Hervorgehobener Beitrag
Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Was ist heute vom DEFA-Märchenfilm der untergegangenen DDR übrig geblieben?

Als der Historiker llko-Sascha Kowalczuk mit „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ (2019) ostdeutsche Befindlichkeiten unter die Lupe nahm, provozierte er – dreißig Jahre nach dem Mauerfall – eine kontroverse Debatte. Lobte der 1976 von der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann in der „Berliner Morgenpost“ Kowalczuks Essay als „glänzendes Buch“ und „wahrhaftige Analyse“, so urteilte im „Deutschlandfunk Kultur“ die DDR-Ex-Leistungssportlerin Ines Geipel deutlich kritischer.

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de


Kowalczuk bediene mit seiner „Strategie des halben Blicks“ nur den „aktuellen Hype: da der Schuld-Westen, dort der Opfer-Osten“, so Geipel, die auch Mitbegründerin des „Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR“ ist. Gleichwohl hält die Zeit des Bilanzziehens unvermindert an. Sie mündet dabei vor allem in einer Frage: Wie wirkt sich eine sogenannte „Übernahme“, oder anders gesagt: der Beitritt der DDR (nach Artikel 23 des alten Grundgesetzes), auf das heutige Deutschland aus?

„Kulturelle Hegemonie“ und fehlende „Ost-Eliten“

Dabei rückte Kowalczuk den Blick auch auf eine westdeutsche ‚Vorherrschaft’ im Kulturbetrieb des seit 30 Jahren vereinten Deutschlands. Diese Erkenntnis war zwar schon damals nicht neu, gewann aber mehr und mehr an Relevanz im öffentlichen Diskurs. Jene ‚West-Dominanz’ nannte Kowalczuk „kulturelle Hegemonie“, geprägt von fehlenden „Ost-Eliten“ und einer damit verbundenen „Abwertung“ ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler.

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de


Dabei meint der wissenschaftlich eher umstrittene Begriff „Eliten“ (vgl. Waldmann 1998, S. 113–116) Personen, die in Institutionen oder Organisationen aufgrund ihrer (Leitungs-)Funktion und der daraus resultierenden Macht einen gesellschaftspolitischen Einfluss besitzen. „Ost-Eliten“ sind hierbei jene, die in der DDR geboren oder nach dem 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern oder Ostberlin geboren und/oder aufgewachsen sind und deren Eltern aus der DDR stammen.

Eine ‚West-Vorherrschaft’ im Märchenfilm nach 1990?

Zwar gibt es einige wenige Statistiken, die den Anteil der Ostdeutschen an den gesamtdeutschen Eliten bemessen (vgl. Kollmorgen 2021), doch gilt landläufig die Meinung, dass sich ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler „im vereinten Vaterland noch am besten behauptet“ haben (Eckert 2021, S. 283).

Dennoch finden sich selten valide Erhebungen, die sich tiefergehend dem Kulturbetrieb, zum Beispiel der Filmbranche widmen. Schon gar nicht dem bundesdeutschen Märchenfilm, der aber vor dem Hintergrund der 40-jährigen DDR-Märchenfilmgeschichte und des anhaltenden gesamtdeutschen Märchenfilmbooms seit Mitte der 2000er-Jahre einen näheren Blick lohnt und Fragen aufwirft.

Gibt es heute (oder immer noch) eine sogenannte „Repräsentationslücke“ (Kollmorgen 2021, S. 231) von DDR-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern, oder umgekehrt gefragt eine ‚West-Vorherrschaft’, im bundesdeutschen Märchenfilm nach 1990? Und wenn ja, wie groß ist diese, was sind hierfür die Gründe und folgen daraus unmittelbare Defizite?

Die Abwicklung von DFF und DEFA

Als die DEFA, das ehemalige staatliche Filmstudio der DDR, 1992 von der Treuhandanstalt an einen französischen Mischkonzern verkauft wird, blickt es in seiner über 45-jährigen Geschichte auf etwa 40 Schauspieler-Märchenkinofilme zurück. Zudem produziert die DEFA für den staatlichen Deutschen Fernsehfunk (DFF, 1956–1971, 1990–1991) bzw. das Fernsehen der DDR (1972–1990) etwa 20 Märchenfernsehfilme bzw. -spiele.

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG


Ihr künstlerisches Niveau, lobenswerte Leistungen der Schauspielstars und dramaturgisch gut durchdachte Geschichten machten viele der Märchenadaptionen – trotz einer mal mehr, mal weniger durchschimmernden Ideologie – damals wie heute zu Filmklassikern, die sogar in den Westen exportiert und dort in TV und Kino gezeigt wurden. Dennoch fielen mit der Abwicklung von DEFA und DFF schlagartig zwei Institutionen weg, die diese Märchenfilme produzierten. Das daran beteiligte künstlerische Personal verlor von heute auf morgen seine gesicherte Existenz.

Neuanfang in unbekanntem Produktionsmarkt

„Das Telefon stand plötzlich still“, erinnerte sich später der Filmkomponist Peter M. Gotthardt in einem Interview an die Nachwendezeit – und meinte damit die ausbleibenden Aufträge. Gotthardt, der mit der Filmmusik zu „Die Legende von Paul und Paula“ (DDR, 1973, R: Heiner Carow), aber auch zum DEFA-Märchenfilm „Schneeweißchen und Rosenrot“ (DDR, 1979, R: Siegfried Hartmann) zu den wichtigsten DDR-Filmkomponisten zählte, schaffte den Neuanfang in einem gänzlich unbekannten Produktionsmarkt mit hohem Konkurrenzdruck. Vielen anderen Kolleginnen und Kollegen gelang das allerdings nicht.

