Hervorgehobener Beitrag
Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Was ist heute vom DEFA-Märchenfilm der untergegangenen DDR übrig geblieben?

Als der Historiker llko-Sascha Kowalczuk mit „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ (2019) ostdeutsche Befindlichkeiten unter die Lupe nahm, provozierte er – dreißig Jahre nach dem Mauerfall – eine kontroverse Debatte. Lobte der 1976 von der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann in der „Berliner Morgenpost“ Kowalczuks Essay als „glänzendes Buch“ und „wahrhaftige Analyse“, so urteilte im „Deutschlandfunk Kultur“ die DDR-Ex-Leistungssportlerin Ines Geipel deutlich kritischer.

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de


Kowalczuk bediene mit seiner „Strategie des halben Blicks“ nur den „aktuellen Hype: da der Schuld-Westen, dort der Opfer-Osten“, so Geipel, die auch Mitbegründerin des „Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR“ ist. Gleichwohl hält die Zeit des Bilanzziehens unvermindert an. Sie mündet dabei vor allem in einer Frage: Wie wirkt sich eine sogenannte „Übernahme“, oder anders gesagt: der Beitritt der DDR (nach Artikel 23 des alten Grundgesetzes), auf das heutige Deutschland aus?

„Kulturelle Hegemonie“ und fehlende „Ost-Eliten“

Dabei rückte Kowalczuk den Blick auch auf eine westdeutsche ‚Vorherrschaft’ im Kulturbetrieb des seit 30 Jahren vereinten Deutschlands. Diese Erkenntnis war zwar schon damals nicht neu, gewann aber mehr und mehr an Relevanz im öffentlichen Diskurs. Jene ‚West-Dominanz’ nannte Kowalczuk „kulturelle Hegemonie“, geprägt von fehlenden „Ost-Eliten“ und einer damit verbundenen „Abwertung“ ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler.

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de


Dabei meint der wissenschaftlich eher umstrittene Begriff „Eliten“ (vgl. Waldmann 1998, S. 113–116) Personen, die in Institutionen oder Organisationen aufgrund ihrer (Leitungs-)Funktion und der daraus resultierenden Macht einen gesellschaftspolitischen Einfluss besitzen. „Ost-Eliten“ sind hierbei jene, die in der DDR geboren oder nach dem 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern oder Ostberlin geboren und/oder aufgewachsen sind und deren Eltern aus der DDR stammen.

Eine ‚West-Vorherrschaft’ im Märchenfilm nach 1990?

Zwar gibt es einige wenige Statistiken, die den Anteil der Ostdeutschen an den gesamtdeutschen Eliten bemessen (vgl. Kollmorgen 2021), doch gilt landläufig die Meinung, dass sich ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler „im vereinten Vaterland noch am besten behauptet“ haben (Eckert 2021, S. 283).

Dennoch finden sich selten valide Erhebungen, die sich tiefergehend dem Kulturbetrieb, zum Beispiel der Filmbranche widmen. Schon gar nicht dem bundesdeutschen Märchenfilm, der aber vor dem Hintergrund der 40-jährigen DDR-Märchenfilmgeschichte und des anhaltenden gesamtdeutschen Märchenfilmbooms seit Mitte der 2000er-Jahre einen näheren Blick lohnt und Fragen aufwirft.

Gibt es heute (oder immer noch) eine sogenannte „Repräsentationslücke“ (Kollmorgen 2021, S. 231) von DDR-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern, oder umgekehrt gefragt eine ‚West-Vorherrschaft’, im bundesdeutschen Märchenfilm nach 1990? Und wenn ja, wie groß ist diese, was sind hierfür die Gründe und folgen daraus unmittelbare Defizite?

Die Abwicklung von DFF und DEFA

Als die DEFA, das ehemalige staatliche Filmstudio der DDR, 1992 von der Treuhandanstalt an einen französischen Mischkonzern verkauft wird, blickt es in seiner über 45-jährigen Geschichte auf etwa 40 Schauspieler-Märchenkinofilme zurück. Zudem produziert die DEFA für den staatlichen Deutschen Fernsehfunk (DFF, 1956–1971, 1990–1991) bzw. das Fernsehen der DDR (1972–1990) etwa 20 Märchenfernsehfilme bzw. -spiele.

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG


Ihr künstlerisches Niveau, lobenswerte Leistungen der Schauspielstars und dramaturgisch gut durchdachte Geschichten machten viele der Märchenadaptionen – trotz einer mal mehr, mal weniger durchschimmernden Ideologie – damals wie heute zu Filmklassikern, die sogar in den Westen exportiert und dort in TV und Kino gezeigt wurden. Dennoch fielen mit der Abwicklung von DEFA und DFF schlagartig zwei Institutionen weg, die diese Märchenfilme produzierten. Das daran beteiligte künstlerische Personal verlor von heute auf morgen seine gesicherte Existenz.

Neuanfang in unbekanntem Produktionsmarkt

„Das Telefon stand plötzlich still“, erinnerte sich später der Filmkomponist Peter M. Gotthardt in einem Interview an die Nachwendezeit – und meinte damit die ausbleibenden Aufträge. Gotthardt, der mit der Filmmusik zu „Die Legende von Paul und Paula“ (DDR, 1973, R: Heiner Carow), aber auch zum DEFA-Märchenfilm „Schneeweißchen und Rosenrot“ (DDR, 1979, R: Siegfried Hartmann) zu den wichtigsten DDR-Filmkomponisten zählte, schaffte den Neuanfang in einem gänzlich unbekannten Produktionsmarkt mit hohem Konkurrenzdruck. Vielen anderen Kolleginnen und Kollegen gelang das allerdings nicht.

