.

Ebenso verfuhr die ARD, die „Das Zauberbuch“ (ČZ/D 1996) mitproduzierte, oder der Bayerische Rundfunk (BR), der sich an „Der Feuervogel“ (ČZ/D 1997) und „Die Seekönigin“ (ČZ/D 1998) beteiligte. Ostdeutsches Personal war auch hier, aufgrund der beteiligten westdeutschen Landesrundfunkanstalt (BR), so gut wie nicht vertreten.

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF


Für westliche Entscheidungsträgerinnen und -träger in ARD und ZDF kamen Ostdeutsche auch deshalb nicht infrage, weil etwaige künstlerische Positionen in den TV-Redaktionen oder Filmstäben ohnehin bereits besetzt waren. Eine Neu- oder Umverteilung war nicht gewollt.

Ostdeutsche Aspirantinnen und Aspiranten wurden nicht zuletzt diskreditiert („Bolschewistenfunk“), weil sie nach Ansicht der westdeutschen Elite mit ihrer (künstlerischen) Arbeit das DDR-Regime direkt oder indirekt gestützt hätten. Und das, obwohl nach dessen Ende das DEFA- und DFF-Personal über berufliche Qualifikationen und notwendiges Fachwissen verfügte.

Lichtblick am Ende der 1990er-Jahre

Da wirkte es wie eine große Überraschung als Ende der 1990er-Jahre der frühere DEFA-Regisseur Rolf Losansky „Hans im Glück“ (D 1999) vorlegte – und dabei auf ein proportional ausgeglichenes hochkarätiges Ost-West-Schauspielensemble zurückgriff. Der Grund dafür mag darin gelegen haben, dass den von der Westberliner Genschow-Film GmbH produzierten Märchenfilm neben dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) auch der in Potsdam ansässige ORB und der 1997 im thüringischen Erfurt gestartete ARD-/ZDF-Kinderkanal (seit 2012: KiKA) mitfinanzierte, für den der MDR bis heute verantwortlich ist.

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film


Und auch wenn der Posten des KiKA-Programmgeschäftsführers von 1997 bis 2017 mit westdeutsch sozialisierten männlichen Entscheidungsträgern besetzt wurde (seit 2018: Astrid Plenk aus Bernburg/Sachsen-Anhalt), ist es denkbar, dass sich schon Ende der 1990er-Jahre die Redaktionen zum Teil aus ostdeutschem Personal zusammensetzten – und sich dieser Umstand auf die Märchenfilm-Produktionsplanung (Regie, Drehbuch, Schauspiel etc.) auswirkte.

Märchen-Parodien in Kino und TV für Erwachsene

Dennoch ging von „Hans im Glück“ vorerst keine Trendwende aus. Schlichtweg aus dem einfachen Grund, weil das deutsche Märchenfilmgenre Anfang der 2000er-Jahre keine wichtigen Adaptionen nach Grimm, Andersen und Co. für ein Kinderpublikum produzierte. Fragen nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ spielten deshalb vorerst noch keine Rolle.

Gleichwohl war das Märchen weiter präsent: als Parodie in Kino und TV für Erwachsene. So funktionierten die von Otto Waalkes mitproduzierten Filmkomödien „7 Zwerge – Männer allein im Wald“ (D 2004) und „7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug“ (D 2006) an den Kinokassen. Und im Privatsender ProSieben flimmerte „Die Märchenstunde“ (D/AT/ČZ 2006–2012) der Rat Pack Filmproduktion (München) über die Bildschirme.

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures


Hier wie dort griffen die Filmverantwortlichen auf westdeutsches Personal zurück, das vor oder hinter der Kamera agierte, wenn man von wenigen im Osten geborenen Schauspielstars (Nina Hagen, Mirco Nontschew, Jeanette Biedermann etc.) einmal absah.

„Sechs auf einen Streich“ und „Märchenperlen“

Ab Mitte der 2000er-Jahre erlebte der Märchenfilm im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von ARD und ZDF ein Comeback. Die meist an den Weihnachtsfeiertagen erstmalig gezeigten Adaptionen der Reihen „Märchenperlen“ (ZDF, seit 2005, auch Koproduktionen) und „Sechs auf einen Streich“ (ARD, seit 2008) richteten sich dabei sowohl an ein Kinder- als auch Familienpublikum.

Dafür gründete die Kinder- und Jugendredaktion des ZDF Anfang der 00er-Jahre eine Art ‚Think Tank’, dem auch der Münchner Filmproduzent Ernst Geyer angehörte. Die Denkfabrik sollte eine Konzeption für zunächst sechs Märchenfilme entwickeln. Darin wurden auch fünf Drehbuchautoren und eine Drehbuchautorin aus den alten Bundesländern berufen. Mitfinanziert wurden die ersten vier Märchenfilme (2005–2008) neben der Länderförderung Bayern und Hamburg von der in Leipzig ansässigen Mitteldeutschen Medienförderung (vgl. Ungureit 2009, S. 10f.).