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR


Das hatte auch damit zu tun, dass sich – auf das Märchenfilmgenre bezogen – die Nachfolger des DFF, die 1992 neu gegründeten ARD-Landesrundfunkanstalten Mitteldeutscher Rundfunk (MDR) und Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB, seit 2003: Rundfunk Berlin-Brandenburg, kurz: RBB) erst einmal neu aufstellen mussten (vgl. Wiedemann 2017, S. 215). Die Produktion neuer Märchenfilme stand nicht auf der Tagesordnung. Das künstlerische DEFA-Märchenfilmerbe schien vorerst niemanden zu interessieren.

Einige ‚Überläufer’ in Fernsehen und Kino

Mit wenigen Ausnahmen: MDR und ORB übernahmen 1992 gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem Sender Freies Berlin (SFB) die Endproduktion von „Sherlock Holmes und die sieben Zwerge“ (TV-Erstausstrahlung: 10.5.1992). Gedreht wurde die 8-teilige Fantasy-Serie nach Motiven der Brüder Grimm noch von der bereits abgewickelten DEFA-Studio Babelsberg GmbH (vgl. Wiedemann 2015, S. 9).

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB


Der Filmstab gehörte fast ausschließlich zum früheren DEFA-Personal: Die Regie übernahm der ehemalige DDR-Regisseur Günter Meyer (u. a. „Spuk unterm Riesenrad“, 1978), der bis Anfang der 2000er-Jahre weiter Akzente im Fantasy-Fach setzte.

Zudem starteten sogenannte ‚Überläufer’ wie „Das Licht der Liebe“ (DDR/D 1991) und „Olle Hexe“ (DDR/D 1991), die bereits vor dem 3. Oktober 1990 abgedreht, aber erst danach im gesamtdeutschen Kino uraufgeführt wurden.

Stabile Strukturen und Netzwerke im Westen

Der frühe gesamtdeutsche Märchenfilm nach 1990 wurde dennoch von den Akteurinnen und Akteuren in den etablierten alten Bundesländern geprägt. Hier gab es Strukturen und Netzwerke, die über Jahrzehnte gewachsen waren und sich weiter als stabil erwiesen. So führte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) Anfang der 1990er-Jahre seine Reihe „Die Welt des Märchens“ fort. Darin verfilmte der öffentlich-rechtliche Sender in Koproduktion mit der ČSSR (später: ČSFR und ČZ) sowie westeuropäischen Fernsehanstalten bekannte Märchen für Kino und TV.

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF


Opulente Produktionen wie „Dornröschen“ (ČSSR/D/F 1990), „Der Reisekamerad“ (ČSSR/D/F/I/AT 1990), „Der Froschkönig“ (ČSFR/D/F/I 1991), „Schneewittchen und das Geheimnis der Zwerge“ (ČSFR/D/I/ES 1992) oder „Des Kaisers neue Kleider“ (ČZ/D/ES/I 1994) rekrutierten ihr Personal dabei ausschließlich aus populären westdeutschen Schauspielstars, wie Iris Berben, Judy Winter, Michael Degen oder Harald Juhnke, und tschechoslowakischen Filmschaffenden.

Ebenso verfuhr die ARD, die „Das Zauberbuch“ (ČZ/D 1996) mitproduzierte, oder der Bayerische Rundfunk (BR), der sich an „Der Feuervogel“ (ČZ/D 1997) und „Die Seekönigin“ (ČZ/D 1998) beteiligte. Ostdeutsches Personal war auch hier, aufgrund der beteiligten westdeutschen Landesrundfunkanstalt (BR), so gut wie nicht vertreten.

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF


Für westliche Entscheidungsträgerinnen und -träger in ARD und ZDF kamen Ostdeutsche auch deshalb nicht infrage, weil etwaige künstlerische Positionen in den TV-Redaktionen oder Filmstäben ohnehin bereits besetzt waren. Eine Neu- oder Umverteilung war nicht gewollt.

Ostdeutsche Aspirantinnen und Aspiranten wurden nicht zuletzt diskreditiert („Bolschewistenfunk“), weil sie nach Ansicht der westdeutschen Elite mit ihrer (künstlerischen) Arbeit das DDR-Regime direkt oder indirekt gestützt hätten. Und das, obwohl nach dessen Ende das DEFA- und DFF-Personal über berufliche Qualifikationen und notwendiges Fachwissen verfügte.

Lichtblick am Ende der 1990er-Jahre

Da wirkte es wie eine große Überraschung als Ende der 1990er-Jahre der frühere DEFA-Regisseur Rolf Losansky „Hans im Glück“ (D 1999) vorlegte – und dabei auf ein proportional ausgeglichenes hochkarätiges Ost-West-Schauspielensemble zurückgriff. Der Grund dafür mag darin gelegen haben, dass den von der Westberliner Genschow-Film GmbH produzierten Märchenfilm neben dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) auch der in Potsdam ansässige ORB und der 1997 im thüringischen Erfurt gestartete ARD-/ZDF-Kinderkanal (seit 2012: KiKA) mitfinanzierte, für den der MDR bis heute verantwortlich ist.

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film


Und auch wenn der Posten des KiKA-Programmgeschäftsführers von 1997 bis 2017 mit westdeutsch sozialisierten männlichen Entscheidungsträgern besetzt wurde (seit 2018: Astrid Plenk aus Bernburg/Sachsen-Anhalt), ist es denkbar, dass sich schon Ende der 1990er-Jahre die Redaktionen zum Teil aus ostdeutschem Personal zusammensetzten – und sich dieser Umstand auf die Märchenfilm-Produktionsplanung (Regie, Drehbuch, Schauspiel etc.) auswirkte.

Märchen-Parodien in Kino und TV für Erwachsene

Dennoch ging von „Hans im Glück“ vorerst keine Trendwende aus. Schlichtweg aus dem einfachen Grund, weil das deutsche Märchenfilmgenre Anfang der 2000er-Jahre keine wichtigen Adaptionen nach Grimm, Andersen und Co. für ein Kinderpublikum produzierte. Fragen nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ spielten deshalb vorerst noch keine Rolle.

