Hervorgehobener Beitrag
Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Was ist heute vom DEFA-Märchenfilm der untergegangenen DDR übrig geblieben?

Als der Historiker llko-Sascha Kowalczuk mit „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ (2019) ostdeutsche Befindlichkeiten unter die Lupe nahm, provozierte er – dreißig Jahre nach dem Mauerfall – eine kontroverse Debatte. Lobte der 1976 von der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann in der „Berliner Morgenpost“ Kowalczuks Essay als „glänzendes Buch“ und „wahrhaftige Analyse“, so urteilte im „Deutschlandfunk Kultur“ die DDR-Ex-Leistungssportlerin Ines Geipel deutlich kritischer.

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de


Kowalczuk bediene mit seiner „Strategie des halben Blicks“ nur den „aktuellen Hype: da der Schuld-Westen, dort der Opfer-Osten“, so Geipel, die auch Mitbegründerin des „Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR“ ist. Gleichwohl hält die Zeit des Bilanzziehens unvermindert an. Sie mündet dabei vor allem in einer Frage: Wie wirkt sich eine sogenannte „Übernahme“, oder anders gesagt: der Beitritt der DDR (nach Artikel 23 des alten Grundgesetzes), auf das heutige Deutschland aus?

„Kulturelle Hegemonie“ und fehlende „Ost-Eliten“

Dabei rückte Kowalczuk den Blick auch auf eine westdeutsche ‚Vorherrschaft’ im Kulturbetrieb des seit 30 Jahren vereinten Deutschlands. Diese Erkenntnis war zwar schon damals nicht neu, gewann aber mehr und mehr an Relevanz im öffentlichen Diskurs. Jene ‚West-Dominanz’ nannte Kowalczuk „kulturelle Hegemonie“, geprägt von fehlenden „Ost-Eliten“ und einer damit verbundenen „Abwertung“ ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler.

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de


Dabei meint der wissenschaftlich eher umstrittene Begriff „Eliten“ (vgl. Waldmann 1998, S. 113–116) Personen, die in Institutionen oder Organisationen aufgrund ihrer (Leitungs-)Funktion und der daraus resultierenden Macht einen gesellschaftspolitischen Einfluss besitzen. „Ost-Eliten“ sind hierbei jene, die in der DDR geboren oder nach dem 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern oder Ostberlin geboren und/oder aufgewachsen sind und deren Eltern aus der DDR stammen.

Eine ‚West-Vorherrschaft’ im Märchenfilm nach 1990?

Zwar gibt es einige wenige Statistiken, die den Anteil der Ostdeutschen an den gesamtdeutschen Eliten bemessen (vgl. Kollmorgen 2021), doch gilt landläufig die Meinung, dass sich ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler „im vereinten Vaterland noch am besten behauptet“ haben (Eckert 2021, S. 283).

Dennoch finden sich selten valide Erhebungen, die sich tiefergehend dem Kulturbetrieb, zum Beispiel der Filmbranche widmen. Schon gar nicht dem bundesdeutschen Märchenfilm, der aber vor dem Hintergrund der 40-jährigen DDR-Märchenfilmgeschichte und des anhaltenden gesamtdeutschen Märchenfilmbooms seit Mitte der 2000er-Jahre einen näheren Blick lohnt und Fragen aufwirft.

Gibt es heute (oder immer noch) eine sogenannte „Repräsentationslücke“ (Kollmorgen 2021, S. 231) von DDR-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern, oder umgekehrt gefragt eine ‚West-Vorherrschaft’, im bundesdeutschen Märchenfilm nach 1990? Und wenn ja, wie groß ist diese, was sind hierfür die Gründe und folgen daraus unmittelbare Defizite?

Die Abwicklung von DFF und DEFA

Als die DEFA, das ehemalige staatliche Filmstudio der DDR, 1992 von der Treuhandanstalt an einen französischen Mischkonzern verkauft wird, blickt es in seiner über 45-jährigen Geschichte auf etwa 40 Schauspieler-Märchenkinofilme zurück. Zudem produziert die DEFA für den staatlichen Deutschen Fernsehfunk (DFF, 1956–1971, 1990–1991) bzw. das Fernsehen der DDR (1972–1990) etwa 20 Märchenfernsehfilme bzw. -spiele.

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG


Ihr künstlerisches Niveau, lobenswerte Leistungen der Schauspielstars und dramaturgisch gut durchdachte Geschichten machten viele der Märchenadaptionen – trotz einer mal mehr, mal weniger durchschimmernden Ideologie – damals wie heute zu Filmklassikern, die sogar in den Westen exportiert und dort in TV und Kino gezeigt wurden. Dennoch fielen mit der Abwicklung von DEFA und DFF schlagartig zwei Institutionen weg, die diese Märchenfilme produzierten. Das daran beteiligte künstlerische Personal verlor von heute auf morgen seine gesicherte Existenz.

Neuanfang in unbekanntem Produktionsmarkt

„Das Telefon stand plötzlich still“, erinnerte sich später der Filmkomponist Peter M. Gotthardt in einem Interview an die Nachwendezeit – und meinte damit die ausbleibenden Aufträge. Gotthardt, der mit der Filmmusik zu „Die Legende von Paul und Paula“ (DDR, 1973, R: Heiner Carow), aber auch zum DEFA-Märchenfilm „Schneeweißchen und Rosenrot“ (DDR, 1979, R: Siegfried Hartmann) zu den wichtigsten DDR-Filmkomponisten zählte, schaffte den Neuanfang in einem gänzlich unbekannten Produktionsmarkt mit hohem Konkurrenzdruck. Vielen anderen Kolleginnen und Kollegen gelang das allerdings nicht.

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR


Das hatte auch damit zu tun, dass sich – auf das Märchenfilmgenre bezogen – die Nachfolger des DFF, die 1992 neu gegründeten ARD-Landesrundfunkanstalten Mitteldeutscher Rundfunk (MDR) und Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB, seit 2003: Rundfunk Berlin-Brandenburg, kurz: RBB) erst einmal neu aufstellen mussten (vgl. Wiedemann 2017, S. 215). Die Produktion neuer Märchenfilme stand nicht auf der Tagesordnung. Das künstlerische DEFA-Märchenfilmerbe schien vorerst niemanden zu interessieren.