Ostdeutsche im ARD- und ZDF-Märchenfilm

Um tendenzielle Aussagen darüber zu treffen, ob und wie viele DDR-sozialisierte Filmemacherinnen und -macher das bundesdeutsche Märchengenre mitpräg(t)en, soll der Blick stichprobenartig auf die Bereiche Regie und Drehbuch gelenkt werden.

Bis 2021 drehte das ZDF 19 Märchenfilme*, an denen insgesamt 13 Regisseure (10) und Regisseurinnen (3) beteiligt waren. Davon sind zwei (15 Prozent)** im Osten geboren: Karola Hattop, die seit 1973 Kinder- und Familienfilme für das DDR-Fernsehen und später für das ZDF zwei Märchenfilme („Die sechs Schwäne“, 2012 und „Die Schneekönigin“, 2014) inszenierte, sowie Carsten Fiebeler („Die goldene Gans“, 2013), der erst nach der Wende als Regisseur arbeitete. Koproduziert wurden diese drei ZDF-Märchenfilme von der im Jahr 2000 im thüringischen Erfurt gegründeten Kinderfilm GmbH (später: Mideu Films GmbH).

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans


Anders als beim ZDF verteilt sich die Produktion der ARD-Märchenfilme auf die neun Landesrundfunkanstalten. Die in der DDR geborene ehemalige RBB-Mitarbeiterin Sabine Preuschhof koordinierte die Reihe „Sechs auf einen Streich“ in den ersten Jahren. Werden die 52 ARD-Adaptionen bis 2021 im Hinblick auf Ost-West-Besetzung ausgewertet, zeigt sich folgendes Bild: Von insgesamt 26 Regisseuren (20) und Regisseurinnen (6) haben fünf (19 Prozent) eine Ost-Sozialisation**.

Fürneisen und Fiebeler gehören zu Top-Regisseuren

Darunter ist Bodo Fürneisen, der bei fünf ARD-Märchenfilmen auf dem Regiestuhl sitzt – er wird nur übertroffen vom westdeutschen Regisseur Christian Theede mit sechs NDR-Adaptionen. Fürneisen hatte bereits für das DDR-Fernsehen die Klassiker „Die Geschichte vom goldenen Taler“ (DDR 1985) sowie „Die Weihnachtsgans Auguste“ (DDR 1988) inszeniert. Fiebeler kommt insgesamt auf vier ARD-Adaptionen und zeigt, dass man in ZDF und ARD erfolgreich Märchen verfilmen kann.

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR


Dabei verantwortet die fünf Fürneisen-Märchenfilme und eine Fiebeler-Adaption die in Potsdam ansässige Landesanstalt RBB. Fiebelers drei andere ARD-Verfilmungen entstehen zwar unter Federführung der westdeutschen Anstalten Hessischer Rundfunk (HR) bzw. Südwestrundfunk (SWR), werden aber zum Teil von der Kinderfilm GmbH produziert: „Das blaue Licht“ (D 2010).

Nur wenige ‚ostdeutsche’ Märchenfilm-Drehbücher

Bei zwei weiteren mit Osthintergrund (Regie) gedrehten Filmen ist neben Radio Bremen (RB), dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem HR auch der MDR als Koproduzent vertreten. Einen weiteren Märchenfilm verantwortet die in Leipzig ansässige Landesanstalt ganz allein, wobei zudem die Kinderfilm GmbH das Märchen im Auftrag des MDR produziert.

Im Hinblick auf eine Ost-West-Sozialisation von Drehbuchautorinnen und -autoren im ZDF- und ARD-Märchenfilm zeigt sich ein ähnliches Bild: Von insgesamt 17, die an den „Märchenperlen“ beteiligt sind, hat nur ein Drehbuchschreiber (6 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Dieser ist aber an drei ZDF-Märchenfilmen beteiligt. Bei den ARD-Produktionen haben von insgesamt 28 Autorinnen und Autoren vier (14 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Zwei davon arbeiten allerdings gleich an drei Märchenfilmen mit.

Von „Das kalte Herz“ zu „Timm Thaler“

Einzelne Kinofilme in den 2010er-Jahren wie die Filmmärchen „Aschenbrödel und der gestiefelte Kater“ (D 2013) und „Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte“ (D 2013, koproduziert vom BR), aber auch das nach einer klassischen Vorlage entstandene „Das kalte Herz“ (D 2016, koproduziert u. a. von ARD/MDR/SWR und mitfinanziert u. a. von Mitteldeutsche Medienförderung und Medienboard Berlin-Brandenburg) entstehen wieder weitgehend mit westdeutsch sozialisierten Filmschaffenden, wobei letztere Märchenverfilmung mit André M. Hennicke und Jule Böwe zwei ostdeutsch sozialisierte Schauspielstars engagiert.