Gleichwohl war das Märchen weiter präsent: als Parodie in Kino und TV für Erwachsene. So funktionierten die von Otto Waalkes mitproduzierten Filmkomödien „7 Zwerge – Männer allein im Wald“ (D 2004) und „7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug“ (D 2006) an den Kinokassen. Und im Privatsender ProSieben flimmerte „Die Märchenstunde“ (D/AT/ČZ 2006–2012) der Rat Pack Filmproduktion (München) über die Bildschirme.

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures


Hier wie dort griffen die Filmverantwortlichen auf westdeutsches Personal zurück, das vor oder hinter der Kamera agierte, wenn man von wenigen im Osten geborenen Schauspielstars (Nina Hagen, Mirco Nontschew, Jeanette Biedermann etc.) einmal absah.

„Sechs auf einen Streich“ und „Märchenperlen“

Ab Mitte der 2000er-Jahre erlebte der Märchenfilm im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von ARD und ZDF ein Comeback. Die meist an den Weihnachtsfeiertagen erstmalig gezeigten Adaptionen der Reihen „Märchenperlen“ (ZDF, seit 2005, auch Koproduktionen) und „Sechs auf einen Streich“ (ARD, seit 2008) richteten sich dabei sowohl an ein Kinder- als auch Familienpublikum.

Dafür gründete die Kinder- und Jugendredaktion des ZDF Anfang der 00er-Jahre eine Art ‚Think Tank’, dem auch der Münchner Filmproduzent Ernst Geyer angehörte. Die Denkfabrik sollte eine Konzeption für zunächst sechs Märchenfilme entwickeln. Darin wurden auch fünf Drehbuchautoren und eine Drehbuchautorin aus den alten Bundesländern berufen. Mitfinanziert wurden die ersten vier Märchenfilme (2005–2008) neben der Länderförderung Bayern und Hamburg von der in Leipzig ansässigen Mitteldeutschen Medienförderung (vgl. Ungureit 2009, S. 10f.).

Ostdeutsche im ARD- und ZDF-Märchenfilm

Um tendenzielle Aussagen darüber zu treffen, ob und wie viele DDR-sozialisierte Filmemacherinnen und -macher das bundesdeutsche Märchengenre mitpräg(t)en, soll der Blick stichprobenartig auf die Bereiche Regie und Drehbuch gelenkt werden.

Bis 2021 drehte das ZDF 19 Märchenfilme*, an denen insgesamt 13 Regisseure (10) und Regisseurinnen (3) beteiligt waren. Davon sind zwei (15 Prozent)** im Osten geboren: Karola Hattop, die seit 1973 Kinder- und Familienfilme für das DDR-Fernsehen und später für das ZDF zwei Märchenfilme („Die sechs Schwäne“, 2012 und „Die Schneekönigin“, 2014) inszenierte, sowie Carsten Fiebeler („Die goldene Gans“, 2013), der erst nach der Wende als Regisseur arbeitete. Koproduziert wurden diese drei ZDF-Märchenfilme von der im Jahr 2000 im thüringischen Erfurt gegründeten Kinderfilm GmbH (später: Mideu Films GmbH).

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans


Anders als beim ZDF verteilt sich die Produktion der ARD-Märchenfilme auf die neun Landesrundfunkanstalten. Die in der DDR geborene ehemalige RBB-Mitarbeiterin Sabine Preuschhof koordinierte die Reihe „Sechs auf einen Streich“ in den ersten Jahren. Werden die 52 ARD-Adaptionen bis 2021 im Hinblick auf Ost-West-Besetzung ausgewertet, zeigt sich folgendes Bild: Von insgesamt 26 Regisseuren (20) und Regisseurinnen (6) haben fünf (19 Prozent) eine Ost-Sozialisation**.

Fürneisen und Fiebeler gehören zu Top-Regisseuren

Darunter ist Bodo Fürneisen, der bei fünf ARD-Märchenfilmen auf dem Regiestuhl sitzt – er wird nur übertroffen vom westdeutschen Regisseur Christian Theede mit sechs NDR-Adaptionen. Fürneisen hatte bereits für das DDR-Fernsehen die Klassiker „Die Geschichte vom goldenen Taler“ (DDR 1985) sowie „Die Weihnachtsgans Auguste“ (DDR 1988) inszeniert. Fiebeler kommt insgesamt auf vier ARD-Adaptionen und zeigt, dass man in ZDF und ARD erfolgreich Märchen verfilmen kann.

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR


Dabei verantwortet die fünf Fürneisen-Märchenfilme und eine Fiebeler-Adaption die in Potsdam ansässige Landesanstalt RBB. Fiebelers drei andere ARD-Verfilmungen entstehen zwar unter Federführung der westdeutschen Anstalten Hessischer Rundfunk (HR) bzw. Südwestrundfunk (SWR), werden aber zum Teil von der Kinderfilm GmbH produziert: „Das blaue Licht“ (D 2010).

Nur wenige ‚ostdeutsche’ Märchenfilm-Drehbücher

Bei zwei weiteren mit Osthintergrund (Regie) gedrehten Filmen ist neben Radio Bremen (RB), dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem HR auch der MDR als Koproduzent vertreten. Einen weiteren Märchenfilm verantwortet die in Leipzig ansässige Landesanstalt ganz allein, wobei zudem die Kinderfilm GmbH das Märchen im Auftrag des MDR produziert.

Im Hinblick auf eine Ost-West-Sozialisation von Drehbuchautorinnen und -autoren im ZDF- und ARD-Märchenfilm zeigt sich ein ähnliches Bild: Von insgesamt 17, die an den „Märchenperlen“ beteiligt sind, hat nur ein Drehbuchschreiber (6 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Dieser ist aber an drei ZDF-Märchenfilmen beteiligt. Bei den ARD-Produktionen haben von insgesamt 28 Autorinnen und Autoren vier (14 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Zwei davon arbeiten allerdings gleich an drei Märchenfilmen mit.