Einige ‚Überläufer’ in Fernsehen und Kino

Mit wenigen Ausnahmen: MDR und ORB übernahmen 1992 gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem Sender Freies Berlin (SFB) die Endproduktion von „Sherlock Holmes und die sieben Zwerge“ (TV-Erstausstrahlung: 10.5.1992). Gedreht wurde die 8-teilige Fantasy-Serie nach Motiven der Brüder Grimm noch von der bereits abgewickelten DEFA-Studio Babelsberg GmbH (vgl. Wiedemann 2015, S. 9).

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB


Der Filmstab gehörte fast ausschließlich zum früheren DEFA-Personal: Die Regie übernahm der ehemalige DDR-Regisseur Günter Meyer (u. a. „Spuk unterm Riesenrad“, 1978), der bis Anfang der 2000er-Jahre weiter Akzente im Fantasy-Fach setzte.

Zudem starteten sogenannte ‚Überläufer’ wie „Das Licht der Liebe“ (DDR/D 1991) und „Olle Hexe“ (DDR/D 1991), die bereits vor dem 3. Oktober 1990 abgedreht, aber erst danach im gesamtdeutschen Kino uraufgeführt wurden.

Stabile Strukturen und Netzwerke im Westen

Der frühe gesamtdeutsche Märchenfilm nach 1990 wurde dennoch von den Akteurinnen und Akteuren in den etablierten alten Bundesländern geprägt. Hier gab es Strukturen und Netzwerke, die über Jahrzehnte gewachsen waren und sich weiter als stabil erwiesen. So führte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) Anfang der 1990er-Jahre seine Reihe „Die Welt des Märchens“ fort. Darin verfilmte der öffentlich-rechtliche Sender in Koproduktion mit der ČSSR (später: ČSFR und ČZ) sowie westeuropäischen Fernsehanstalten bekannte Märchen für Kino und TV.

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF


Opulente Produktionen wie „Dornröschen“ (ČSSR/D/F 1990), „Der Reisekamerad“ (ČSSR/D/F/I/AT 1990), „Der Froschkönig“ (ČSFR/D/F/I 1991), „Schneewittchen und das Geheimnis der Zwerge“ (ČSFR/D/I/ES 1992) oder „Des Kaisers neue Kleider“ (ČZ/D/ES/I 1994) rekrutierten ihr Personal dabei ausschließlich aus populären westdeutschen Schauspielstars, wie Iris Berben, Judy Winter, Michael Degen oder Harald Juhnke, und tschechoslowakischen Filmschaffenden.

Ebenso verfuhr die ARD, die „Das Zauberbuch“ (ČZ/D 1996) mitproduzierte, oder der Bayerische Rundfunk (BR), der sich an „Der Feuervogel“ (ČZ/D 1997) und „Die Seekönigin“ (ČZ/D 1998) beteiligte. Ostdeutsches Personal war auch hier, aufgrund der beteiligten westdeutschen Landesrundfunkanstalt (BR), so gut wie nicht vertreten.

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF


Für westliche Entscheidungsträgerinnen und -träger in ARD und ZDF kamen Ostdeutsche auch deshalb nicht infrage, weil etwaige künstlerische Positionen in den TV-Redaktionen oder Filmstäben ohnehin bereits besetzt waren. Eine Neu- oder Umverteilung war nicht gewollt.

Ostdeutsche Aspirantinnen und Aspiranten wurden nicht zuletzt diskreditiert („Bolschewistenfunk“), weil sie nach Ansicht der westdeutschen Elite mit ihrer (künstlerischen) Arbeit das DDR-Regime direkt oder indirekt gestützt hätten. Und das, obwohl nach dessen Ende das DEFA- und DFF-Personal über berufliche Qualifikationen und notwendiges Fachwissen verfügte.

Lichtblick am Ende der 1990er-Jahre

Da wirkte es wie eine große Überraschung als Ende der 1990er-Jahre der frühere DEFA-Regisseur Rolf Losansky „Hans im Glück“ (D 1999) vorlegte – und dabei auf ein proportional ausgeglichenes hochkarätiges Ost-West-Schauspielensemble zurückgriff. Der Grund dafür mag darin gelegen haben, dass den von der Westberliner Genschow-Film GmbH produzierten Märchenfilm neben dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) auch der in Potsdam ansässige ORB und der 1997 im thüringischen Erfurt gestartete ARD-/ZDF-Kinderkanal (seit 2012: KiKA) mitfinanzierte, für den der MDR bis heute verantwortlich ist.

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film


Und auch wenn der Posten des KiKA-Programmgeschäftsführers von 1997 bis 2017 mit westdeutsch sozialisierten männlichen Entscheidungsträgern besetzt wurde (seit 2018: Astrid Plenk aus Bernburg/Sachsen-Anhalt), ist es denkbar, dass sich schon Ende der 1990er-Jahre die Redaktionen zum Teil aus ostdeutschem Personal zusammensetzten – und sich dieser Umstand auf die Märchenfilm-Produktionsplanung (Regie, Drehbuch, Schauspiel etc.) auswirkte.

Märchen-Parodien in Kino und TV für Erwachsene

Dennoch ging von „Hans im Glück“ vorerst keine Trendwende aus. Schlichtweg aus dem einfachen Grund, weil das deutsche Märchenfilmgenre Anfang der 2000er-Jahre keine wichtigen Adaptionen nach Grimm, Andersen und Co. für ein Kinderpublikum produzierte. Fragen nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ spielten deshalb vorerst noch keine Rolle.

Gleichwohl war das Märchen weiter präsent: als Parodie in Kino und TV für Erwachsene. So funktionierten die von Otto Waalkes mitproduzierten Filmkomödien „7 Zwerge – Männer allein im Wald“ (D 2004) und „7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug“ (D 2006) an den Kinokassen. Und im Privatsender ProSieben flimmerte „Die Märchenstunde“ (D/AT/ČZ 2006–2012) der Rat Pack Filmproduktion (München) über die Bildschirme.