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH


Eine Ausnahme stellt die fantastische Romanverfilmung „Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen“ (D 2017) dar, die u. a. von den im thüringischen Gera geborenen Andreas Dresen (Regie) und Jörg Hauschild (Schnitt) sowie von der aus Potsdam stammenden Sabine Greunig (Kostüme) inszeniert wurde. Ostdeutsche wie Charly Hübner, Nadja Uhl, Reiner Heise oder Steffi Kühnert, aber auch die westdeutschen Schauspieler Justus von Dohnányi, Axel Prahl oder Bjarne Mädel machten den u. a. vom ZDF koproduzierten Kinofilm zu einem gesamtdeutschen Projekt.

Ostanteil proportional zur Gesamtbevölkerung

Demnach sind seit 1990 in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden, die entweder vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ARD, ZDF) oder von freien Produktionsfirmen hergestellt wurden. Doch untermauern die Statistiken und Filmbeispiele die These, dass es im bundesdeutschen Märchenfilm heute noch eine „Repräsentationslücke“ von DDR- oder ostdeutsch-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern gibt?

Vor dem Hintergrund, dass etwa 17 Prozent aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger ostdeutscher Herkunft sind (vgl. Kollmorgen 2021, S. 235) und diese Zahl als Vergleichsgröße gilt, wirkt der Regieanteil im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von 19 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“) und 15 Prozent (ZDF: „Märchenperlen“) sowie der Drehbuchanteil von 14 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“)** relativ proportional. Nur der ‚ostdeutsche’ Drehbuchanteil am ZDF-Märchenfilm von 6 Prozent ist unterproportional.**

Die Zahlen zeigen zudem wenig überraschend, wenn die beiden ‚Ost-Landesanstalten’ RBB und MDR an Märchenfilmen der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ beteiligt sind, werden für die Posten Drehbuch und Regie ebenso ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler interessant. Zudem wirkt sich die Beteiligung ostdeutscher Produktionsfirmen, beispielsweise der „Kinderfilm-GmbH“, auf den Anteil im Osten sozialisierter Akteure und Akteurinnen aus.

ARD-Landesanstalten mit ‚Lokalpatriotismus’

Dennoch lässt das nicht pauschal den Schluss zu, die in Thüringen bzw. Sachsen-Anhalt ansässige Firma arbeite vorrangig mit ostdeutschem Personal, im Unterschied zu im Westen ansässigen Produktionsfirmen.

Dafür spricht, dass „Kinderfilm“ auch ZDF-Märchenfilme verantwortete, die eine westdeutsche Regisseurin (Anne Wild: „Hänsel und Gretel“, 2006) oder einen westdeutschen Regisseur (Frank Stoye: „Der Zauberlehrling“, 2017; „Der süße Brei“, 2018) rekrutierten. Das gilt auch für die von „Kinderfilm“ produzierten ARD-Märchenfilme „König Drosselbart“ (D 2008), „Die Gänsemagd“ (D 2009) und „Rotkäppchen“ (D 2012) – alle in der Regie der Münchnerin Sibylle Tafel.

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland


Trotzdem scheint es, dass „Kinderfilm“ – im Gegensatz zu im Westteil Deutschlands ansässigen Produktionsfirmen – ein Stück weit sensibilisierter mit der Rekrutierung von Filmschaffenden umgeht. Andererseits kann dem Unternehmen, wie auch einigen ost- und westdeutschen ARD-Landesrundfunkanstalten allgemein vorgehalten werden, dass sie einen ‚Lokalpatriotismus’ bedienen, das heißt: vor allem Filmschaffende engagieren, die auf dem Gebiet der jeweiligen Rundfunkanstalt oder eines Bundeslandes leben und für den Sender bereits arbeiten.

Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Wenn RBB und MDR keine oder weniger im Osten sozialisierte Künstlerinnen und Künstler rekrutieren würden, lägen die Anteile bei Regie und Drehbuch deutlich unter dem erwähnten quantitativen Minderheitenstatus der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung (17 Prozent). Denn die anderen sieben im Westen ansässigen Landesanstalten NDR, RB, WDR, HR, SWR, BR und Saarländischer Rundfunk (SR) würden das mit dem von ihnen engagierten Ostpersonal nicht auffangen.

Die ostdeutsche Übernahme

Doch wie wirkt sich der Ost-Regieanteil von 19 bzw. 15 Prozent sowie -Drehbuchanteil von 14 bzw. 6 Prozent auf die öffentlich-rechtliche Märchenfilmproduktion** aus? Folgen daraus unmittelbare Defizite?

Glaubt man Josef Göhlen, ehemaliger Leiter des Kinderprogramms beim HR und ZDF, so ist es genau umgekehrt: Der heutige bundesdeutsche Märchenfilm ist eigentlich ein DEFA-Märchenfilm 2.0. Denn für Göhlen orientieren sich die ARD- und ZDF-Märchen „an einer tradierten Märchendramaturgie, wie sie seinerzeit insbesondere von der ostdeutschen Produktionsfirma DEFA gepflegt wurde“ (Gangloff 2016, S. 8f.). Damit meint er, dass darin die Armen und Unterdrückten immer zu den im ethischen Sinn Guten, die Reichen dagegen durchgehend zu den Bösen zählten. Er halte es für einen großen Fehler, diese Dramaturgie nachzuahmen.