Von „Das kalte Herz“ zu „Timm Thaler“

Einzelne Kinofilme in den 2010er-Jahren wie die Filmmärchen „Aschenbrödel und der gestiefelte Kater“ (D 2013) und „Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte“ (D 2013, koproduziert vom BR), aber auch das nach einer klassischen Vorlage entstandene „Das kalte Herz“ (D 2016, koproduziert u. a. von ARD/MDR/SWR und mitfinanziert u. a. von Mitteldeutsche Medienförderung und Medienboard Berlin-Brandenburg) entstehen wieder weitgehend mit westdeutsch sozialisierten Filmschaffenden, wobei letztere Märchenverfilmung mit André M. Hennicke und Jule Böwe zwei ostdeutsch sozialisierte Schauspielstars engagiert.

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH


Eine Ausnahme stellt die fantastische Romanverfilmung „Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen“ (D 2017) dar, die u. a. von den im thüringischen Gera geborenen Andreas Dresen (Regie) und Jörg Hauschild (Schnitt) sowie von der aus Potsdam stammenden Sabine Greunig (Kostüme) inszeniert wurde. Ostdeutsche wie Charly Hübner, Nadja Uhl, Reiner Heise oder Steffi Kühnert, aber auch die westdeutschen Schauspieler Justus von Dohnányi, Axel Prahl oder Bjarne Mädel machten den u. a. vom ZDF koproduzierten Kinofilm zu einem gesamtdeutschen Projekt.

Ostanteil proportional zur Gesamtbevölkerung

Demnach sind seit 1990 in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden, die entweder vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ARD, ZDF) oder von freien Produktionsfirmen hergestellt wurden. Doch untermauern die Statistiken und Filmbeispiele die These, dass es im bundesdeutschen Märchenfilm heute noch eine „Repräsentationslücke“ von DDR- oder ostdeutsch-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern gibt?

Vor dem Hintergrund, dass etwa 17 Prozent aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger ostdeutscher Herkunft sind (vgl. Kollmorgen 2021, S. 235) und diese Zahl als Vergleichsgröße gilt, wirkt der Regieanteil im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von 19 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“) und 15 Prozent (ZDF: „Märchenperlen“) sowie der Drehbuchanteil von 14 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“)** relativ proportional. Nur der ‚ostdeutsche’ Drehbuchanteil am ZDF-Märchenfilm von 6 Prozent ist unterproportional.**

Die Zahlen zeigen zudem wenig überraschend, wenn die beiden ‚Ost-Landesanstalten’ RBB und MDR an Märchenfilmen der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ beteiligt sind, werden für die Posten Drehbuch und Regie ebenso ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler interessant. Zudem wirkt sich die Beteiligung ostdeutscher Produktionsfirmen, beispielsweise der „Kinderfilm-GmbH“, auf den Anteil im Osten sozialisierter Akteure und Akteurinnen aus.

ARD-Landesanstalten mit ‚Lokalpatriotismus’

Dennoch lässt das nicht pauschal den Schluss zu, die in Thüringen bzw. Sachsen-Anhalt ansässige Firma arbeite vorrangig mit ostdeutschem Personal, im Unterschied zu im Westen ansässigen Produktionsfirmen.

Dafür spricht, dass „Kinderfilm“ auch ZDF-Märchenfilme verantwortete, die eine westdeutsche Regisseurin (Anne Wild: „Hänsel und Gretel“, 2006) oder einen westdeutschen Regisseur (Frank Stoye: „Der Zauberlehrling“, 2017; „Der süße Brei“, 2018) rekrutierten. Das gilt auch für die von „Kinderfilm“ produzierten ARD-Märchenfilme „König Drosselbart“ (D 2008), „Die Gänsemagd“ (D 2009) und „Rotkäppchen“ (D 2012) – alle in der Regie der Münchnerin Sibylle Tafel.

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland


Trotzdem scheint es, dass „Kinderfilm“ – im Gegensatz zu im Westteil Deutschlands ansässigen Produktionsfirmen – ein Stück weit sensibilisierter mit der Rekrutierung von Filmschaffenden umgeht. Andererseits kann dem Unternehmen, wie auch einigen ost- und westdeutschen ARD-Landesrundfunkanstalten allgemein vorgehalten werden, dass sie einen ‚Lokalpatriotismus’ bedienen, das heißt: vor allem Filmschaffende engagieren, die auf dem Gebiet der jeweiligen Rundfunkanstalt oder eines Bundeslandes leben und für den Sender bereits arbeiten.

Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Wenn RBB und MDR keine oder weniger im Osten sozialisierte Künstlerinnen und Künstler rekrutieren würden, lägen die Anteile bei Regie und Drehbuch deutlich unter dem erwähnten quantitativen Minderheitenstatus der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung (17 Prozent). Denn die anderen sieben im Westen ansässigen Landesanstalten NDR, RB, WDR, HR, SWR, BR und Saarländischer Rundfunk (SR) würden das mit dem von ihnen engagierten Ostpersonal nicht auffangen.

Die ostdeutsche Übernahme

Doch wie wirkt sich der Ost-Regieanteil von 19 bzw. 15 Prozent sowie -Drehbuchanteil von 14 bzw. 6 Prozent auf die öffentlich-rechtliche Märchenfilmproduktion** aus? Folgen daraus unmittelbare Defizite?