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR


Das hatte auch damit zu tun, dass sich – auf das Märchenfilmgenre bezogen – die Nachfolger des DFF, die 1992 neu gegründeten ARD-Landesrundfunkanstalten Mitteldeutscher Rundfunk (MDR) und Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB, seit 2003: Rundfunk Berlin-Brandenburg, kurz: RBB) erst einmal neu aufstellen mussten (vgl. Wiedemann 2017, S. 215). Die Produktion neuer Märchenfilme stand nicht auf der Tagesordnung. Das künstlerische DEFA-Märchenfilmerbe schien vorerst niemanden zu interessieren.

Einige ‚Überläufer’ in Fernsehen und Kino

Mit wenigen Ausnahmen: MDR und ORB übernahmen 1992 gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem Sender Freies Berlin (SFB) die Endproduktion von „Sherlock Holmes und die sieben Zwerge“ (TV-Erstausstrahlung: 10.5.1992). Gedreht wurde die 8-teilige Fantasy-Serie nach Motiven der Brüder Grimm noch von der bereits abgewickelten DEFA-Studio Babelsberg GmbH (vgl. Wiedemann 2015, S. 9).

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB


Der Filmstab gehörte fast ausschließlich zum früheren DEFA-Personal: Die Regie übernahm der ehemalige DDR-Regisseur Günter Meyer (u. a. „Spuk unterm Riesenrad“, 1978), der bis Anfang der 2000er-Jahre weiter Akzente im Fantasy-Fach setzte.

Zudem starteten sogenannte ‚Überläufer’ wie „Das Licht der Liebe“ (DDR/D 1991) und „Olle Hexe“ (DDR/D 1991), die bereits vor dem 3. Oktober 1990 abgedreht, aber erst danach im gesamtdeutschen Kino uraufgeführt wurden.

Stabile Strukturen und Netzwerke im Westen

Der frühe gesamtdeutsche Märchenfilm nach 1990 wurde dennoch von den Akteurinnen und Akteuren in den etablierten alten Bundesländern geprägt. Hier gab es Strukturen und Netzwerke, die über Jahrzehnte gewachsen waren und sich weiter als stabil erwiesen. So führte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) Anfang der 1990er-Jahre seine Reihe „Die Welt des Märchens“ fort. Darin verfilmte der öffentlich-rechtliche Sender in Koproduktion mit der ČSSR (später: ČSFR und ČZ) sowie westeuropäischen Fernsehanstalten bekannte Märchen für Kino und TV.

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF


Opulente Produktionen wie „Dornröschen“ (ČSSR/D/F 1990), „Der Reisekamerad“ (ČSSR/D/F/I/AT 1990), „Der Froschkönig“ (ČSFR/D/F/I 1991), „Schneewittchen und das Geheimnis der Zwerge“ (ČSFR/D/I/ES 1992) oder „Des Kaisers neue Kleider“ (ČZ/D/ES/I 1994) rekrutierten ihr Personal dabei ausschließlich aus populären westdeutschen Schauspielstars, wie Iris Berben, Judy Winter, Michael Degen oder Harald Juhnke, und tschechoslowakischen Filmschaffenden.

Ebenso verfuhr die ARD, die „Das Zauberbuch“ (ČZ/D 1996) mitproduzierte, oder der Bayerische Rundfunk (BR), der sich an „Der Feuervogel“ (ČZ/D 1997) und „Die Seekönigin“ (ČZ/D 1998) beteiligte. Ostdeutsches Personal war auch hier, aufgrund der beteiligten westdeutschen Landesrundfunkanstalt (BR), so gut wie nicht vertreten.

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF


Für westliche Entscheidungsträgerinnen und -träger in ARD und ZDF kamen Ostdeutsche auch deshalb nicht infrage, weil etwaige künstlerische Positionen in den TV-Redaktionen oder Filmstäben ohnehin bereits besetzt waren. Eine Neu- oder Umverteilung war nicht gewollt.

Ostdeutsche Aspirantinnen und Aspiranten wurden nicht zuletzt diskreditiert („Bolschewistenfunk“), weil sie nach Ansicht der westdeutschen Elite mit ihrer (künstlerischen) Arbeit das DDR-Regime direkt oder indirekt gestützt hätten. Und das, obwohl nach dessen Ende das DEFA- und DFF-Personal über berufliche Qualifikationen und notwendiges Fachwissen verfügte.

Lichtblick am Ende der 1990er-Jahre

Da wirkte es wie eine große Überraschung als Ende der 1990er-Jahre der frühere DEFA-Regisseur Rolf Losansky „Hans im Glück“ (D 1999) vorlegte – und dabei auf ein proportional ausgeglichenes hochkarätiges Ost-West-Schauspielensemble zurückgriff. Der Grund dafür mag darin gelegen haben, dass den von der Westberliner Genschow-Film GmbH produzierten Märchenfilm neben dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) auch der in Potsdam ansässige ORB und der 1997 im thüringischen Erfurt gestartete ARD-/ZDF-Kinderkanal (seit 2012: KiKA) mitfinanzierte, für den der MDR bis heute verantwortlich ist.

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film


Und auch wenn der Posten des KiKA-Programmgeschäftsführers von 1997 bis 2017 mit westdeutsch sozialisierten männlichen Entscheidungsträgern besetzt wurde (seit 2018: Astrid Plenk aus Bernburg/Sachsen-Anhalt), ist es denkbar, dass sich schon Ende der 1990er-Jahre die Redaktionen zum Teil aus ostdeutschem Personal zusammensetzten – und sich dieser Umstand auf die Märchenfilm-Produktionsplanung (Regie, Drehbuch, Schauspiel etc.) auswirkte.

Märchen-Parodien in Kino und TV für Erwachsene

Dennoch ging von „Hans im Glück“ vorerst keine Trendwende aus. Schlichtweg aus dem einfachen Grund, weil das deutsche Märchenfilmgenre Anfang der 2000er-Jahre keine wichtigen Adaptionen nach Grimm, Andersen und Co. für ein Kinderpublikum produzierte. Fragen nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ spielten deshalb vorerst noch keine Rolle.