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures


Hier wie dort griffen die Filmverantwortlichen auf westdeutsches Personal zurück, das vor oder hinter der Kamera agierte, wenn man von wenigen im Osten geborenen Schauspielstars (Nina Hagen, Mirco Nontschew, Jeanette Biedermann etc.) einmal absah.

„Sechs auf einen Streich“ und „Märchenperlen“

Ab Mitte der 2000er-Jahre erlebte der Märchenfilm im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von ARD und ZDF ein Comeback. Die meist an den Weihnachtsfeiertagen erstmalig gezeigten Adaptionen der Reihen „Märchenperlen“ (ZDF, seit 2005, auch Koproduktionen) und „Sechs auf einen Streich“ (ARD, seit 2008) richteten sich dabei sowohl an ein Kinder- als auch Familienpublikum.

Dafür gründete die Kinder- und Jugendredaktion des ZDF Anfang der 00er-Jahre eine Art ‚Think Tank’, dem auch der Münchner Filmproduzent Ernst Geyer angehörte. Die Denkfabrik sollte eine Konzeption für zunächst sechs Märchenfilme entwickeln. Darin wurden auch fünf Drehbuchautoren und eine Drehbuchautorin aus den alten Bundesländern berufen. Mitfinanziert wurden die ersten vier Märchenfilme (2005–2008) neben der Länderförderung Bayern und Hamburg von der in Leipzig ansässigen Mitteldeutschen Medienförderung (vgl. Ungureit 2009, S. 10f.).

Ostdeutsche im ARD- und ZDF-Märchenfilm

Um tendenzielle Aussagen darüber zu treffen, ob und wie viele DDR-sozialisierte Filmemacherinnen und -macher das bundesdeutsche Märchengenre mitpräg(t)en, soll der Blick stichprobenartig auf die Bereiche Regie und Drehbuch gelenkt werden.

Bis 2021 drehte das ZDF 19 Märchenfilme*, an denen insgesamt 13 Regisseure (10) und Regisseurinnen (3) beteiligt waren. Davon sind zwei (15 Prozent)** im Osten geboren: Karola Hattop, die seit 1973 Kinder- und Familienfilme für das DDR-Fernsehen und später für das ZDF zwei Märchenfilme („Die sechs Schwäne“, 2012 und „Die Schneekönigin“, 2014) inszenierte, sowie Carsten Fiebeler („Die goldene Gans“, 2013), der erst nach der Wende als Regisseur arbeitete. Koproduziert wurden diese drei ZDF-Märchenfilme von der im Jahr 2000 im thüringischen Erfurt gegründeten Kinderfilm GmbH (später: Mideu Films GmbH).

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans


Anders als beim ZDF verteilt sich die Produktion der ARD-Märchenfilme auf die neun Landesrundfunkanstalten. Die in der DDR geborene ehemalige RBB-Mitarbeiterin Sabine Preuschhof koordinierte die Reihe „Sechs auf einen Streich“ in den ersten Jahren. Werden die 52 ARD-Adaptionen bis 2021 im Hinblick auf Ost-West-Besetzung ausgewertet, zeigt sich folgendes Bild: Von insgesamt 26 Regisseuren (20) und Regisseurinnen (6) haben fünf (19 Prozent) eine Ost-Sozialisation**.

Fürneisen und Fiebeler gehören zu Top-Regisseuren

Darunter ist Bodo Fürneisen, der bei fünf ARD-Märchenfilmen auf dem Regiestuhl sitzt – er wird nur übertroffen vom westdeutschen Regisseur Christian Theede mit sechs NDR-Adaptionen. Fürneisen hatte bereits für das DDR-Fernsehen die Klassiker „Die Geschichte vom goldenen Taler“ (DDR 1985) sowie „Die Weihnachtsgans Auguste“ (DDR 1988) inszeniert. Fiebeler kommt insgesamt auf vier ARD-Adaptionen und zeigt, dass man in ZDF und ARD erfolgreich Märchen verfilmen kann.

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR


Dabei verantwortet die fünf Fürneisen-Märchenfilme und eine Fiebeler-Adaption die in Potsdam ansässige Landesanstalt RBB. Fiebelers drei andere ARD-Verfilmungen entstehen zwar unter Federführung der westdeutschen Anstalten Hessischer Rundfunk (HR) bzw. Südwestrundfunk (SWR), werden aber zum Teil von der Kinderfilm GmbH produziert: „Das blaue Licht“ (D 2010).

Nur wenige ‚ostdeutsche’ Märchenfilm-Drehbücher

Bei zwei weiteren mit Osthintergrund (Regie) gedrehten Filmen ist neben Radio Bremen (RB), dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem HR auch der MDR als Koproduzent vertreten. Einen weiteren Märchenfilm verantwortet die in Leipzig ansässige Landesanstalt ganz allein, wobei zudem die Kinderfilm GmbH das Märchen im Auftrag des MDR produziert.

Im Hinblick auf eine Ost-West-Sozialisation von Drehbuchautorinnen und -autoren im ZDF- und ARD-Märchenfilm zeigt sich ein ähnliches Bild: Von insgesamt 17, die an den „Märchenperlen“ beteiligt sind, hat nur ein Drehbuchschreiber (6 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Dieser ist aber an drei ZDF-Märchenfilmen beteiligt. Bei den ARD-Produktionen haben von insgesamt 28 Autorinnen und Autoren vier (14 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Zwei davon arbeiten allerdings gleich an drei Märchenfilmen mit.

Von „Das kalte Herz“ zu „Timm Thaler“

Einzelne Kinofilme in den 2010er-Jahren wie die Filmmärchen „Aschenbrödel und der gestiefelte Kater“ (D 2013) und „Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte“ (D 2013, koproduziert vom BR), aber auch das nach einer klassischen Vorlage entstandene „Das kalte Herz“ (D 2016, koproduziert u. a. von ARD/MDR/SWR und mitfinanziert u. a. von Mitteldeutsche Medienförderung und Medienboard Berlin-Brandenburg) entstehen wieder weitgehend mit westdeutsch sozialisierten Filmschaffenden, wobei letztere Märchenverfilmung mit André M. Hennicke und Jule Böwe zwei ostdeutsch sozialisierte Schauspielstars engagiert.