Glaubt man Josef Göhlen, ehemaliger Leiter des Kinderprogramms beim HR und ZDF, so ist es genau umgekehrt: Der heutige bundesdeutsche Märchenfilm ist eigentlich ein DEFA-Märchenfilm 2.0. Denn für Göhlen orientieren sich die ARD- und ZDF-Märchen „an einer tradierten Märchendramaturgie, wie sie seinerzeit insbesondere von der ostdeutschen Produktionsfirma DEFA gepflegt wurde“ (Gangloff 2016, S. 8f.). Damit meint er, dass darin die Armen und Unterdrückten immer zu den im ethischen Sinn Guten, die Reichen dagegen durchgehend zu den Bösen zählten. Er halte es für einen großen Fehler, diese Dramaturgie nachzuahmen.

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR


Die Schweizer Filmkritikerin Christine Lötscher meint, dass sich die ARD- und ZDF-Adaptionen zudem gestalterisch „an der historisierenden Ästhetik der DEFA-Märchenfilme“ (Lötscher 2017, S. 310) orientieren. Und: Wie den DDR-Produktionen liege dem öffentlich-rechtlichen Märchenfilm „eine Analyse und Interpretation der Textvorlage zugrunde; die zeitlosen Konflikte der Figuren werden konkretisiert, psychologisiert und in die Gegenwart übertragen“ (ebd. S. 311). Allerdings gelinge es eher selten, den ganz eigenen Zauber der DEFA-Filme zu reproduzieren.

Daraus wäre auf die hier diskutierte Frage zu schließen, dass sich seit 1990 keine westdeutsche „Übernahme“ in der gesamtdeutschen Märchenfilmproduktion, sondern umgekehrt eine ostdeutsche „Übernahme“ vollzogen hat – wenn auch ‚nur’ in dramaturgischer und gestalterischer Hinsicht.

Diversität: Frauenanteil und Migrationshintergrund

Gleichwohl bleibt damit die Frage nach einer angemessenen personellen ostdeutschen Teilhabe in der bundesdeutschen Märchenfilmproduktion bestehen. Flankiert wird sie allerdings im 21. Jahrhundert mit der Forderung nach einer generellen Diversität in diesem Filmgenre: Die stichprobenartigen Statistiken zeigten beispielsweise, dass der Frauenanteil – nicht nur im Regie- und Drehbuchfach – sehr gering ist.

Zudem sind Filmschaffende mit Migrationshintergrund noch Ausnahmen. Der deutsch-türkische Regisseur Cüneyt Kaya („Das Märchen vom goldenen Taler“, 2020), der in Istanbul geborene Regisseur und Drehbuchautor Su Turhan („Die drei Federn“, 2014; „Prinzessin Maleen“, 2015; „Der starke Hans“, 2020) oder der in Vietnam geborene Kameramann und Regisseur Ngo The Chau (u. a. „Die Hexenprinzessin“, D/CZ, 2020) sind drei Beispiele. Ebenso lassen sich hier der Finne Hannu Salonen („Des Kaisers neue Kleider“, 2010) oder die in Stockholm geborene deutsche Regisseurin Maria von Heland („Die Sterntaler“, 2011; „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, 2013) nennen.

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein


_____________________
MEHR ZUM THEMA
DDR reloaded: Der identitätsstiftende DEFA-Märchenfilm

Die Frage nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ im deutschen Märchenfilmgenre sollte deshalb um andere Gruppen (Frauen, Migrationshintergrund) in den nächsten Jahren erweitert werden. Um das personelle Defizit ausgeglichener zu gestalten, braucht es nicht unbedingt starre Quotenregelungen. Dafür sensibilisierte Filmschaffende in den Chefinnen- und Chefetagen wären schon einmal ein Anfang.

* Ohne den Märchenfilm „Zwerg Nase“ (D, 2008, R: Felicitas Darschin). Dieser entstand im Auftrag des BR, wird aber zu den ZDF-„Märchenperlen“ gezählt, obwohl der Sender nicht daran beteiligt war.

** Die Herkunft der Filmschaffenden wurde in öffentlichen Quellen (Internet, Fachmedien) recherchiert und/oder individuell bei den Künstlerinnen und Künstlern angefragt (E-Mail). Da nicht zu allen Filmschaffenden die Herkunft recherchiert werden konnte, können die Zahlen prozentual leicht abweichen (Stand: 24.3.2022).

Verwendete Quellen:


Headerfoto: Die kluge Bauerntochter (BRD 2010): Die Titelfigur (Anna Maria Mühe, l.) und ihre Freundin die Magd (Sabine Krause) bestaunen das Fernrohr des Königs / Foto: MDR/Sandy Rau

Hans im Glück (1949): Die Titelfigur (Gunnar Möller, l.) tauscht eine Gans ein / Foto: Jugendfilm-Verleih

Verpasste Chancen: Hans im Glück (BRD 1949)

Der erste westdeutsche Nachkriegs-Märchenfilm hätte eine neue Ära des Genres einläuten können. Doch die Filmhersteller schlugen mit „Hans im Glück“ einen Weg ein, der sich im Nachhinein als Sackgasse erweisen sollte.

Zwar wird bereits am 16. November 1948 der deutsche Märchenfilm „Frau Holle“ in den drei Westsektoren Berlins uraufgeführt. Doch als sogenannter Überläufer war er noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen worden und damit keine gänzlich neue Produktion.

Der erste westdeutsche Nachkriegs-Märchenfilm, der nach 1945 hergestellt ist, feiert erst am 20. November 1949 seine Premiere. Ebenso ein Märchen der Brüder Grimm. Und ebenso von der Firma Schongerfilm (ehemals Naturfilm Hubert Schonger) aus dem bayrischen Inning am Ammersee produziert. Er heißt: „Hans im Glück“ und erzählt die bekannte Geschichte eines jungen Mannes, der unvorteilhaft tauscht und am Ende mit leeren Händen dasteht.