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR


Die Schweizer Filmkritikerin Christine Lötscher meint, dass sich die ARD- und ZDF-Adaptionen zudem gestalterisch „an der historisierenden Ästhetik der DEFA-Märchenfilme“ (Lötscher 2017, S. 310) orientieren. Und: Wie den DDR-Produktionen liege dem öffentlich-rechtlichen Märchenfilm „eine Analyse und Interpretation der Textvorlage zugrunde; die zeitlosen Konflikte der Figuren werden konkretisiert, psychologisiert und in die Gegenwart übertragen“ (ebd. S. 311). Allerdings gelinge es eher selten, den ganz eigenen Zauber der DEFA-Filme zu reproduzieren.

Daraus wäre auf die hier diskutierte Frage zu schließen, dass sich seit 1990 keine westdeutsche „Übernahme“ in der gesamtdeutschen Märchenfilmproduktion, sondern umgekehrt eine ostdeutsche „Übernahme“ vollzogen hat – wenn auch ‚nur’ in dramaturgischer und gestalterischer Hinsicht.

Diversität: Frauenanteil und Migrationshintergrund

Gleichwohl bleibt damit die Frage nach einer angemessenen personellen ostdeutschen Teilhabe in der bundesdeutschen Märchenfilmproduktion bestehen. Flankiert wird sie allerdings im 21. Jahrhundert mit der Forderung nach einer generellen Diversität in diesem Filmgenre: Die stichprobenartigen Statistiken zeigten beispielsweise, dass der Frauenanteil – nicht nur im Regie- und Drehbuchfach – sehr gering ist.

Zudem sind Filmschaffende mit Migrationshintergrund noch Ausnahmen. Der deutsch-türkische Regisseur Cüneyt Kaya („Das Märchen vom goldenen Taler“, 2020), der in Istanbul geborene Regisseur und Drehbuchautor Su Turhan („Die drei Federn“, 2014; „Prinzessin Maleen“, 2015; „Der starke Hans“, 2020) oder der in Vietnam geborene Kameramann und Regisseur Ngo The Chau (u. a. „Die Hexenprinzessin“, D/CZ, 2020) sind drei Beispiele. Ebenso lassen sich hier der Finne Hannu Salonen („Des Kaisers neue Kleider“, 2010) oder die in Stockholm geborene deutsche Regisseurin Maria von Heland („Die Sterntaler“, 2011; „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, 2013) nennen.

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein


_____________________
MEHR ZUM THEMA
DDR reloaded: Der identitätsstiftende DEFA-Märchenfilm

Die Frage nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ im deutschen Märchenfilmgenre sollte deshalb um andere Gruppen (Frauen, Migrationshintergrund) in den nächsten Jahren erweitert werden. Um das personelle Defizit ausgeglichener zu gestalten, braucht es nicht unbedingt starre Quotenregelungen. Dafür sensibilisierte Filmschaffende in den Chefinnen- und Chefetagen wären schon einmal ein Anfang.

* Ohne den Märchenfilm „Zwerg Nase“ (D, 2008, R: Felicitas Darschin). Dieser entstand im Auftrag des BR, wird aber zu den ZDF-„Märchenperlen“ gezählt, obwohl der Sender nicht daran beteiligt war.

** Die Herkunft der Filmschaffenden wurde in öffentlichen Quellen (Internet, Fachmedien) recherchiert und/oder individuell bei den Künstlerinnen und Künstlern angefragt (E-Mail). Da nicht zu allen Filmschaffenden die Herkunft recherchiert werden konnte, können die Zahlen prozentual leicht abweichen (Stand: 24.3.2022).

Verwendete Quellen:


Headerfoto: Die kluge Bauerntochter (BRD 2010): Die Titelfigur (Anna Maria Mühe, l.) und ihre Freundin die Magd (Sabine Krause) bestaunen das Fernrohr des Königs / Foto: MDR/Sandy Rau

Ivan Palúch (1940–2015) als „Prinz Bajaja“ (ČSSR 1971) / Quelle: Cinema.de

Prinz Bajaja (ČSSR 1971): Spaßmacher und Drachentöter

Der tschechoslowakische Märchenfilm gilt vielen als Action-Abenteuer mit spektakulären Kampfszenen. Dabei ist es vor allem die Geschichte über einen jungen Mann auf der Suche nach sich selbst.

Schon eine erste Verfilmung des Märchens „Prinz Bajaja“ findet das einhellige Lob der Kritik in Ost und West: Gemeint ist Jiří Trnkas (1912–1969) abendfüllender Puppentrickfilm (ČSR 1950). Zwar schrieb der tschechische Regisseur die Vorlage von Božena Němcová (1820–1862) ein wenig um (aus dem Prinzen wird der „arme Dorfbursche Bajaja“, dem die Prinzessin am Ende in sein „einfaches bäuerliches Vaterhaus“ folgt).