Gleichwohl war das Märchen weiter präsent: als Parodie in Kino und TV für Erwachsene. So funktionierten die von Otto Waalkes mitproduzierten Filmkomödien „7 Zwerge – Männer allein im Wald“ (D 2004) und „7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug“ (D 2006) an den Kinokassen. Und im Privatsender ProSieben flimmerte „Die Märchenstunde“ (D/AT/ČZ 2006–2012) der Rat Pack Filmproduktion (München) über die Bildschirme.

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures


Hier wie dort griffen die Filmverantwortlichen auf westdeutsches Personal zurück, das vor oder hinter der Kamera agierte, wenn man von wenigen im Osten geborenen Schauspielstars (Nina Hagen, Mirco Nontschew, Jeanette Biedermann etc.) einmal absah.

„Sechs auf einen Streich“ und „Märchenperlen“

Ab Mitte der 2000er-Jahre erlebte der Märchenfilm im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von ARD und ZDF ein Comeback. Die meist an den Weihnachtsfeiertagen erstmalig gezeigten Adaptionen der Reihen „Märchenperlen“ (ZDF, seit 2005, auch Koproduktionen) und „Sechs auf einen Streich“ (ARD, seit 2008) richteten sich dabei sowohl an ein Kinder- als auch Familienpublikum.

Dafür gründete die Kinder- und Jugendredaktion des ZDF Anfang der 00er-Jahre eine Art ‚Think Tank’, dem auch der Münchner Filmproduzent Ernst Geyer angehörte. Die Denkfabrik sollte eine Konzeption für zunächst sechs Märchenfilme entwickeln. Darin wurden auch fünf Drehbuchautoren und eine Drehbuchautorin aus den alten Bundesländern berufen. Mitfinanziert wurden die ersten vier Märchenfilme (2005–2008) neben der Länderförderung Bayern und Hamburg von der in Leipzig ansässigen Mitteldeutschen Medienförderung (vgl. Ungureit 2009, S. 10f.).

Ostdeutsche im ARD- und ZDF-Märchenfilm

Um tendenzielle Aussagen darüber zu treffen, ob und wie viele DDR-sozialisierte Filmemacherinnen und -macher das bundesdeutsche Märchengenre mitpräg(t)en, soll der Blick stichprobenartig auf die Bereiche Regie und Drehbuch gelenkt werden.

Bis 2021 drehte das ZDF 19 Märchenfilme*, an denen insgesamt 13 Regisseure (10) und Regisseurinnen (3) beteiligt waren. Davon sind zwei (15 Prozent)** im Osten geboren: Karola Hattop, die seit 1973 Kinder- und Familienfilme für das DDR-Fernsehen und später für das ZDF zwei Märchenfilme („Die sechs Schwäne“, 2012 und „Die Schneekönigin“, 2014) inszenierte, sowie Carsten Fiebeler („Die goldene Gans“, 2013), der erst nach der Wende als Regisseur arbeitete. Koproduziert wurden diese drei ZDF-Märchenfilme von der im Jahr 2000 im thüringischen Erfurt gegründeten Kinderfilm GmbH (später: Mideu Films GmbH).

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans


Anders als beim ZDF verteilt sich die Produktion der ARD-Märchenfilme auf die neun Landesrundfunkanstalten. Die in der DDR geborene ehemalige RBB-Mitarbeiterin Sabine Preuschhof koordinierte die Reihe „Sechs auf einen Streich“ in den ersten Jahren. Werden die 52 ARD-Adaptionen bis 2021 im Hinblick auf Ost-West-Besetzung ausgewertet, zeigt sich folgendes Bild: Von insgesamt 26 Regisseuren (20) und Regisseurinnen (6) haben fünf (19 Prozent) eine Ost-Sozialisation**.

Fürneisen und Fiebeler gehören zu Top-Regisseuren

Darunter ist Bodo Fürneisen, der bei fünf ARD-Märchenfilmen auf dem Regiestuhl sitzt – er wird nur übertroffen vom westdeutschen Regisseur Christian Theede mit sechs NDR-Adaptionen. Fürneisen hatte bereits für das DDR-Fernsehen die Klassiker „Die Geschichte vom goldenen Taler“ (DDR 1985) sowie „Die Weihnachtsgans Auguste“ (DDR 1988) inszeniert. Fiebeler kommt insgesamt auf vier ARD-Adaptionen und zeigt, dass man in ZDF und ARD erfolgreich Märchen verfilmen kann.

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR


Dabei verantwortet die fünf Fürneisen-Märchenfilme und eine Fiebeler-Adaption die in Potsdam ansässige Landesanstalt RBB. Fiebelers drei andere ARD-Verfilmungen entstehen zwar unter Federführung der westdeutschen Anstalten Hessischer Rundfunk (HR) bzw. Südwestrundfunk (SWR), werden aber zum Teil von der Kinderfilm GmbH produziert: „Das blaue Licht“ (D 2010).

Nur wenige ‚ostdeutsche’ Märchenfilm-Drehbücher

Bei zwei weiteren mit Osthintergrund (Regie) gedrehten Filmen ist neben Radio Bremen (RB), dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem HR auch der MDR als Koproduzent vertreten. Einen weiteren Märchenfilm verantwortet die in Leipzig ansässige Landesanstalt ganz allein, wobei zudem die Kinderfilm GmbH das Märchen im Auftrag des MDR produziert.

Im Hinblick auf eine Ost-West-Sozialisation von Drehbuchautorinnen und -autoren im ZDF- und ARD-Märchenfilm zeigt sich ein ähnliches Bild: Von insgesamt 17, die an den „Märchenperlen“ beteiligt sind, hat nur ein Drehbuchschreiber (6 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Dieser ist aber an drei ZDF-Märchenfilmen beteiligt. Bei den ARD-Produktionen haben von insgesamt 28 Autorinnen und Autoren vier (14 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Zwei davon arbeiten allerdings gleich an drei Märchenfilmen mit.