Der verschollene „Hans im Glück“ (1940)

Kontinuität in vielerlei Hinsicht prägt demnach die junge westdeutsche Märchenfilmproduktion. Dass ein Schonger-Märchenfilm gleichen Titels schon 1940 gedreht worden war, mit dem jungenhaften Joachim Brennecke (1919–2011) in der Titelrolle, lässt sich hier noch hinzufügen.

Hans im Glück (1940): Der sympathische Junge von nebenan – Joachim Brennecke (1919–2011) / © Ufa-Filmverleih

Hans im Glück (1940): Der sympathische Junge von nebenan – Joachim Brennecke (1919–2011) / © Ufa-Filmverleih


Allerdings ist dieser Film wohl nie aufgeführt worden und gilt als verschollen, obgleich das Branchenblatt „Film-Kurier“ mehrmals (30.1., 11.5., 28.11.1940) darüber berichtete und auch verriet, wer noch mitspielte: Elsa Wagner („Hänsel und Gretel“, 1940), Kurt Lauermann („Rumpelstilzchen“, 1940), Willy Meyer-Sanden und Paul Ceblin. Edgar Ziesemer („Schneewittchen“, 1939) stand hinter der Kamera. Die Musik schrieb Fritz Wenneis („Der kleine Muck“, 1944).

„Hans im Glück“ (1949) von Peter Hamel

Die Frage, ob diese Produktion mit dem „Hans im Glück“ von 1949 etwas gemeinsam hat, muss bislang unbeantwortet bleiben. Als gesichert gilt dagegen, dass der damals 38-jährige Regisseur Peter Hamel den Märchenfilm dreht und auch das Drehbuch schreibt (mit Rosa Malzacher).

Hamel (1911–1979) kommt eigentlich aus dem Theaterbetrieb. 1946 inszenierte er in Dresden – also in der Sowjetischen Besatzungszone – Fred Dengers Bühnenstück „Wir heißen euch hoffen. Schauspiel um die heutige Jugend“ – ein Nachkriegsdrama, das damals für Furore sorgte. Im selben Jahr schrieb er mit Paul Mochmann eine neue Theaterfassung der griechischen Anti-Kriegs-Komödie „Lysistrata“ frei nach Aristophanes, die auch in der Elbestadt uraufgeführt wurde.

Hans im Glück (1949): Er (Gunnar Möller) erhält vom Meister (Erich Ponto) den Lohn / © JFV

Hans im Glück (1949): Er (Gunnar Möller) erhält vom Meister (Erich Ponto) den Lohn / © JFV


Der populäre Filmschauspieler Erich Ponto (1884–1957) war seinerzeit Generalintendant der Dresdner Bühnen und damit gewissermaßen Hamels Chef. Es ist vielleicht ein Grund, weshalb er ihn Jahre später in „Hans im Glück“ in der Rolle des alten Müllermeisters besetzt.

Auch sonst kann das Figurenensemble auf bekannte Namen verweisen, die schon im NS-Kino populär waren, wie Beppo Brem („Quax, der Bruchpilot“, 1941), Jakob Tiedtke („Der große König“, 1942) oder Gunnar Möller („Junge Adler“, 1944), der hier die Titelrolle übernimmt.

Goldklumpen symbolisiert das Böse

Gedreht wird u. a. in der Katzbrui-Mühle im Unterallgäu bei Apfeltrach. Dort erhält Hans als Lehrling für sieben Jahre gute Arbeit vom Müller einen Goldklumpen – der hier sowohl materielle Werte als auch das Böse symbolisiert. Denn: Das Gold „verhext die Menschen, sie streiten sich, sie führen Kriege, schlagen sich um so einen Klumpen, raffen es zusammen und verhärten damit ihre Herzen“, meint der alte, resignierende Meister zum jungen, staunenden Hans.

Hans im Glück (1949): Der fleißige Lehrling (Gunnar Möller) will sich vom Gold die halbe Welt kaufen / © JFV

Hans im Glück (1949): Der fleißige Lehrling (Gunnar Möller) will sich vom Gold die halbe Welt kaufen / © JFV


Filmisch wird diese Sequenz mittels Mehrfachbelichtung umgesetzt, wenn sich über den gezeigten Goldklumpen technisch zusätzliche Filmbilder ‚legen’, die die Aufzählung gleichsam illustrieren. So sind z. B. eine Soldatenschlacht aus dem 18. Jahrhundert („sie führen Kriege“) oder raufende Cowboys („schlagen sich“) zu sehen. Aus welchen (NS-)Spielfilmen diese Szenen stammen, lässt sich bislang noch nicht rekonstruieren.

Das Grimm’sche Märchen neu denken

Dennoch zeigt Hamel damit, dass er versucht, das Märchen neu zu denken: sowohl gestalterisch und philosophisch als auch erzählerisch. Denn der Müllermeister stellt Hans auf die Probe. Er fordert ihn auf, wiederzukommen und zu berichten, wie es ihm mit dem Gold ergangen ist. Die damit einhergehende Rahmenhandlung ist zudem mit einer Liebesgeschichte verbunden. So wartet auch die Enkelin des Meisters, Kathi (Gertrud Kückelmann), auf Hans, der aber erst einmal seine Mutter (Elisabeth Ferron) besuchen will.

Hans im Glück (1949): Bevor ihn Kathi (Gertrud Kückelmann) in die Arme schließen kann, trifft er auch böse Menschen, wie den Schweine- und Gänsedieb (Fred Koch, l.) / © JFV

Hans im Glück (1949): Bevor ihn Kathi (Gertrud Kückelmann) in die Arme schließen kann, trifft er auch böse Menschen, wie den Schweine- und Gänsedieb (Fred Koch, l.) / © JFV


Gerade die Frage, ob Gold dem Menschen nütze oder ihn verderbe, zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Lebensweisheiten wie „Geld braucht der Mensch, wenn er was vom Leben haben will“ (Neubauer, gespielt von Paul Kürzinger) oder „Geld allein macht nicht glücklich“ (eine Magd) stehen hier für gegensätzliche Ansichten. Gewiss orientiert sich dabei die Handlung auch an den Grimms, als Hans den Klumpen erst gegen ein Pferd, eine Kuh, ein Schwein, eine Gans und die zuletzt gegen einen wertlosen Wetzstein eintauscht – und währenddessen immer denkt, ein noch besseres Geschäft gemacht zu haben.