Doch die Animation der Puppen, die „solch intensives Leben atmen“, sowie Farbgebung und Musik, wiegen die weltanschaulichen Eingriffe elegant auf. Als der Streifen in der DDR anläuft, meint der Rezensent der „Neuen Zeit“ zu Recht: „Wer jung ist oder sich jugendlichen Sinn bewahrt hat, sieht ihn sich an“.

(Das gilt im Übrigen auch für die aktuelle Ausstellung „Trnka – Die Geschichte einer Legende“, 21.5.–31.8.2025, in der Prager Galerie „Villa Pellé“, in der „Prinz Bajaja“ erwähnt wird.)

„Prinz Bajaja“ (1971) von Antonín Kachlík

DVD-Cover / Quelle: Icestorm

DVD-Cover / Quelle: Icestorm

Als gut zwanzig Jahre später das Filmstudio Barrandov das Märchen ein zweites Mal mit Schauspielerinnen und Schauspielern verfilmt, sind die ideologischen Wellen der frühen 1950er-Jahre bereits verebbt. Jetzt, Anfang der 1970er-Jahre, wirken dafür die Folgen des „Prager Frühlings“, jener gescheiterten Reformbewegung von 1968, noch nach: mit personellen (Entlassungen) und ästhetischen Konsequenzen (vgl. Retzlaff 2018, S. 239).

Dennoch: Das Genre entwickelt sich weiter, z. B. wird „mehr Aufmerksamkeit auf die Figuren und das Milieu“ verwendet. Die tschechische Filmwissenschaftlerin Maria Benešová meint damit „psychologisch kompliziertere Gestalten, die dadurch dramatischer, dynamischer wurden, deren Individualität besser durchgezeichnet war“ (Benešová 1990, S. 271). Zudem wird das Filmstudio neu strukturiert. So entsteht 1970 eine dramaturgische Gruppe für den Kinder- und Jugendfilm, die auch die Anforderungen an das Genre steigen lassen (vgl. Strobel 1982, S. 12).

Damals reicht der wegen seines Engagements im „Prager Frühling“ mit einem Berufsverbot belegte František Pavlíček (1923–2004) unter dem Namen von Eva Košlerová (1932–2011) das Drehbuch für „Prinz Bajaja“ ein (vgl. Retzlaff 2018, S. 240). Regisseur Antonín Kachlík (1923–2022) ist ebenso am Filmskript beteiligt. Die Komödie, der Kriminal-, Jugend- und Abenteuerfilm sind eigentlich seine Lieblingsfächer (vgl. Reichow 1990, S. 388f.). Da verwundert es kaum, wenn er die Geschichte ein wenig anders erzählt als Božena Němcová.

Warum heißt der Prinz Bajaja?

Bei ihr hat der Prinz noch einen Zwillingsbruder. Weil dieser aber bevorzugt wird, reitet er auf seinem sprechenden klugen Pferd in die Welt. Es rät ihm, als unscheinbarer stummer Diener in einem Königsschloss zu arbeiten. Da das einzige Wort, was er spricht, wie ba-ja-ja klingt, nennen ihn dort alle nur Bajaja (wobei die letzte Silbe belohnt wird).

Prinz Bajaja (1971): Der vermeintliche Gärtner (Ivan Palúch) und sein Zauberpferd / Quelle: Cinema.de

Prinz Bajaja (1971): Der vermeintliche Gärtner (Ivan Palúch) und sein Zauberpferd / Quelle: Cinema.de


Doch das Reich wird von drei Drachen bedroht, die nacheinander die drei Töchter des Königs fordern. Mit Hilfe seines Pferds tötet Bajaja – unerkannt in Ritterrüstung – erst die Drachen und besiegt später ein feindliches Heer, das dem König den Krieg erklärt hatte. Erst bei einem Ritterturnier, das Bajaja gewinnt, gibt er sich zu erkennen und heiratet die jüngste Königstochter.

Der Märchenfilm hält sich zwar an dieses erzählerische Grundgerüst, lässt aber einzelne Züge weg (nur eine statt drei Töchter, sich wiederholende Drachenkämpfe, Sieg übers feindliche Heer) und setzt zugleich neue Akzente.

Ivan Palúch (1940–2015): erst Prinz, dann Bettler

Jene „psychologisch kompliziertere[n] Gestalten“ aber, die Maria Benešová auffallen, scheinen bereits in der Eingangssequenz ihre Entsprechung zu finden: Ein junger Mann schaut ernst, nachdenklich, fast ein wenig entrückt in die Ferne; die Kamera zeigt ihn dabei fünf Sekunden lang ganz nah in einer Großaufnahme. Eine untypische Eröffnung für einen Märchenfilm, bedient sich das Genre doch oftmals Panoramaeinstellungen, in denen Landschaften oder Schlösser zu sehen sind.