Von „Das kalte Herz“ zu „Timm Thaler“

Einzelne Kinofilme in den 2010er-Jahren wie die Filmmärchen „Aschenbrödel und der gestiefelte Kater“ (D 2013) und „Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte“ (D 2013, koproduziert vom BR), aber auch das nach einer klassischen Vorlage entstandene „Das kalte Herz“ (D 2016, koproduziert u. a. von ARD/MDR/SWR und mitfinanziert u. a. von Mitteldeutsche Medienförderung und Medienboard Berlin-Brandenburg) entstehen wieder weitgehend mit westdeutsch sozialisierten Filmschaffenden, wobei letztere Märchenverfilmung mit André M. Hennicke und Jule Böwe zwei ostdeutsch sozialisierte Schauspielstars engagiert.

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH


Eine Ausnahme stellt die fantastische Romanverfilmung „Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen“ (D 2017) dar, die u. a. von den im thüringischen Gera geborenen Andreas Dresen (Regie) und Jörg Hauschild (Schnitt) sowie von der aus Potsdam stammenden Sabine Greunig (Kostüme) inszeniert wurde. Ostdeutsche wie Charly Hübner, Nadja Uhl, Reiner Heise oder Steffi Kühnert, aber auch die westdeutschen Schauspieler Justus von Dohnányi, Axel Prahl oder Bjarne Mädel machten den u. a. vom ZDF koproduzierten Kinofilm zu einem gesamtdeutschen Projekt.

Ostanteil proportional zur Gesamtbevölkerung

Demnach sind seit 1990 in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden, die entweder vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ARD, ZDF) oder von freien Produktionsfirmen hergestellt wurden. Doch untermauern die Statistiken und Filmbeispiele die These, dass es im bundesdeutschen Märchenfilm heute noch eine „Repräsentationslücke“ von DDR- oder ostdeutsch-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern gibt?

Vor dem Hintergrund, dass etwa 17 Prozent aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger ostdeutscher Herkunft sind (vgl. Kollmorgen 2021, S. 235) und diese Zahl als Vergleichsgröße gilt, wirkt der Regieanteil im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von 19 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“) und 15 Prozent (ZDF: „Märchenperlen“) sowie der Drehbuchanteil von 14 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“)** relativ proportional. Nur der ‚ostdeutsche’ Drehbuchanteil am ZDF-Märchenfilm von 6 Prozent ist unterproportional.**

Die Zahlen zeigen zudem wenig überraschend, wenn die beiden ‚Ost-Landesanstalten’ RBB und MDR an Märchenfilmen der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ beteiligt sind, werden für die Posten Drehbuch und Regie ebenso ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler interessant. Zudem wirkt sich die Beteiligung ostdeutscher Produktionsfirmen, beispielsweise der „Kinderfilm-GmbH“, auf den Anteil im Osten sozialisierter Akteure und Akteurinnen aus.

ARD-Landesanstalten mit ‚Lokalpatriotismus’

Dennoch lässt das nicht pauschal den Schluss zu, die in Thüringen bzw. Sachsen-Anhalt ansässige Firma arbeite vorrangig mit ostdeutschem Personal, im Unterschied zu im Westen ansässigen Produktionsfirmen.

Dafür spricht, dass „Kinderfilm“ auch ZDF-Märchenfilme verantwortete, die eine westdeutsche Regisseurin (Anne Wild: „Hänsel und Gretel“, 2006) oder einen westdeutschen Regisseur (Frank Stoye: „Der Zauberlehrling“, 2017; „Der süße Brei“, 2018) rekrutierten. Das gilt auch für die von „Kinderfilm“ produzierten ARD-Märchenfilme „König Drosselbart“ (D 2008), „Die Gänsemagd“ (D 2009) und „Rotkäppchen“ (D 2012) – alle in der Regie der Münchnerin Sibylle Tafel.

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland


Trotzdem scheint es, dass „Kinderfilm“ – im Gegensatz zu im Westteil Deutschlands ansässigen Produktionsfirmen – ein Stück weit sensibilisierter mit der Rekrutierung von Filmschaffenden umgeht. Andererseits kann dem Unternehmen, wie auch einigen ost- und westdeutschen ARD-Landesrundfunkanstalten allgemein vorgehalten werden, dass sie einen ‚Lokalpatriotismus’ bedienen, das heißt: vor allem Filmschaffende engagieren, die auf dem Gebiet der jeweiligen Rundfunkanstalt oder eines Bundeslandes leben und für den Sender bereits arbeiten.

Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Wenn RBB und MDR keine oder weniger im Osten sozialisierte Künstlerinnen und Künstler rekrutieren würden, lägen die Anteile bei Regie und Drehbuch deutlich unter dem erwähnten quantitativen Minderheitenstatus der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung (17 Prozent). Denn die anderen sieben im Westen ansässigen Landesanstalten NDR, RB, WDR, HR, SWR, BR und Saarländischer Rundfunk (SR) würden das mit dem von ihnen engagierten Ostpersonal nicht auffangen.

Die ostdeutsche Übernahme

Doch wie wirkt sich der Ost-Regieanteil von 19 bzw. 15 Prozent sowie -Drehbuchanteil von 14 bzw. 6 Prozent auf die öffentlich-rechtliche Märchenfilmproduktion** aus? Folgen daraus unmittelbare Defizite?