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH


Eine Ausnahme stellt die fantastische Romanverfilmung „Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen“ (D 2017) dar, die u. a. von den im thüringischen Gera geborenen Andreas Dresen (Regie) und Jörg Hauschild (Schnitt) sowie von der aus Potsdam stammenden Sabine Greunig (Kostüme) inszeniert wurde. Ostdeutsche wie Charly Hübner, Nadja Uhl, Reiner Heise oder Steffi Kühnert, aber auch die westdeutschen Schauspieler Justus von Dohnányi, Axel Prahl oder Bjarne Mädel machten den u. a. vom ZDF koproduzierten Kinofilm zu einem gesamtdeutschen Projekt.

Ostanteil proportional zur Gesamtbevölkerung

Demnach sind seit 1990 in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden, die entweder vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ARD, ZDF) oder von freien Produktionsfirmen hergestellt wurden. Doch untermauern die Statistiken und Filmbeispiele die These, dass es im bundesdeutschen Märchenfilm heute noch eine „Repräsentationslücke“ von DDR- oder ostdeutsch-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern gibt?

Vor dem Hintergrund, dass etwa 17 Prozent aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger ostdeutscher Herkunft sind (vgl. Kollmorgen 2021, S. 235) und diese Zahl als Vergleichsgröße gilt, wirkt der Regieanteil im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von 19 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“) und 15 Prozent (ZDF: „Märchenperlen“) sowie der Drehbuchanteil von 14 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“)** relativ proportional. Nur der ‚ostdeutsche’ Drehbuchanteil am ZDF-Märchenfilm von 6 Prozent ist unterproportional.**

Die Zahlen zeigen zudem wenig überraschend, wenn die beiden ‚Ost-Landesanstalten’ RBB und MDR an Märchenfilmen der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ beteiligt sind, werden für die Posten Drehbuch und Regie ebenso ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler interessant. Zudem wirkt sich die Beteiligung ostdeutscher Produktionsfirmen, beispielsweise der „Kinderfilm-GmbH“, auf den Anteil im Osten sozialisierter Akteure und Akteurinnen aus.

ARD-Landesanstalten mit ‚Lokalpatriotismus’

Dennoch lässt das nicht pauschal den Schluss zu, die in Thüringen bzw. Sachsen-Anhalt ansässige Firma arbeite vorrangig mit ostdeutschem Personal, im Unterschied zu im Westen ansässigen Produktionsfirmen.

Dafür spricht, dass „Kinderfilm“ auch ZDF-Märchenfilme verantwortete, die eine westdeutsche Regisseurin (Anne Wild: „Hänsel und Gretel“, 2006) oder einen westdeutschen Regisseur (Frank Stoye: „Der Zauberlehrling“, 2017; „Der süße Brei“, 2018) rekrutierten. Das gilt auch für die von „Kinderfilm“ produzierten ARD-Märchenfilme „König Drosselbart“ (D 2008), „Die Gänsemagd“ (D 2009) und „Rotkäppchen“ (D 2012) – alle in der Regie der Münchnerin Sibylle Tafel.

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland


Trotzdem scheint es, dass „Kinderfilm“ – im Gegensatz zu im Westteil Deutschlands ansässigen Produktionsfirmen – ein Stück weit sensibilisierter mit der Rekrutierung von Filmschaffenden umgeht. Andererseits kann dem Unternehmen, wie auch einigen ost- und westdeutschen ARD-Landesrundfunkanstalten allgemein vorgehalten werden, dass sie einen ‚Lokalpatriotismus’ bedienen, das heißt: vor allem Filmschaffende engagieren, die auf dem Gebiet der jeweiligen Rundfunkanstalt oder eines Bundeslandes leben und für den Sender bereits arbeiten.

Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Wenn RBB und MDR keine oder weniger im Osten sozialisierte Künstlerinnen und Künstler rekrutieren würden, lägen die Anteile bei Regie und Drehbuch deutlich unter dem erwähnten quantitativen Minderheitenstatus der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung (17 Prozent). Denn die anderen sieben im Westen ansässigen Landesanstalten NDR, RB, WDR, HR, SWR, BR und Saarländischer Rundfunk (SR) würden das mit dem von ihnen engagierten Ostpersonal nicht auffangen.

Die ostdeutsche Übernahme

Doch wie wirkt sich der Ost-Regieanteil von 19 bzw. 15 Prozent sowie -Drehbuchanteil von 14 bzw. 6 Prozent auf die öffentlich-rechtliche Märchenfilmproduktion** aus? Folgen daraus unmittelbare Defizite?

Glaubt man Josef Göhlen, ehemaliger Leiter des Kinderprogramms beim HR und ZDF, so ist es genau umgekehrt: Der heutige bundesdeutsche Märchenfilm ist eigentlich ein DEFA-Märchenfilm 2.0. Denn für Göhlen orientieren sich die ARD- und ZDF-Märchen „an einer tradierten Märchendramaturgie, wie sie seinerzeit insbesondere von der ostdeutschen Produktionsfirma DEFA gepflegt wurde“ (Gangloff 2016, S. 8f.). Damit meint er, dass darin die Armen und Unterdrückten immer zu den im ethischen Sinn Guten, die Reichen dagegen durchgehend zu den Bösen zählten. Er halte es für einen großen Fehler, diese Dramaturgie nachzuahmen.

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR


Die Schweizer Filmkritikerin Christine Lötscher meint, dass sich die ARD- und ZDF-Adaptionen zudem gestalterisch „an der historisierenden Ästhetik der DEFA-Märchenfilme“ (Lötscher 2017, S. 310) orientieren. Und: Wie den DDR-Produktionen liege dem öffentlich-rechtlichen Märchenfilm „eine Analyse und Interpretation der Textvorlage zugrunde; die zeitlosen Konflikte der Figuren werden konkretisiert, psychologisiert und in die Gegenwart übertragen“ (ebd. S. 311). Allerdings gelinge es eher selten, den ganz eigenen Zauber der DEFA-Filme zu reproduzieren.