Prinz Bajaja (1971): Der Königssohn (Ivan Palúch) im ungewöhnlichen Establishing Shot / Quelle: Cinema.de

Prinz Bajaja (1971): Der Königssohn (Ivan Palúch) im ungewöhnlichen Establishing Shot / Quelle: Cinema.de


Es ist der damals 30-jährige Schauspieler Ivan Palúch (1940–2015), den die Kamera hier in der Titelrolle von „Prinz Bajaja“ filmt. Einige Jahre zuvor hat er im hochgelobten Mittelalter-Epos „Marketa Lazarova“ (ČSSR 1967) auf sich aufmerksam gemacht. Nach dem Ende des „Prager Frühlings“ fällt der Slowake – wie Pavlíček – jedoch in Ungnade, weil er den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts kritisiert und muss um Aufträge betteln.

„Prinz Bajaja“ kann als letzter großer Film gelten, in dem er mitspielt. Das Drehbuch lässt die Vorgeschichte mit Eltern und Zwillingsbruder weg; hier ist der Held nur ein junger, einsamer Prinz, der seine Burg verlässt, um das Glück zu suchen.

Christopher Vogler: Held, Mentor, Schatten

Eine alte, weise Frau warnt ihn vor Gefahren („Der Weg zur Hölle ist mühelos, denn er führt niemals bergauf; doch der Weg ins Paradies […] ist steil und hart“); hingegen erzählt ihm ein alter, weißhaariger Mann vom König, dessen nunmehr einzige Tochter einen Drachen heiraten muss. Das will der Prinz verhindern. Beide, Alte und Alter, sind aber keine Mentoren im klassischen Sinn (nach Drehbuchautor und Hollywood-Berater Christopher Vogler), die dem Prinzen helfen.

Diese Rolle übernimmt das weiße, mit leichtem Nachhall (= Magie) sprechende Pferd, das er vor den Misshandlungen eines neu ins Figurenensemble aufgenommenen Schwarzen Ritters (Fero Velecký, 1934–2003) und seiner Kumpane befreit. Deutlich tritt bereits hier die Farbsymbolik auf, die den ganzen Film durchzieht: Denn Weiß steht für Göttlichkeit, Reinheit, Unschuld – Schwarz dagegen für Dunkelheit, Bedrohung, Tod.

Prinz Bajaja (1971): Der schwarze Ritter (Fero Velecký, M.) mit seinen Helfershelfern / Quelle: Cinema.de

Prinz Bajaja (1971): Der schwarze Ritter (Fero Velecký, M.) mit seinen Helfershelfern / Quelle: Cinema.de


Prinz Bajaja (1971): Drehort Schloss Hrubá Skála (Aufnahmedatum: 14.10.2006) / Quelle: Hejkal/Wikimedia Commons

Prinz Bajaja (1971): Drehort Schloss Hrubá Skála (Aufnahmedatum: 14.10.2006) / Quelle: Hejkal/Wikimedia Commons


Die Figur des schwarzen Ritters ist überdies mit der Selbstfindung des Prinzen von Beginn an eng verwoben. Er verfolgt ihn wie ein finsterer „Schatten“ (ein weiterer bekannter Märchencharakter nach Vogler), ist sein Gegenspieler.

Zum ersten, wenn der Ritter später als einer der drei Freier auftaucht und um die Hand der schönen Prinzessin Slavěna (Magda Vášáryová) anhält. Zum zweiten, wenn er sich als vermeintlicher Sieger im Drachenkampf präsentiert (obgleich Bajaja unerkannt in Rüstung das Untier tötet, aber davon reitet). Und zum dritten, wenn er im Ritterturnier gegen den eigentlichen Drachentöter (Bajaja) den Kürzeren zieht – das im Hof von Schloss Hrubá Skála stattfindet (welches sich in Nordböhmen befindet).

(Genau 40 Jahre später wird eine ähnlich konzipierte „Schatten“-Figur als Schwarzer Ritter in „Der Eisenhans“, BRD 2011, ihre Auferstehung finden.)

Rote Rosen, goldene Äpfel, antike Liebesorakel

Doch der Märchenfilm ist neben einer actionreichen Ritter- und Abenteuergeschichte mit spektakulären Kampfszenen auch ein Liebesfilm: Prinz und Prinzessin lernen sich bereits in der Exposition kennen, freilich inkognito beim Blinde-Kuh-Spiel. Auf Rat des getreuen Pferds tritt er ihr wenig später aber als stummer Gärtner gegenüber – verkleidet mit rothaariger Perücke und Augenklappe –, wird am Hof ihr Spaßmacher, Freund und Gefährte, ihr Bajaja.