Glaubt man Josef Göhlen, ehemaliger Leiter des Kinderprogramms beim HR und ZDF, so ist es genau umgekehrt: Der heutige bundesdeutsche Märchenfilm ist eigentlich ein DEFA-Märchenfilm 2.0. Denn für Göhlen orientieren sich die ARD- und ZDF-Märchen „an einer tradierten Märchendramaturgie, wie sie seinerzeit insbesondere von der ostdeutschen Produktionsfirma DEFA gepflegt wurde“ (Gangloff 2016, S. 8f.). Damit meint er, dass darin die Armen und Unterdrückten immer zu den im ethischen Sinn Guten, die Reichen dagegen durchgehend zu den Bösen zählten. Er halte es für einen großen Fehler, diese Dramaturgie nachzuahmen.

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR


Die Schweizer Filmkritikerin Christine Lötscher meint, dass sich die ARD- und ZDF-Adaptionen zudem gestalterisch „an der historisierenden Ästhetik der DEFA-Märchenfilme“ (Lötscher 2017, S. 310) orientieren. Und: Wie den DDR-Produktionen liege dem öffentlich-rechtlichen Märchenfilm „eine Analyse und Interpretation der Textvorlage zugrunde; die zeitlosen Konflikte der Figuren werden konkretisiert, psychologisiert und in die Gegenwart übertragen“ (ebd. S. 311). Allerdings gelinge es eher selten, den ganz eigenen Zauber der DEFA-Filme zu reproduzieren.

Daraus wäre auf die hier diskutierte Frage zu schließen, dass sich seit 1990 keine westdeutsche „Übernahme“ in der gesamtdeutschen Märchenfilmproduktion, sondern umgekehrt eine ostdeutsche „Übernahme“ vollzogen hat – wenn auch ‚nur’ in dramaturgischer und gestalterischer Hinsicht.

Diversität: Frauenanteil und Migrationshintergrund

Gleichwohl bleibt damit die Frage nach einer angemessenen personellen ostdeutschen Teilhabe in der bundesdeutschen Märchenfilmproduktion bestehen. Flankiert wird sie allerdings im 21. Jahrhundert mit der Forderung nach einer generellen Diversität in diesem Filmgenre: Die stichprobenartigen Statistiken zeigten beispielsweise, dass der Frauenanteil – nicht nur im Regie- und Drehbuchfach – sehr gering ist.

Zudem sind Filmschaffende mit Migrationshintergrund noch Ausnahmen. Der deutsch-türkische Regisseur Cüneyt Kaya („Das Märchen vom goldenen Taler“, 2020), der in Istanbul geborene Regisseur und Drehbuchautor Su Turhan („Die drei Federn“, 2014; „Prinzessin Maleen“, 2015; „Der starke Hans“, 2020) oder der in Vietnam geborene Kameramann und Regisseur Ngo The Chau (u. a. „Die Hexenprinzessin“, D/CZ, 2020) sind drei Beispiele. Ebenso lassen sich hier der Finne Hannu Salonen („Des Kaisers neue Kleider“, 2010) oder die in Stockholm geborene deutsche Regisseurin Maria von Heland („Die Sterntaler“, 2011; „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, 2013) nennen.

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein


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DDR reloaded: Der identitätsstiftende DEFA-Märchenfilm

Die Frage nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ im deutschen Märchenfilmgenre sollte deshalb um andere Gruppen (Frauen, Migrationshintergrund) in den nächsten Jahren erweitert werden. Um das personelle Defizit ausgeglichener zu gestalten, braucht es nicht unbedingt starre Quotenregelungen. Dafür sensibilisierte Filmschaffende in den Chefinnen- und Chefetagen wären schon einmal ein Anfang.

* Ohne den Märchenfilm „Zwerg Nase“ (D, 2008, R: Felicitas Darschin). Dieser entstand im Auftrag des BR, wird aber zu den ZDF-„Märchenperlen“ gezählt, obwohl der Sender nicht daran beteiligt war.

** Die Herkunft der Filmschaffenden wurde in öffentlichen Quellen (Internet, Fachmedien) recherchiert und/oder individuell bei den Künstlerinnen und Künstlern angefragt (E-Mail). Da nicht zu allen Filmschaffenden die Herkunft recherchiert werden konnte, können die Zahlen prozentual leicht abweichen (Stand: 24.3.2022).

Verwendete Quellen:


Headerfoto: Die kluge Bauerntochter (BRD 2010): Die Titelfigur (Anna Maria Mühe, l.) und ihre Freundin die Magd (Sabine Krause) bestaunen das Fernrohr des Königs / Foto: MDR/Sandy Rau

Das Märchen von der silbernen Brücke (2024): Die Märchenfiguren wünschen sich wieder in ihre Märchenwelt / © rbb/Hardy Spitz

Kein dickes Ende: Das Märchen von der silbernen Brücke (D 2024)

Die Geschichte zweier Kinder, die die Märchenwelt retten wollen, ist als Buch schon in der DDR der 1950er-Jahre populär. Sogar die DEFA beschäftigt sich mit dem Stoff. Jetzt hat ihn die ARD verfilmt.

Es herrschen dunkle Zeiten in Deutschland, als Hertha Vogel-Voll (1898–1975) ihr Theaterstück „Verwunschen, verzaubert“ erstmals im Jahr 1937 veröffentlicht. Das merkt besonders der Verlag, der das schmale Heftchen herausbringt: Es ist das jüdische Verlagshaus S. Fischer, das nur mit Mühe eine von den Nationalsozialisten betriebene „Arisierung“ abwenden kann.

Vogel-Volls Bühnenspiel in vier Akten erzählt vom Märchen, in Gestalt einer schönen Frau, dem die blaue Blume geraubt wird, woraufhin auch die Geschichten und ihre Märchenfiguren verschwinden. Doch Kinder suchen zusammen mit vermeintlich Angst einflößenden, aber eigentlich hilfsbereiten Märchenfiguren (Teufel, Menschenfresser, Hexe, Wolf) die Blume „zwischen Himmel und Erde“ und erwecken sie mit dem Zauberwort „Es war einmal“ wieder zum Leben.