Reicher Schlossbesitzer, kinderreiche Familie

Doch die stringente Abfolge von Hans’ Stationen wird im Film immer wieder durchbrochen. So wenn er auf seiner Wanderung mitansieht, als sich ein reicher, beleibter Schlossbesitzer (Jakob Tiedtke) von seinen Dienern in einer Art Sänfte herumtragen lässt. Sie müssen sein Trommelfeuer an üblen Schimpftiraden über sich ergehen lassen: Reichtum in seiner negativen, ausbeuterischen, schmarotzenden Ausprägung.

Oder der Vater einer kinderreichen Bauernfamilie tauscht seine Kuh gegen Hans’ Pferd ein – worüber der Nachwuchs traurig ist. Doch das Pferd büxt aus. Als die Kinder es suchen, entdecken sie ihre Kuh wieder. Sie gehört jetzt einem Betrüger (Fred Koch), der ein Schwein gestohlen hatte, das nun Hans besitzt. Als der Schweinedieb schläft, führen die Kinder ihre Kuh wieder nach Hause. Denn: Einen Räuber zu berauben ist kein Raub.

Märchenfilm-Weg erweist sich als Sackgasse

Gleichwohl bleiben die Episoden, aber vor allem ihre Figuren oft holzschnittartig und schablonenhaft. Das Wesen des Reichen, der hier auch für das Böse steht, verharrt im Nebulösen. Sein kurzer Auftritt fügt sich nicht organisch in die Filmhandlung ein und bleibt außen vor. Ebenso hätte die Sequenz mit der kinderreichen Familie sozialkritischer (in Dialogen) akzentuiert werden können, um eine stärkere Wirkung zu erreichen.

Hans im Glück (1949): Der Schweinedieb (Fred Koch, r.) hat sich verkleidet und bietet Hans eine Gans an / © JFV

Hans im Glück (1949): Der Schweinedieb (Fred Koch, r.) hat sich verkleidet und bietet Hans eine Gans an / © JFV


So hat es den Eindruck, dass der westdeutsche Märchenfilm einen Weg einschlägt, der sich im Nachhinein als Sackgasse erweisen sollte: Einerseits mit zusätzlichen Rollen und Nebenschauplätzen die kurzen Märchenvorlagen zu erweitern, andererseits nach dem pädagogischen Vorsatz zu arbeiten, Filme für Kinder haben vor allem kindertümlich und ulkig zu sein.

„Vagabunden“ als ‚Fremdkörper’

Gemeint ist hier eine weitere Nebenhandlung mit zwei neu aufgenommenen „Vagabunden“ (Werner Lieven, Hanns Schulz). Sie versuchen, Hans den Goldklumpen zu stehlen. Dabei verlieren sich ihre Auftritte in klamaukhaften Gags. Sprechen tun sie nicht. Im Äußeren scheinen beide zum sogenannten „fahrenden Volk“ zu gehören, worauf ihre abgerissene Kleidung schließen lässt (karierte Hochwasserhose; Strohhut, auch Kreissäge genannt; Matrosenhemd etc.), mit der sie wie ‚Fremdkörper’ in der süddeutschen Landschaft wirken (Kostüme: Brigitte Raydt).

Ein Polizeidiener (Beppo Brem), der die beiden und auch den Schweinedieb am Ende stellt, ähnelt dagegen dem Wachtmeister aus dem traditionellen Kaspertheater – der dort auch für Gerechtigkeit und Ordnung sorgt und den Übeltätern allzeit auf der Spur ist. Der Märchenfilm nähert sich hierin vor allem dem Lustspiel und bayrischen Volkstheater an.

„Das wahre Glück ist die Zufriedenheit!“

Hans kehrt dagegen genau an Christi Himmelfahrt zu Müllermeister und Kathi zurück: Beschreibt der Feiertag im katholischen Katechismus den „endgültigen Eintritt der menschlichen Natur Jesu in die göttliche Herrlichkeit“, so tritt Hans jetzt ebenso göttlich-gereift dem Meister entgegen. Mit den (biblischen) Worten „Unrecht Gut gedeihet nicht!“ empfängt er Hans. Er habe die Probe bestanden, weil er erkannt habe: „Das wahre Glück ist die Zufriedenheit!“

Hans im Glück (1949): Gertrud Kückelmann als Kathi, Gunnar Möller als Titelfigur / © JFV

Hans im Glück (1949): Gertrud Kückelmann als Kathi, Gunnar Möller als Titelfigur / © JFV


Und nicht etwa das Gold, das jetzt im Übrigen auf dem Grund eines Flusses liegt, weil Buben mit dem Klumpen Ball gespielt haben – unwissend, dass es das Edelmetall ist – und er dabei ins Wasser gefallen war.

Heimatfilm-Ästhetik in „Hans im Glück“

Die Mahnung zu Bodenständigkeit, ohne sich vom Geld verführen zu lassen, verkündet kurze Zeit später ebenso der DEFA-Märchenfarbfilm „Das kalte Herz“ (DDR 1950). Denn auch er „führt einen moralischen Diskurs über den Gegensatz zwischen ehrlicher Arbeit und zu Unrecht erworbenem Reichtum […]“ (Schenk 2003, S. 52).

Beide bedienen außerdem in ihren Bildern das Heimatfilm-Genre, wobei „Hans im Glück“ diese Ästhetik freilich viel stärker verfolgt, weil fast alle Aufnahmen in pittoresker oberbayrischer Landschaft fotografiert werden (Kamera: Paul Grupp) – allerdings in Schwarz-weiß.