Prinz Bajaja (1971): Der als Gärtner verkleidete Prinz (Ivan Palúch) ahmt den Drachen nach / Quelle: Cinema.de

Prinz Bajaja (1971): Der als Gärtner verkleidete Prinz (Ivan Palúch) ahmt den Drachen nach / Quelle: Cinema.de


Seine Zuneigung zeigen rote Rosen (= Symbol für Liebe und Leidenschaft) und Äpfel (= Liebes- und Fruchtbarkeitssymbol) an, die er der Prinzessin aus dem Garten bringt. Zudem tritt der Apfel später als Liebesorakel auf, wenn ihn Slavěna im Festsaal auf dem Boden vor den Freiern rollen lässt: An wessen Schuh der Apfel zum Stillstand komme, werde ihr Mann. Er bleibt, wenig verwunderlich, vor den Füßen Bajajas liegen.

Das Motiv, das schon in Božena Němcovás Vorlage auftritt („goldener Apfel“), zeigt einmal mehr die Nähe des Volksmärchens zum antiken Mythos („Urteil des Páris“). Gleichzeitig sind Parallelen zu anderen Märchen erkennbar, wie „Die zwei Brüder“ (KHM 60, Prinzessin soll vermeintlichen Drachentöter heiraten) oder erwähntem „Der Eisenhans“ (KHM 136), wo ein als Ritter verkleideter Gärtner bzw. Prinz ebenso in eine Schlacht zieht und sich am Fuß verletzt.

Tiefliegende Fragen nach dem Selbst

Im Hinblick auf Bajajas Drachenkampf wird oft die filmische Umsetzung des Untiers kritisiert. Sie sei, so der Vorwurf, damals bereits veraltet und angestaubt. Freilich ist der Drache nur mechanisch und pyrotechnisch animiert (Qualm aus dem Maul), doch im Zusammenspiel mit Kameraführung, Schnitt, Geräuschkulisse ist auch diese Sequenz für die Entstehungszeit spannend inszeniert – ohne allzu vordergründige Effekthascherei (Kamera: Jiří Macák, 1939–2023).

Prinz Bajaja (1971): Der Königssohn (Ivan Palúch) stellt sich in Ritterrüstung dem Drachen / Quelle: Cinema.de

Prinz Bajaja (1971): Der Königssohn (Ivan Palúch) stellt sich in Ritterrüstung dem Drachen / Quelle: Cinema.de


Prinz Bajaja (1971): Die Farbdramaturgie lässt sich auch beim Ritterturnier erkennen / Quelle: Cinema.de

Prinz Bajaja (1971): Die Farbdramaturgie lässt sich auch beim Ritterturnier erkennen / Quelle: Cinema.de


Vielmehr wirft „Prinz Bajaja“ fortwährend tiefliegende Fragen nach dem Selbst auf: Die Prüfungen, wie Drachenkampf oder das spätere Ritterturnier, sind dabei zweitrangig und in gewisser Weise austauschbar. Anfangs ist der Königssohn ein ungeduldiger Luftikus – was sein Kamerad, das sprechende Pferd, früh erkennt („Du, Träumer!“). Als es den Prinzen fragt: „Strebst du nach Ruhm oder Glück?“, antwortet er noch: „Das Glück ist mir wichtiger!“

Ähnliche Fragen werden in Wilhelm Hauffs „Das Märchen vom falschen Prinzen“ (1826) verhandelt: Als es am Ende darum geht, den richtigen vom falschen Königssohn zu unterscheiden, wählt Labakan, der Schneidergeselle, „Glück und Reichtum“. Omar, der rechtmäßige Thronfolger, entscheidet sich für „Ehre und Ruhm“ – denn sein Schicksal lehrte ihn „wie unsicher das Glück, wie vergänglich der Reichtum ist“ (Hauff 2002, S. 113).

„Was ist Glück?“ – „Die Freude, anderen zu helfen“

Unser Königssohn ist anfangs auch noch ein unfertiger, ‚falscher’ Prinz, der hastig dem (Liebes-)Glück nachjagt, was vor allem in den Zwiegesprächen mit seinem Pferd deutlich wird. Dabei wird die Suche nach dem Glück nicht per se infrage gestellt, wohl aber das Ziel. Als der Prinz am Ende sein Pferd fragt: „Was ist Glück?“, antwortet es: „Die Freude, anderen zu helfen.“

Es bringt den Königssohn auch dazu, seine Eitelkeit (Superbia) zu überdenken, wenn er sich als tapferer Ritter („Held“) vor der Prinzessin profilieren möchte. Denn jene Eitelkeit ist – neben Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit – eben auch eine der sieben christlichen Todsünden. „Wichtig wird [dabei], daß der junge Prinz nicht nur den Drachen besiegt, nicht nur den schwarzen Ritter, sondern vor allem sich selbst“ (Mihan 1990, S. 294).