Daraus wäre auf die hier diskutierte Frage zu schließen, dass sich seit 1990 keine westdeutsche „Übernahme“ in der gesamtdeutschen Märchenfilmproduktion, sondern umgekehrt eine ostdeutsche „Übernahme“ vollzogen hat – wenn auch ‚nur’ in dramaturgischer und gestalterischer Hinsicht.

Diversität: Frauenanteil und Migrationshintergrund

Gleichwohl bleibt damit die Frage nach einer angemessenen personellen ostdeutschen Teilhabe in der bundesdeutschen Märchenfilmproduktion bestehen. Flankiert wird sie allerdings im 21. Jahrhundert mit der Forderung nach einer generellen Diversität in diesem Filmgenre: Die stichprobenartigen Statistiken zeigten beispielsweise, dass der Frauenanteil – nicht nur im Regie- und Drehbuchfach – sehr gering ist.

Zudem sind Filmschaffende mit Migrationshintergrund noch Ausnahmen. Der deutsch-türkische Regisseur Cüneyt Kaya („Das Märchen vom goldenen Taler“, 2020), der in Istanbul geborene Regisseur und Drehbuchautor Su Turhan („Die drei Federn“, 2014; „Prinzessin Maleen“, 2015; „Der starke Hans“, 2020) oder der in Vietnam geborene Kameramann und Regisseur Ngo The Chau (u. a. „Die Hexenprinzessin“, D/CZ, 2020) sind drei Beispiele. Ebenso lassen sich hier der Finne Hannu Salonen („Des Kaisers neue Kleider“, 2010) oder die in Stockholm geborene deutsche Regisseurin Maria von Heland („Die Sterntaler“, 2011; „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, 2013) nennen.

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein


_____________________
MEHR ZUM THEMA
DDR reloaded: Der identitätsstiftende DEFA-Märchenfilm

Die Frage nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ im deutschen Märchenfilmgenre sollte deshalb um andere Gruppen (Frauen, Migrationshintergrund) in den nächsten Jahren erweitert werden. Um das personelle Defizit ausgeglichener zu gestalten, braucht es nicht unbedingt starre Quotenregelungen. Dafür sensibilisierte Filmschaffende in den Chefinnen- und Chefetagen wären schon einmal ein Anfang.

* Ohne den Märchenfilm „Zwerg Nase“ (D, 2008, R: Felicitas Darschin). Dieser entstand im Auftrag des BR, wird aber zu den ZDF-„Märchenperlen“ gezählt, obwohl der Sender nicht daran beteiligt war.

** Die Herkunft der Filmschaffenden wurde in öffentlichen Quellen (Internet, Fachmedien) recherchiert und/oder individuell bei den Künstlerinnen und Künstlern angefragt (E-Mail). Da nicht zu allen Filmschaffenden die Herkunft recherchiert werden konnte, können die Zahlen prozentual leicht abweichen (Stand: 24.3.2022).

Verwendete Quellen:


Headerfoto: Die kluge Bauerntochter (BRD 2010): Die Titelfigur (Anna Maria Mühe, l.) und ihre Freundin die Magd (Sabine Krause) bestaunen das Fernrohr des Königs / Foto: MDR/Sandy Rau

Schneewittchen (2025): Rachel Zegler als Titelfigur und Gal Gadot als böse Königin / © Disney Enterprises, Inc. All Rights Reserved.

If it’s purple, someone’s gonna die: Schneewittchen (USA/GB/I/D 2025)

Disney hat seinen Zeichentrick-Klassiker als Fantasy-Musical verfilmt. Und schon im Vorfeld viel Kritik eingesteckt. Dabei verstellt die einseitige Diskussion um politische Korrektheit den Blick auf kleine, aber pointierte Details.

„Schneewittchen“ zählte in den 2010er-Jahren zu den Märchen, dem die US-Filmemacherinnen und -macher überraschend neue Seiten abgewannen.

So erzählte „Spieglein, Spieglein – Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen“ (2012) mit Julia Roberts als böse Stiefmutter. In dem komödiantischen, mit Screwball-Elementen versehenen Film entwickelte sich die Titelfigur (Lily Collins) von einer weltfremden Prinzessin zur toughen Heldin – auch dank kleinwüchsiger Männer als Bande respektloser Tunichtgute.

„Snow White and the Huntsman“ (2012) und das Prequel „The Huntsman and the Ice Queen“ (2016) waren in Handlung und Set-Design als düstere Fantasy-Varianten angelegt: Beide rückten den Jäger (Chris Hemsworth) in den Mittelpunkt, wobei sich im erstgenannten Schneewittchen (Kristen Stewart) in glänzender Rüstung seiner Stiefmutter (Charlize Theron) gegenüberstellte.

„Schneewittchen“ als Fantasy-Musical

Trotz Achtungserfolgen schwebte über allen wie ein Damoklesschwert doch immer der gezeichnete Disney-Klassiker „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ von 1937. Der erste abendfüllende Zeichentrickfilm der Filmgeschichte. Kurzum: der Märchenfilm der Märchenfilme.

Und nachdem die ersten Animationsstreifen von Disney als Live-Action-Verfilmungen reüssierten (u. a. „Alice im Wunderland“, 2010; „Maleficent – die dunkle Fee“, 2014; „Cinderella“, 2015), wartete das Publikum auf dessen Realverfilmung, die jetzt angelaufen ist.

Schneewittchen (2025): Die Titelfigur (Rachel Zegler) poetisch entrückt im Märchenwald / © Disney Enterprises, Inc.

Schneewittchen (2025): Die Titelfigur (Rachel Zegler) poetisch entrückt im Märchenwald / © Disney Enterprises, Inc.