Gute und schlechte Filmkritiken

Trotzdem ist sich die ostdeutsche Kritik uneins über den westdeutschen „Hans im Glück“. Als der Märchenfilm am 18. Dezember 1949 seine Westberliner Uraufführung im Premierenkino Marmorhaus am Kurfürstendamm erlebt, schreibt die „Berliner Zeitung“, dass man „aus diesem bezauberndem Stoff einen blassen, bedrückenden Film [drehte], sich dabei auf die Erkenntnis stützend, daß märchenhaft und lebensfern identische Begriffe seien“ (22.12.1949).

Die ebenso in Ostberlin erscheinende „Neue Zeit“ findet dagegen, dass Hans „durch seine Erlebnisse mit guten und bösen Menschen den kleinen und großen Zuschauern Freude [bereitete]. Prächtige Märchentypen, idyllische Landschafts- und Städtebilder, reizvolle Tieraufnahmen“ (20.12.1949). Auch der westdeutsche „Filmdienst“ ist nicht ganz überzeugt: „Hübsch und zutreffend erzählt, ohne daß die Prosa der Bilder die Poesie der Vorlage erreicht“ (12.1949).

Hans im Glück (1949): „Ich glaube, die Großen meinen, ich hab’s dumm gemacht ...“, sagt Hans. „ ... aber die Kinder meinen, du hast’s recht gemacht“, weiß der alte Müllermeister am Ende / © JFV

Hans im Glück (1949): „Ich glaube, die Großen meinen, ich hab’s dumm gemacht …“, sagt Hans. „ … aber die Kinder meinen, du hast’s recht gemacht“, weiß der alte Müllermeister am Ende / © JFV


_____________________
MEHR ZUM THEMA
Wenn ein Märchenfilm zum Experiment wird: Hans im Glück (D 1936)
Hans im Glück (BRD 2016): Aus dem Leben (k)eines Taugenichts
Märchenhafte Drehorte: Wo Hans im Glück in seine Heimat wandert

Regisseur Peter Hamel wird nach „Hans im Glück“ nicht wieder ins Märchenfach zurückkehren und sich der Komödie und dem Lustspiel widmen. Rückblickend hat er die Chance verpasst, eine neue Ära des (west-)deutschen Märchenfilms einzuläuten. Diese Gelegenheit nimmt ein Jahr später die ostdeutsche DEFA mit dem erwähnten „Das kalte Herz“ wahr.

Film: „Hans im Glück“ (BRD, 1949, Regie: Peter Hamel). Ist 1995 als VHS-Kassette bei EuroVideo („Die Klassiker-Edition. Der große deutsche Märchenfilm“) erschienen – allerdings gekürzt in einer Länge von 40 Minuten. Die Kinofassung von 1949 soll einst 74 Minuten betragen haben. Im Bundesarchiv-Filmarchiv hat sich eine Fassung von 65 Minuten erhalten.

Drehorte:

  • Allgäu
  • Chiemgau
  • 86738 Deiningen im Ries
  • Katzbrui-Mühle, Katzbrui 7, 87742 Apfeltrach
  • 86650 Wemding
  • 82237 Wörthsee

Verwendete Quellen:

  • Luther, Martin: Unrecht Gut hilft nicht; aber Gerechtigkeit errettet vor dem Tode. In: Die Sprüche Salomos. Salomos Lehren von Weisheit und Frömmigkeit. Sprüche 10. Aus: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers. Altenburg, 1979, S. 622.
  • Luther, Martin: Unrecht Gut gedeihet nicht: In: Sirach 40. Apokryphen/Deuterokanonische Schriften. Die-Bibel.de. Hrsg. von der Deutschen Bibelgesellschaft (abgerufen: 30.1.2025)
  • –lz: Filme, die wir sehen. In: Neue Zeit 5 (1949), Nr. 297, 20.12.1949, S. 2.
  • –né: Blaß und lieblos. Märchenfilme in Westberlin. In: Berliner Zeitung 5 (1949), Nr. 299, 22.12.1949, S. 3.
  • [o. A.]: Christlicher Feiertag: Was wird an Christi Himmelfahrt gefeiert? In: ZDFheute Wissen (vom: 9.5.2024, abgerufen: 31.1.2025)
  • [o. A.]: Ein neues Märchenfilm-Programm: In: Film-Kurier 22 (1940), Nr. 280, 28.11.1940, S. 2.
  • [o. A.]: Hans im Glück. In: 6.000 Filme 1945–58. Kritische Notizen aus den Kinojahren. Handbuch V der katholischen Filmkritik. Düsseldorf: Haus Altenberg, 1980, S. 177.
  • [o. A.]: Kulturnotizen: Uraufführung in Dresden. In: Neues Deutschland 1 (1946), Nr. 26, 23.5.1946, S. 3.
  • [o. A.]: Kulturnotizen: „Wir heißen Euch hoffen“ in Dresden. In: Berliner Zeitung 2 (1946), Nr. 100, 30.4.1946, S. 3.
  • [o. A.]: Neue Märchenfilme. In: Film-Kurier 22 (1940), Nr. 25, 30.1.1940, [o. S.].
  • pl.: Kurzmeldungen. Neue deutsche Märchenfilme. In: Film-Kurier 109 (1940), Nr. 109, 11.5.1940, S. 1.
  • Schenk, Ralf: Das kalte Herz (DDR 1950). In: Friedrich, Andreas (Hrsg.): Filmgenres. Fantasy- und Märchenfilm. Hrsg. von Thomas Koebner. Stuttgart: Reclam, 2003, S. 50–54.

  • Headerfoto: Hans im Glück (1949): Die Titelfigur (Gunnar Möller, l.) tauscht eine Gans ein / Foto: Jugendfilm-Verleih (JFV)