Prinz Bajaja (1971): Und jetzt darf der Bräutigam die Braut (Magda Vášáryová) küssen / Quelle: Cinema.de

Prinz Bajaja (1971): Und jetzt darf der Bräutigam die Braut (Magda Vášáryová) küssen / Quelle: Cinema.de


_____________________
MEHR ZUM THEMA
Wie man Prinzessinnen weckt (ČSSR 1977)
Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (ČSSR/DDR 1973)
Die wahnsinnig traurige Prinzessin (ČSSR 1968)
Die stolze Prinzessin (ČSR 1952)

Zu guter Letzt scheint es, dass das Drehbuch-Team Pavlíček/Košlerová/Kachlík dem Prinzenpaar das klassische Happy End verweigert. Erhält doch der Königssohn im Märchen zumeist, nachdem er alles Böse besiegt hat, die Königstochter folgerichtig zur Frau. Hier nicht. Bajaja macht der Prinzessin nur Andeutungen, wer der Ritter – der für sie zweimal kämpfte – sei. Am Ende darf er sie aber trotzdem romantisch im Wald wach küssen. Fast wie bei Dornröschen.

Film: „Prinz Bajaja“ (ČSSR, 1971, Regie: Antonín Kachlík). Ist auf DVD („Die Märchenbox 3: 4 DVDs: Ein Klecks ins Märchen, Prinz Bajaja, Prinzessin Julia, Wie Honza beinahe König geworden wäre“, Icestorm, 2009) erschienen.

Hinweis: Die westdeutsche Synchronfassung (Aventin-Filmstudio, Buch und Dialog-Regie: Ursula Zell) mit einer Länge von ca. 73 Minuten liegt diesem Beitrag zugrunde.

Video: Hier klicken und „Prinz Bajaja“ auf FC2 Video anschauen. (zuletzt aufgerufen: 30.6.2025)

Drehort: u. a. Schloss Hrubá Skála (dt.: Schloss Groß-Skal), 511 01 Hrubá Skála-Turnov 1, Tschechien

Verwendete Quellen:

  • Benešová, Maria: Der Flug der Phantasie. In: Berger, Eberhard/Giera, Joachim (Hrsg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin: Henschel, 1990, S. 267–275.
  • BKD: Das Glück des Prinzen Bajaja. Ein bezaubernder Film aus dem Puppenreich. In: Neue Zeit 9 (1953), Nr. 131, 9.6.1953, S. 4.
  • Hauff, Wilhelm: Das Märchen vom falschen Prinzen. In: Sämtliche Märchen. Mit den Illustrationen der Erstdrucke. Hrsg. von Hans-Heino Ewers. Stuttgart: Reclam 2002, S. 98–116.
  • Kachlíková, Markéta/Fraňková, Ruth: Traummacher Jiří Trnka: Große Ausstellung in Prag. In: Radio Prague International (vom 26.6.2025, abgerufen: 27.6.2025)
  • Mihan, Angelika: Prinz Bajaja (Princ Bajaja). In: Berger, Eberhard/Giera, Joachim (Hrsg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin: Henschel, 1990, S. 291–294.
  • Němcová, Božena: Prinz Bajaja. In: Märchenbasar (abgerufen: 27.6.2025)
  • Reichow, Joachim: Antonín Kachlík. In: Berger, Eberhard/Giera, Joachim (Hrsg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin: Henschel, 1990, S. 388f.
  • Retzlaff, Steffen: Der tschechoslowakische Märchenspielfilm (1920–1989). In: Dettmar, Ute/Pecher, Claudia Maria/Schlesinger, Ron (Hrsg.): Märchen im Medienwechsel – Zur Geschichte und Gegenwart des Märchenfilms. Stuttgart, 2018, S. 229–249.
  • Strobel, Hans: Kinderfilme in der Tschechoslowakei (1945–1979). In: Der Kinderfilm in der Tschechoslowakei. Sonderdruck der Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz. München: 1982
  • Vogler, Christopher: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 1997
  • [o. A.]: „Prinz Bajaja“: Schauspieler Ivan Palúch gestorben. In: Neue Zürcher Zeitung (vom 4.7.2015, abgerufen: 27.6.2025)
  • [o. A.]: Zabudnutý príbeh Ivana Palúcha: Z červeného koberca v Cannes pád až na dno! Myšlienky na samovraždu. In: topky.sk (vom 20.6.205, abgerufen: 30.6.2025)

Weitere Literatur: Sůva, Lubomír: „Zürnst du deinem Bräutigam, daß du dich vor ihm verbirgst?“. Zur Genese von „Prinz Bajaja“ von Božena Němcová im Vergleich mit „Bajaja“ von Jiří Trnka und „Eisenhans“ der Brüder Grimm. In: Märchen, Mythen und Moderne. 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. 2 Bd. Hrsg. von Claudia Brinker-von der Heyde, Holger Ehrhardt und Hans-Heino Ewers. Frankfurt: Peter Lang, 2015, S. 959–970.

Headerfoto: Ivan Palúch (1940–2015) als „Prinz Bajaja“ (ČSSR 1971) / Quelle: Cinema.de