Um es vorwegzunehmen: Die Adaption orientiert sich als Fantasy-Musical ästhetisch am Zeichenfilm, passt aber erzählerisch – was nicht verwundert – die Story dem Zeitgeist an. Das zeigt sich bereits in der Eröffnungssequenz: Ein antikes Märchenbuch in weißem Ledereinband trägt in goldenen Lettern (wie 1937) den Titel „Schneewittchen“. Aber die „sieben Zwerge“ fehlen.

Vorausgegangen war eine Diskussion, wie und von wem die mitfühlenden und gastfreundlichen Fabelwesen dargestellt und genannt werden sollten. Disney entschied nach Kritik, die Rollen nicht mit sieben kleinwüchsigen Männern zu besetzen, um niemanden zu diskriminieren (vgl. Melendez 2022). Infolgedessen strich die US-Firma das Wort „Zwerg“ aus Titel und Film.

Ein Vorzeige-Königreich

Neu ist, dass der Realfilm eine kurze Vorgeschichte erzählt (Schneewittchens Geburt und Kindheit in einem behüteten Elternhaus) und damit auch etwas über das Land, in dem die Handlung spielt: ein in bunte Farben getauchtes Vorzeige-Königreich, in dem das singende und tanzende Volk glücklich ist und in dem es keine sozialen Spannungen gibt.

Mehr noch: Das junge Schneewittchen (Emilia Faucher) hält nichts von Standesunterschieden und spielt ungeniert mit dem Volk – was natürlich etwas über seinen Charakter aussagt.

Schneewittchen (2025): Die Prinzessin wird von der Stiefmutter zur Dienstmagd degradiert / © Disney Enterprises, Inc.

Schneewittchen (2025): Die Prinzessin wird von der Stiefmutter zur Dienstmagd degradiert / © Disney Enterprises, Inc.


Bestimmte Motive, wie der Apfel, ziehen sich von Beginn an durch den Märchenfilm: Anfangs in positiver Bedeutung als „Liebes- und Fruchtbarkeitssymbol (Attribut der Aphrodite)“ (Harmening 2005, S. 41), wenn auf weitläufigen, von der Sonne beschienenen Apfelplantagen rotbäckige Früchte geerntet und für Speisen (Apfelkuchen!) verwendet werden.

Gewiss mutet diese Idee etwas gewollt und konstruiert an. Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Dennoch kann sie auf die doppelte sinnbildliche Bedeutung der Frucht verweisen, die später als negatives „Symbol der Verlockung“ (ebd.) Schneewittchen das Leben kostet.

Schneewittchens Vater zieht in den Kampf

Auch der Vater, in der Vorlage als Figur nicht weiterentwickelt, gewinnt ein wenig mehr an Statur. Im Märchen heißt es, dass er sich nach dem Tod von Schneewittchens Mutter „über ein Jahr […] eine andere Gemahlin“ (Grimm 1980, S. 269) nahm. Dann ist er nicht mehr erwähnt.

Im Film ermuntert er seine Tochter, später sozial gerecht und weise zu regieren. Doch er verlässt nach seiner zweiten Heirat den Königshof, um sein Land vor einem angeblichen kriegerischen Angriff zu schützen. Er kehrt nie mehr zurück. Das kleine Schneewittchen wartet vergeblich auf ihn und ist nun seiner Stiefmutter vollkommen ausgeliefert, die eifersüchtig auf die Schönheit ihrer Stieftochter ist. Die Königin verwandelt das vormals glückliche, sonnenbeschienene Reich in ein trauriges, dunkles Land des Schreckens.

Schneewittchen (2025): Die Königin (Gal Gadot) führt Böses im Schilde / © Disney Enterprises, Inc.

Schneewittchen (2025): Die Königin (Gal Gadot) führt Böses im Schilde / © Disney Enterprises, Inc.


Ein Blick in die Editionsgeschichte von „Sneewittchen“ zeigt (Jacob und Wilhelm Grimm wählten übrigens eine plattdeutsche Schreibweise, um eine Verwechslung mit dem 1809 erschienenen „Schneewittchen“ vom nicht mit ihnen verwandten Adalbert Ludwig Grimm zu vermeiden), dass die Idee aber nicht ganz neu ist.

In der handschriftlichen Urfassung des Märchens von 1810 heißt es nämlich auch: „Wie nun der Herr König einmal in den Krieg verreist war […]“ (Grimm 2007, S. 75).

Zwei ungleiche Frauen

Doch das Märchen ist vor allem eine Geschichte über zwei ungleiche Frauen: hier das gute Schneewittchen, gespielt von der US-Amerikanerin Rachel Zegler („West Side Story“, 2021), deren Besetzung wegen ihrer lateinamerikanischen Herkunft (ihre Mutter ist Kolumbianerin) kritisiert wurde; dort die böse Königin, dargestellt von der israelischen Schauspielerin Gal Gadot („Fast & Furious 10“, 2023).

Und diese Geschichte der charakterlichen Kontraste (gut und böse) wird vor allem auch über filmische Mittel, wie Farbe und Kostüm, erzählt. Die britische Künstlerin Sandy Powell, die schon Disneys „Cinderella“ ausstattete, orientiert sich am „original iconic look“ (Powell) des Animationsfilms, setzt aber auch neue Akzente – die wiederum im Setting ihre Entsprechung finden.

Scharfkantige Krone, spitze Fingernägel

So trägt die Königin eine scharfkantige, mit hohen, spitz zulaufenden Zacken versehene Krone, die einschüchternd und gefährlich wirkt. In gewisser Weise erinnert sie damit an Illustrationen oder Filmdarstellungen der Andersen’schen „Schneekönigin“.

Die Schneekönigin (UdSSR 1957): Sie lässt Menschenherzen zu Eis gefrieren / © Sojusmultfilm

Die Schneekönigin (UdSSR 1957): Sie lässt Menschenherzen zu Eis gefrieren / © Sojusmultfilm


Die Schneekönigin (UdSSR 1967): Die Titelrolle spielte Natalja Klimowa / © Lenfilm

Die Schneekönigin (UdSSR 1967): Die Titelrolle spielte Natalja Klimowa / © Lenfilm


Schneewittchen (2025): Spitzkantige Formen umgeben die böse Königin im Palast / © Disney Enterprises, Inc.