Zweifel in einer modernen, dem Märchen ablehnend gegenüberstehenden Welt, gläubige Hoffnung, aber auch tiefe Zuversicht bestimmen demnach die Handlung der Geschichte.

„Die silberne Brücke“ als Märchenbuch

Hans Fallada: "Geschichten aus der Murkelei" (1947)

Hans Fallada: „Geschichten aus der Murkelei“ (1947)

In den Nachkriegsjahren bleiben diese und ähnliche Erzählmuster weiter gefragt, weil es anfangs Vorbehalte gegenüber den klassischen Grimm’schen „Kinder- und Hausmärchen“ gibt – mit ihren grausamen, sadistischen Vergeltungspraktiken. So nimmt in der Sowjetischen Besatzungszone die moderne Märchenliteratur, zum Beispiel von Hans Fallada („Geschichten aus der Murkelei“, 1947) oder eben Hertha Vogel-Voll, vorerst deren Platz ein.

Denn die in Dresden lebende Autorin überarbeitet ihr Theaterstück und bringt es als längeren Prosatext heraus, jetzt unter dem Titel „Die silberne Brücke“, allerdings bei Privatverlagen (1949, Ehlermann-Verlag; 1951, Peter-Paul-Verlag; 1956, Altberliner Verlag). Im Gegensatz zum Bühnenmanuskript nimmt sie das Geschwisterpaar Rose und Heinrich neu in die Handlung auf.

Beide erleben – als zur Identifikation einladende Figuren – auf ihrer Suchwanderung einige Abenteuer, wobei freilich viele bekannte Märchenmotive auftauchen (die „blaue Blume“ als Symbol der Romantik, der „fliegende Koffer“ als fantastisches Reisevehikel oder das „Rad der Zeit“), aber auch christliche verwendet werden (das „Heilige Feuer“, ein Phänomen am Ort der Auferstehung Christi, durch das Heinrich und Rose mit „goldenen Flügeln“ fliegen).

Schlechte Kritiken, gute Kritiken

Hertha Vogel-Voll: "Die silberne Brücke" (1951)

Hertha Vogel-Voll: „Die silberne Brücke“ (1951)

Die zeitgenössische Kritik bemängelt daher die eigentlich „nicht neu[e] Fabel“, vor allem aber die vielen Nebenfiguren und unüberschaubare Handlung, die „fast zu aufdringlich für die stille Fabel des Buches […] scheinen wollen“. Und: „Bei aller Märchenfreudigkeit ist hier des Guten zu viel getan“ (Neue Zeit, 28.9.1952, S. 3).

Dennoch gehören Vogel-Volls Geschichten, vor allem ihre nachfolgende Erzählsammlung „Das blaue Wunder“ (1956), das „Die silberne Brücke“ enthält, zu den populären Kunstmärchen dieses Jahrzehnts („ausgezeichnete[s] Märchenbuch“, Berliner Zeitung, 25.5.1957, S. 3). Dazu passt, dass sich sogar die Deutsche Film-AG, kurz: DEFA, das staatliche Filmstudio der DDR, mit „Die silberne Brücke“ beschäftigt (vgl. Gutachten etc. 1955).

Doch so schnell wie der Stern der Autorin am Kunstmärchenhimmel der DDR aufgeht, so schnell erlöscht er auch wieder. Denn ihre Geschichten und die darin enthaltenen christlichen Motive und Botschaften passen später offenbar nicht mehr zu der Forderung nach neuen Märchen „mit sozialistischem Inhalt [und] zukunftsträchtiger Phantasie“, wie sie z. B. der Kinderbuchverlag verlegt (vgl. Wardetzky 2006, Sp. 581).

Hertha Vogel-Voll gerät danach in Vergessenheit. Doch ihr Märchen „Die silberne Brücke“ erlebt in den 1990er- und 2000er-Jahren ein kleines Comeback und wird auf Hörspielkassette, als Rundfunkhörspiel und Märchenbuch veröffentlicht. Nun, fast 50 Jahre nach dem Tod der Autorin, verfilmt die ARD das Märchen für ihre Weihnachts-Reihe „Auf einen Streich“.

ARD verfilmt „Die silberne Brücke“

Das Drehbuch schreibt Enrico Wolf, Regie führt Cüneyt Kaya. Beide haben schon bei „Das Märchen vom goldenen Taler“ (D 2020) zusammengearbeitet, dessen Vorlage – wie es der Zufall will – ebenso in den 1930er-Jahren erstmals erscheint. Wolf übernimmt aus der Vorlage für „Die silberne Brücke“ nur einige Motive und streicht das episch breit erzählte Originalmärchen rigoros zusammen. Dennoch bleiben wichtige Figuren und einige Botschaften erhalten.

Rose (Alma von Aulock) und Heinrich (Leo Alonso-Kallscheuer) streunen auf dem Markt herum / © rbb/Hardy Spitz

Rose (Alma von Aulock) und Heinrich (Leo Alonso-Kallscheuer) streunen auf dem Markt herum / © rbb/Hardy Spitz


So ist es in der Verfilmung ebenso das Geschwisterpaar Rose und Heinrich – gespielt von Alma von Aulock und Leo Alonso-Kallscheuer („Rapunzel und die Rückkehr des Falken“, D/CZ 2023) –, das sich aufmacht, die Märchenwelt vor dem Verschwinden zu retten. Neu ist dagegen, dass immer weniger Geschichten (vor)gelesen werden, auch weil die Eltern (Luise Wolfram, Peter Schneider) immer weniger Zeit für ihre Kinder haben.

Eine Situation, die nicht nur im Märchen, das im 19. Jahrhundert spielt (Kostümbild: Bettina Weiß), sondern auch Familien aus der Gegenwart allzu bekannt erscheinen wird.

