Hervorgehobener Beitrag
Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Was ist heute vom DEFA-Märchenfilm der untergegangenen DDR übrig geblieben?

Als der Historiker llko-Sascha Kowalczuk mit „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ (2019) ostdeutsche Befindlichkeiten unter die Lupe nahm, provozierte er – dreißig Jahre nach dem Mauerfall – eine kontroverse Debatte. Lobte der 1976 von der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann in der „Berliner Morgenpost“ Kowalczuks Essay als „glänzendes Buch“ und „wahrhaftige Analyse“, so urteilte im „Deutschlandfunk Kultur“ die DDR-Ex-Leistungssportlerin Ines Geipel deutlich kritischer.

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de


Kowalczuk bediene mit seiner „Strategie des halben Blicks“ nur den „aktuellen Hype: da der Schuld-Westen, dort der Opfer-Osten“, so Geipel, die auch Mitbegründerin des „Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR“ ist. Gleichwohl hält die Zeit des Bilanzziehens unvermindert an. Sie mündet dabei vor allem in einer Frage: Wie wirkt sich eine sogenannte „Übernahme“, oder anders gesagt: der Beitritt der DDR (nach Artikel 23 des alten Grundgesetzes), auf das heutige Deutschland aus?

„Kulturelle Hegemonie“ und fehlende „Ost-Eliten“

Dabei rückte Kowalczuk den Blick auch auf eine westdeutsche ‚Vorherrschaft’ im Kulturbetrieb des seit 30 Jahren vereinten Deutschlands. Diese Erkenntnis war zwar schon damals nicht neu, gewann aber mehr und mehr an Relevanz im öffentlichen Diskurs. Jene ‚West-Dominanz’ nannte Kowalczuk „kulturelle Hegemonie“, geprägt von fehlenden „Ost-Eliten“ und einer damit verbundenen „Abwertung“ ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler.

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de


Dabei meint der wissenschaftlich eher umstrittene Begriff „Eliten“ (vgl. Waldmann 1998, S. 113–116) Personen, die in Institutionen oder Organisationen aufgrund ihrer (Leitungs-)Funktion und der daraus resultierenden Macht einen gesellschaftspolitischen Einfluss besitzen. „Ost-Eliten“ sind hierbei jene, die in der DDR geboren oder nach dem 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern oder Ostberlin geboren und/oder aufgewachsen sind und deren Eltern aus der DDR stammen.

Eine ‚West-Vorherrschaft’ im Märchenfilm nach 1990?

Zwar gibt es einige wenige Statistiken, die den Anteil der Ostdeutschen an den gesamtdeutschen Eliten bemessen (vgl. Kollmorgen 2021), doch gilt landläufig die Meinung, dass sich ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler „im vereinten Vaterland noch am besten behauptet“ haben (Eckert 2021, S. 283).

Dennoch finden sich selten valide Erhebungen, die sich tiefergehend dem Kulturbetrieb, zum Beispiel der Filmbranche widmen. Schon gar nicht dem bundesdeutschen Märchenfilm, der aber vor dem Hintergrund der 40-jährigen DDR-Märchenfilmgeschichte und des anhaltenden gesamtdeutschen Märchenfilmbooms seit Mitte der 2000er-Jahre einen näheren Blick lohnt und Fragen aufwirft.

Gibt es heute (oder immer noch) eine sogenannte „Repräsentationslücke“ (Kollmorgen 2021, S. 231) von DDR-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern, oder umgekehrt gefragt eine ‚West-Vorherrschaft’, im bundesdeutschen Märchenfilm nach 1990? Und wenn ja, wie groß ist diese, was sind hierfür die Gründe und folgen daraus unmittelbare Defizite?

Die Abwicklung von DFF und DEFA

Als die DEFA, das ehemalige staatliche Filmstudio der DDR, 1992 von der Treuhandanstalt an einen französischen Mischkonzern verkauft wird, blickt es in seiner über 45-jährigen Geschichte auf etwa 40 Schauspieler-Märchenkinofilme zurück. Zudem produziert die DEFA für den staatlichen Deutschen Fernsehfunk (DFF, 1956–1971, 1990–1991) bzw. das Fernsehen der DDR (1972–1990) etwa 20 Märchenfernsehfilme bzw. -spiele.

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG


Ihr künstlerisches Niveau, lobenswerte Leistungen der Schauspielstars und dramaturgisch gut durchdachte Geschichten machten viele der Märchenadaptionen – trotz einer mal mehr, mal weniger durchschimmernden Ideologie – damals wie heute zu Filmklassikern, die sogar in den Westen exportiert und dort in TV und Kino gezeigt wurden. Dennoch fielen mit der Abwicklung von DEFA und DFF schlagartig zwei Institutionen weg, die diese Märchenfilme produzierten. Das daran beteiligte künstlerische Personal verlor von heute auf morgen seine gesicherte Existenz.

Neuanfang in unbekanntem Produktionsmarkt

„Das Telefon stand plötzlich still“, erinnerte sich später der Filmkomponist Peter M. Gotthardt in einem Interview an die Nachwendezeit – und meinte damit die ausbleibenden Aufträge. Gotthardt, der mit der Filmmusik zu „Die Legende von Paul und Paula“ (DDR, 1973, R: Heiner Carow), aber auch zum DEFA-Märchenfilm „Schneeweißchen und Rosenrot“ (DDR, 1979, R: Siegfried Hartmann) zu den wichtigsten DDR-Filmkomponisten zählte, schaffte den Neuanfang in einem gänzlich unbekannten Produktionsmarkt mit hohem Konkurrenzdruck. Vielen anderen Kolleginnen und Kollegen gelang das allerdings nicht.