Schneewittchen (2025): Spitzkantige Formen umgeben die böse Königin im Palast / © Disney Enterprises, Inc.


Spitz zulaufende Formen finden sich in regelmäßiger Wiederholung auch im Setting, z. B. in der Palastarchitektur oder im Wappen, das auf Fahnen prangt. Gefährlich spitz sind ebenso Details in Maske/Make-up, z. B. die Fingernägel der Stiefmutter – an denen man sich verletzen (!) kann.

Violett: Macht, Magie und Tod

Die Farben ihrer Krone – blau, violett, türkis, grün – finden sich sowohl in Kleid und Umhang als auch im Schmuck (Armbänder, Halskette, auch: Choker) wieder. Dabei steht das Violett (Lila) hier für Macht und Magie – kann aber zugleich auf den Tod verweisen, wie die US-Wissenschaftlerin Patti Bellantoni (1936–2016) mit ihrem Buchtitel treffend formulierte: „If it’s purple, someone’s gonna die. The Power of color in visual storytelling“ (2005).

Schneewittchen (2025): Die Königin steht für eine besondere Farbdramaturgie / © Disney Enterprises, Inc.

Schneewittchen (2025): Die Königin steht für eine besondere Farbdramaturgie / © Disney Enterprises, Inc.


Disney hatte diese Farbdramaturgie bereits im Zeichentrickfilm verwendet, später auch in „Arielle, die Meerjungfrau“ (1989): Hier ist es die böse Hexe Ursula – deren Aussehen von US-Sänger Divine (1945–1988) inspiriert ist –, bei der ebenso das Violett dominiert. Als sich die Animatorin und Illustratorin Manuela Buske mit der dramaturgischen Bedeutung von Farbe im Animationsfilm beschäftigte, fiel ihr zudem auf, dass „bei beiden Figuren die Farbe Violett mit Gelb und Schwarz kombiniert [ist], die in der Kombination Warnfarben sind“ (Buske 2012, S. 69).

Gelb: Sommer, Wärme und Leben

Schneewittchens Kostüm(e) lehnen sich ebenso zumeist an das Animations-Original an; dabei ist gerade das Gelb erwähnenswert, weniger als Farbe seines Rocks. Sondern weil seine Umgebung in vielen Einstellungen (Kamera: Mandy Walker), z. B. in der Eröffnungssequenz oder später im Wald, wenn es das Zwergenhaus findet, in ebenso diesen Farbtönen fotografiert ist.

Schneewittchen (2025): Vorbild für diese pittoreske Szene ist der Animationsfilm / © Disney Enterprises, Inc.

Schneewittchen (2025): Vorbild für diese pittoreske Szene ist der Animationsfilm / © Disney Enterprises, Inc.


Einerseits, weil Gelb im Jahreszeiten-Rhythmus generell die Farbe des Sommers, der Wärme, der Freude ist: Das warmherzige Schneewittchen in einer ebenso warmherzigen Umgebung. Andererseits, weil die tief stehende oder sinkende Spätsommersonne als Vorbote des Todes (Mutter, Vater, Schneewittchen selbst) gedeutet werden kann.
Schneewittchen (2025): Die Titelfigur trägt mit Bedacht das revolutions-rote Cape / © Disney Enterprises, Inc.

Schneewittchen (2025): Die Titelfigur trägt mit Bedacht das revolutions-rote Cape / © Disney Enterprises, Inc.


Die Farbdramaturgie birgt aber auch Überraschungen, wenn sich die gereifte Titelfigur am Ende in einem roten Cape zeigt und an die Spitze einer Volksbewegung stellt: Rot ist hier die Farbe der Freiheit, der Aktivität, der Revolution – und des Ungehorsams gegenüber ihrer Stiefmutter.

Dieb Jonathan statt Prinz Florian

Dabei lernt Schneewittchen – ebenso wie im Animations-Klassiker – ihren späteren Erlöser bereits am Beginn kennen: Es ist aber kein Prinz, sondern jetzt ein Dieb namens Jonathan (Andrew Burnap), eine Art harmloser Robin Hood, der Gemüse aus der königlichen Küche stiehlt – und von Schneewittchen dabei erwischt wird. Zwar wird er von der bösen Königin verhaftet, aber von Schneewittchen befreit, um sich weiter im Wald zu verstecken.

Erzählerisch ist die Dieb-statt-Prinz-Idee eine der wichtigsten Änderungen, fügt sich aber dennoch problemlos in die Geschichte ein. Mehr noch unterstreicht sie aber die sozialkritische Note, die den Disney-Film durchzieht – und die das Publikum bislang eher von DEFA – sowie ARD- und ZDF-Märchenfilmen kennt. Diese Strategie gehörte bislang nicht zu den Erkennungsmerkmalen der kapitalistischen US-Märchenfilmindustrie.

Märchenfilm für Kinderpublikum

Augenfällig ist allerdings, dass in „Schneewittchen“ grausame, Angst einflößende Momente stark zurückgenommen sind. Eine der wenigen gruseligen Szenen ist die Stelle, an der der Jäger (Ansu Kabia) – der Schneewittchen auf Befehl der Königin umbringen soll – das Mädchen laufen lässt. Es irrt durch einen dunklen Wald, in dem Äste nach ihm greifen, bis es auf einer Lichtung von guten Waldtieren umringt ist.

Schneewittchen (2025): Nein, die Titelfigur trillert mit dem Vogel nicht um die Wette / © Disney Enterprises, Inc.

Schneewittchen (2025): Nein, die Titelfigur trillert mit dem Vogel nicht um die Wette / © Disney Enterprises, Inc.


Diese Zurückhaltung spricht für einen Märchenfilm, der erfreulicherweise vor allem für Kinder gemacht ist (Altersfreigabe: FSK 0). Zugleich ist es auch der eigentliche Pferdefuß des Films, denn dem erwachsenen Publikum fehlen mitunter originelle und intelligente Genre-Reflexionen, die zwar immer mal wieder anklingen (z. B. wenn Dieb Jonathan über „Prinzessinnen-Probleme“ singt), aber in der Summe zu selten daherkommen.