Worüber erzählt der ARD-Märchenfilm?

Eines Tages entdecken die Geschwister ein achtlos weggeworfenes und verblichenes Märchenbuch, aus dem plötzlich die Märchenfiguren Teufel (Detlev Buck), Hexe (Christina Große), Schneewittchen (Ceci Chuh), Rotkäppchen (Stephanie Amarell) und Rumpelstilzchen (Rauand Taleb) herauspurzeln. Dann verliert das magische Buch seine letzte Kraft.

Die fünf Märchenfiguren landen unverhofft in der Menschenwelt bei einer Bäckerfamilie / © rbb/Hardy Spitz

Die fünf Märchenfiguren landen unverhofft in der Menschenwelt bei einer Bäckerfamilie / © rbb/Hardy Spitz


Gefangen zwischen Märchenbuch und Menschenwelt schicken die Märchenfiguren die beiden Geschwister los, um die wundersame silberne Brücke zu finden. Nur sie führt in den Märchenwald, in dem die Fee Liebegüte (Johanna Gastdorf) lebt, deren geheimnisvolles Rad der Zeit das Märchenbuch und die Märchen sowie ihre Figuren retten kann.

Von „Arabella“ bis „Shrek“

Was hier gleich auffällt: „Das Märchen von der silbernen Brücke“ versteht sich als Gegenstück zum klassischen Prinz-und-Prinzessin-Märchenfilm, spielt es doch mit Genrekonventionen, nimmt – in Kombination mit Parodie – Klischees aufs Korn und setzt auf ironischen Wortwitz und Einfallsreichtum.

Populäre Beispiele aus der Filmgeschichte, die ähnlich funktionieren, sind „Arabella und der Zauberer“ (auch: „Die Märchenbraut“, BRD/ČSSR 1979–1981), „Spuk unterm Riesenrad“ (DDR 1979), „Shrek“ (USA 2001–2022), „Die ProSieben Märchenstunde“ (D/AT/CZ 2006–2012) oder „Aschenbrödel und der gestiefelte Kater“ (D 2013).

Die Märchenfiguren Schneewittchen (Ceci Chuh), Rotkäppchen (Stephanie Amarell) und Rumpelstilzchen (Rauand Taleb) überlegen, wie sie die traurigen Eltern von Rose und Heinrich aufmuntern können ... / © rbb/Hardy Spitz

Die Märchenfiguren Schneewittchen (Ceci Chuh), Rotkäppchen (Stephanie Amarell) und Rumpelstilzchen (Rauand Taleb) überlegen, wie sie die traurigen Eltern von Rose und Heinrich aufmuntern können … / © rbb/Hardy Spitz


... deshalb backen sie den Eltern (Luise Wolfram, Peter Schneider) heimlich zwei Lebkuchen-Kinder  / © rbb/Hardy Spitz

… deshalb backen sie den Eltern (Luise Wolfram, Peter Schneider) heimlich zwei Lebkuchen-Kinder / © rbb/Hardy Spitz


Auch hier wird „eine ganze Menagerie bekannter Märchenfiguren auf den Plan gerufen, um die geordnete Welt der Märchen durcheinanderzuwirbeln“ (Liptay 2004, S. 133). Zudem spielt die Handlung mit dem Märchen- bzw. Fantasyfilm-Wissen des Publikums, Wiedererkennungseffekt inklusive.

So trällert Schneewittchen in „Das Märchen von der silbernen Brücke“ ein Lied, das hörbar an seinen Auftritt in Disneys „Snow White and the Seven Dwarfs“ (USA 1937) erinnert und Rotkäppchen gerät zur Superheldin wie aus „Marvel“-Filmen (USA 2008) – was Musik (Marian Lux) und Kameraführung (Nikita Romanov) unterstützen.

Hexe, Teufel und das Dicke Ende

Indes erschließen sich solche (intertextuellen) Verweise meist nur dem erwachsenen Publikum; das kindliche Stammpublikum wird dabei aber nicht vergessen. Das findet vor allem Spaß am gut aufgelegten und sich Wortgefechte liefernden Figuren-Paar Hexe und Teufel – grandios gespielt von Große und Buck –, die Rose und Heinrich auf ihrem Weg begleiten, und für einige komische Momente sorgen.

Teufel (Detlev Buck) und Hexe (Christina Große) begleiten die Kinder auf dem gefährlichen Weg / © rbb/Hardy Spitz

Teufel (Detlev Buck) und Hexe (Christina Große) begleiten die Kinder auf dem gefährlichen Weg / © rbb/Hardy Spitz


Der Auftritt der Figur „Das Dicke Ende“, ein Ungeheuer aus der Vorlage, das hier äußerlich an einen Oger erinnert, sorgt dagegen für Spannung und Grusel. Im Märchenfilm ist es den beiden Kindern auf der Spur und will unbedingt verhindern, dass die Märchen und seine Figuren zurückkommen.

Erstes ARD-Märchenfilm-Monster

Es ist im Übrigen das erste computeranimierte Monster in der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ mit seinen bislang 57 Märchenfilmen. Entworfen und zum Leben erweckt hat es das Team um Caou Reinbach, Nico Mählis sowie Melchior und Richard Sako von der Berliner Firma Projector23.

Dass die Animation und andere visuelle Effekte (VFX) – wie die titelgebende, sich langsam wie durch Zauberhand versilbernde Brücke oder das an ein überdimensionales Uhrwerk erinnernde, goldglänzende, magische Rad der Zeit – offenbar nicht ganz billig waren, ist dem Märchenfilm ein wenig anzumerken. So gibt es zum Beispiel nur eine einzige kurze, aber meist kostenintensive Szene mit vielen Komparsen. Ansonsten ist das Figurenensemble sehr überschaubar.