Kein Spiel mit Genre-Konventionen

Freilich ist „Schneewittchen“ in seiner Konzeption kein „Shrek“ (2001–2022) aus den DreamWorks-Studios, der sich ja gerade als Anti-Disney-Film versteht und „die stilbildende Süßlichkeit und anthropomorphe Niedlichkeit der Disney-Ästhetik gekonnt aufs Korn nimmt“ (Vossen 2007, S. 230). Aber im 21. Jahrhundert hätte ein gewagteres Spiel mit Genre-Konventionen gerade einem Remake, dessen Vorlage fast 90 Jahre alt ist, gut getan.

Schneewittchen (2025): Die Titelfigur inmitten ihrer sieben magischen Helfer / © Disney Enterprises, Inc.

Schneewittchen (2025): Die Titelfigur inmitten ihrer sieben magischen Helfer / © Disney Enterprises, Inc.


Das zeigen eben auch die jetzt sieben „magischen Wesen“ im Wald, bei denen Schneewittchen unterkommt. Zwar sind die Charaktere mit Hilfe der Motion-Capture-Technik komplett animiert. Dabei werden Bewegungsdaten eines Schauspielers aufgezeichnet und auf eine digitale Figur übertragen, sodass diese möglichst realitätsnah und menschenähnlich erscheint (vgl. Flückiger). Unter ihnen ist auch der kleinwüchsige, 1,22 Meter große Schauspieler Martin Klebba, der den Zwerg Grumpy gibt.

Von Dieben und magischen Wesen

Doch den kleinen Helferfiguren, die in einem Bergwerk Diamanten schürfen, fehlt im Habitus eine gewisse Coolness, sie wirken eher angestaubt, altbacken und von gestern. Das kann auch die ebenso 7-köpfige Gang von Bandenführer Jonathan nicht aufwiegen, obgleich ihnen eine gewisse Abgeklärtheit (und damit verbundene Modernität) nicht abzusprechen ist, was im kleinwüchsigen Bogenschützen (George Appleby) ansatzweise funktioniert. Dennoch bleiben sie in ihren Rollen auffällig blass.

Zudem können auch sie nicht verhindern, dass die böse Königin – in Gestalt einer steinalten Frau – ihre Stieftochter Schneewittchen im Wald findet. Sie schenkt dem Mädchen einen vergifteten Apfel, der seine Wirkung nicht verfehlt. Dass Jonathan sein Schneewittchen mit einem Kuss aus dem Schlaf erlöst, zeigt zwar auch der Animations-Klassiker. Doch die Königin stirbt hier keinen schmählichen Tod mehr, indem sie von einer Felsklippe in die Tiefe stürzt und Aasgeiern als Fraß dient.

Schneewittchen (2025): Dieb (Andrew Burnap) und Prinzessin (Rachel Zegler) / © Disney Enterprises, Inc.

Schneewittchen (2025): Dieb (Andrew Burnap) und Prinzessin (Rachel Zegler) / © Disney Enterprises, Inc.


_____________________
MEHR ZUM THEMA
Märchenhafte Drehorte: Wo Schneewittchen und die sieben Zwerge wohnen
Hinter den sieben sächsischen Bergen: Schneewittchen (DDR 1961)
Das Imperium schießt zurück: Schneewittchen und die sieben Zwerge (D 1939)

Vielmehr wird ein Showdown inszeniert, in dem sich Schneewittchen mutig an die Spitze des Volkes stellt und die Königin nebst ihren Wachen herausfordert. Kein spektakulärer Kampf, wie noch in „Spieglein, Spieglein“ sowie „Snow White and the Huntsman“, entscheidet über Sieg und Niederlage, sondern ein – um im Bild zu bleiben – nachdenklich machendes Wortgefecht. Dabei erfüllt sich am Ende ganz nebenbei auch die Weissagung: If it’s purple, someone’s gonna die.

Film: „Schneewittchen“ (Snow White, USA/GB/I/D 2025, Regie: Marc Webb). Kinostart in Deutschland: 20. März 2025

Drehorte: u. a. Pinewood Studios, Pinewood Road, Iver Heath SL0 0NH, Vereinigtes Königreich

Verwendete Quellen:

  • Bellantoni, Patti: If it’s purple, someone’s gonna die. The Power of color in visual storytelling. Oxford: Focal Press, 2005
  • Brüder Grimm: Schneeweißchen. Schneewitchen. In: Kinder- und Hausmärchen. Die handschriftliche Urfassung von 1810. Hrsg. und kommentiert von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam, 2007, S. 75–79.
  • Brüder Grimm: Sneewittchen. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam, 1980, Bd. 1, S. 269–278.
  • Buske, Manuela: Die dramaturgische Bedeutung von Farbe im Animationsfilm. [o. O., o. V.] 2012
  • Flückiger, Barbara: Motion Capture. In: Lexikon der Filmbegriffe. Hrsg. von Christian-Albrechts-Universität Kiel u. a. (abgerufen: 20.3.2025)
  • Harmening, Dieter: Apfel. In: Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart: Reclam, 2005, S. 41.
  • Marschall, Susanne: Gelb. In: Farbe im Kino. Marburg: Schüren, 2009, S. 67–78.
  • Melendez, Miguel A.: Peter Dinklage Slams Disney’s Live-Action ‚Snow White and the Seven Dwarfs’ Remake. In: Entertainment Tonight (vom: 25.1.2022, abgerufen: 20.3.2025)
  • Vossen, Ursula: Shrek – Der tollkühne Held. In: Friedrich, Andreas: Filmgenres. Fantasy- und Märchenfilm. Hrsg. von Thomas Koebner. Stuttgart: Reclam, 2003, S. 229–233.

  • Headerfoto: Schneewittchen (2025): Rachel Zegler als Titelfigur und Gal Gadot als böse Königin / © Disney Enterprises, Inc. All Rights Reserved.