Diese Einstellung ist exemplarisch für den Märchenfilm: Es gibt fast keine Komparserie / © rbb/Hardy Spitz

Diese Einstellung ist exemplarisch für den Märchenfilm: Es gibt fast keine Komparserie / © rbb/Hardy Spitz


Das Belvedere auf dem Klausberg/Potsdam: Hier residiert die Liebegüte (Aufnahme: 28.8.2011) / Quelle: Wikimedia Commons/SK49

Das Belvedere auf dem Klausberg/Potsdam: Hier residiert die Liebegüte (Aufnahme: 28.8.2011) / Quelle: Wikimedia Commons/SK49


Auch das Szenenbild (Stefanie Granitz) mag unter einem Kostendruck gestanden haben. Zwar sind, wie in allen ARD-Märchenfilmen, malerisch wirkende Bauwerke gut ins Bild gesetzt. Gemeint ist das Belvedere (1770–1772) auf dem Klausberg in Potsdam, in dem die Fee Liebegüte residiert und in dem Rose und Heinrich das Märchenrätsel im Rad der Zeit lösen müssen.

Das zerstörte Pfefferkuchenhaus

Doch als beide zuvor im hinter der silbernen Brücke liegenden Märchenwald (der wenig märchenhaft erscheint und zuletzt im ZDF-Film „Rapunzel und die Rückkehr des Falken“, D/CZ 2023, mit nachträglichen visuellen Effekten besser inszeniert ist) das zerstörte Pfefferkuchenhaus (aus „Hänsel und Gretel“) entdecken, erinnert jenes unweigerlich an Pappmaché.

Die Idee dahinter, dass das Häuschen im „imaginäre[n] Museum der Märchen“ (Liptay 2004, S. 133) seinen festen Platz hat und hier auch symbolisch für das Verschwinden der Märchenwelt steht, gerät dabei fast in den Hintergrund.

Die Liebegüte (Johanna Gastdorf) schaut durchs Fernrohr, ob alles im Märchenreich okay ist / © rbb/Hardy Spitz

Die Liebegüte (Johanna Gastdorf) schaut durchs Fernrohr, ob alles im Märchenreich okay ist / © rbb/Hardy Spitz


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Trotzdem belegt „Das Märchen von der silbernen Brücke“ in der Gesamtschau der seit 2008 produzierten ARD-Märchenfilme einen Sonderplatz, weil es die mitunter aufdringliche Süßlichkeit einiger Vorgängerverfilmungen torpediert und mittels Märchenkompilation und Parodie dem Genre auch einen Spiegel vorhält. So nimmt die Geschichte von Hertha Vogel-Voll (aber auch für sie selbst) kein dickes, sondern doch noch ein gutes Ende.

Film: „Das Märchen von der silbernen Brücke“ (D, 2024, R: Cüneyt Kaya). Erscheint am 20.12.2024 auf DVD. Ist am 1. Weihnachtstag, am 25. Dezember 2024, um 14.45 Uhr als TV-Premiere im Ersten zu sehen.

Drehorte: u. a.

  • Belvedere Klausberg, Maulbeerallee, 14469 Potsdam
  • Düstere Teiche, 14469 Potsdam-Nord
  • Friedhof Stahnsdorf, Sputendorfer Straße 30, 14532 Stahnsdorf
  • Gutshof Britz, Alt-Britz 88, 12359 Berlin-Britz
  • Scheunerei Zehlendorf, Alt-Schönow 10, 14165 Berlin-Zehlendorf
  • Südwestkirchhof Stahnsdorf, Bahnhofstraße 2, 14532 Stahnsdorf
  • Park Sanssouci, Zur Historischen Mühle 1, 14469 Potsdam

Verwendete Quellen:

  • ga.: Kunterbuntes Märchen. Hertha Vogel-Voll. „Die silberne Brücke“. In: Neue Zeit 8 (1952), Nr. 227, 28.9.1952, S. 3.
  • G.B.: Der literarische Überblick. Hertha Vogel-Voll. „Das blaue Wunder“. In: Berliner Zeitung 13 (1957), Nr. 120, 25.5.1957, S. 3.
  • Gutachten etc. „Die silberne Brücke“ (1955), DEFA-Studio für Spielfilme. In: BArch DR 117/16569 (abgerufen: 4.11.2024)
  • Liptay, Fabienne: WunderWelten. Märchen im Film. Remscheid: Gardez!, 2004 (Filmstudien Bd. 26, Hrsg. von Thomas Koebner)
  • Vogel-Voll, Hertha: Die silberne Brücke. Zeichnungen und Bezug: Erika Werner-Nestler. Feldberg/Meckl.: Peter-Paul-Verlag, 1951
  • Vogel-Voll, Hertha: Verwunschen, verzaubert. Ein Märchenspiel in vier Akten. Mit Musik von J. G. Mraczek. Berlin: S. Fischer, 1937
  • Wardetzky, Kristin: Märchen. Kunstmärchen für Kinder von Autoren der DDR. Die 50er Jahre. Nachwehen und Neubeginn. In: Steinlein, Rüdiger/Strobel, Heidi/Kramer, Thomas (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur SBZ/DDR. Von 1945 bis 1990. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 2006, Sp. 579–586.
  • [o. A.]: Märchendreh: Stahnsdorfer Friedhof wird zur Filmkulisse. In: rbb24 (vom: 24.7.2024, abgerufen: 19.11.2024)
  • [o. A.]: Pressemitteilung: rbb-Verfilmung „Das Märchen von der silbernen Brücke“ sorgt für Weihnachtszauber im Ersten. In: rbb Presse (vom: 29.10.2024, abgerufen: 19.11.2024)

  • Headerfoto: Das Märchen von der silbernen Brücke (2024): Die Märchenfiguren wünschen sich wieder in ihre Märchenwelt / © rbb/Hardy Spitz