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR


Das hatte auch damit zu tun, dass sich – auf das Märchenfilmgenre bezogen – die Nachfolger des DFF, die 1992 neu gegründeten ARD-Landesrundfunkanstalten Mitteldeutscher Rundfunk (MDR) und Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB, seit 2003: Rundfunk Berlin-Brandenburg, kurz: RBB) erst einmal neu aufstellen mussten (vgl. Wiedemann 2017, S. 215). Die Produktion neuer Märchenfilme stand nicht auf der Tagesordnung. Das künstlerische DEFA-Märchenfilmerbe schien vorerst niemanden zu interessieren.

Einige ‚Überläufer’ in Fernsehen und Kino

Mit wenigen Ausnahmen: MDR und ORB übernahmen 1992 gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem Sender Freies Berlin (SFB) die Endproduktion von „Sherlock Holmes und die sieben Zwerge“ (TV-Erstausstrahlung: 10.5.1992). Gedreht wurde die 8-teilige Fantasy-Serie nach Motiven der Brüder Grimm noch von der bereits abgewickelten DEFA-Studio Babelsberg GmbH (vgl. Wiedemann 2015, S. 9).

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB


Der Filmstab gehörte fast ausschließlich zum früheren DEFA-Personal: Die Regie übernahm der ehemalige DDR-Regisseur Günter Meyer (u. a. „Spuk unterm Riesenrad“, 1978), der bis Anfang der 2000er-Jahre weiter Akzente im Fantasy-Fach setzte.

Zudem starteten sogenannte ‚Überläufer’ wie „Das Licht der Liebe“ (DDR/D 1991) und „Olle Hexe“ (DDR/D 1991), die bereits vor dem 3. Oktober 1990 abgedreht, aber erst danach im gesamtdeutschen Kino uraufgeführt wurden.

Stabile Strukturen und Netzwerke im Westen

Der frühe gesamtdeutsche Märchenfilm nach 1990 wurde dennoch von den Akteurinnen und Akteuren in den etablierten alten Bundesländern geprägt. Hier gab es Strukturen und Netzwerke, die über Jahrzehnte gewachsen waren und sich weiter als stabil erwiesen. So führte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) Anfang der 1990er-Jahre seine Reihe „Die Welt des Märchens“ fort. Darin verfilmte der öffentlich-rechtliche Sender in Koproduktion mit der ČSSR (später: ČSFR und ČZ) sowie westeuropäischen Fernsehanstalten bekannte Märchen für Kino und TV.

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF


Opulente Produktionen wie „Dornröschen“ (ČSSR/D/F 1990), „Der Reisekamerad“ (ČSSR/D/F/I/AT 1990), „Der Froschkönig“ (ČSFR/D/F/I 1991), „Schneewittchen und das Geheimnis der Zwerge“ (ČSFR/D/I/ES 1992) oder „Des Kaisers neue Kleider“ (ČZ/D/ES/I 1994) rekrutierten ihr Personal dabei ausschließlich aus populären westdeutschen Schauspielstars, wie Iris Berben, Judy Winter, Michael Degen oder Harald Juhnke, und tschechoslowakischen Filmschaffenden.

Ebenso verfuhr die ARD, die „Das Zauberbuch“ (ČZ/D 1996) mitproduzierte, oder der Bayerische Rundfunk (BR), der sich an „Der Feuervogel“ (ČZ/D 1997) und „Die Seekönigin“ (ČZ/D 1998) beteiligte. Ostdeutsches Personal war auch hier, aufgrund der beteiligten westdeutschen Landesrundfunkanstalt (BR), so gut wie nicht vertreten.

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF


Für westliche Entscheidungsträgerinnen und -träger in ARD und ZDF kamen Ostdeutsche auch deshalb nicht infrage, weil etwaige künstlerische Positionen in den TV-Redaktionen oder Filmstäben ohnehin bereits besetzt waren. Eine Neu- oder Umverteilung war nicht gewollt.

Ostdeutsche Aspirantinnen und Aspiranten wurden nicht zuletzt diskreditiert („Bolschewistenfunk“), weil sie nach Ansicht der westdeutschen Elite mit ihrer (künstlerischen) Arbeit das DDR-Regime direkt oder indirekt gestützt hätten. Und das, obwohl nach dessen Ende das DEFA- und DFF-Personal über berufliche Qualifikationen und notwendiges Fachwissen verfügte.

Lichtblick am Ende der 1990er-Jahre

Da wirkte es wie eine große Überraschung als Ende der 1990er-Jahre der frühere DEFA-Regisseur Rolf Losansky „Hans im Glück“ (D 1999) vorlegte – und dabei auf ein proportional ausgeglichenes hochkarätiges Ost-West-Schauspielensemble zurückgriff. Der Grund dafür mag darin gelegen haben, dass den von der Westberliner Genschow-Film GmbH produzierten Märchenfilm neben dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) auch der in Potsdam ansässige ORB und der 1997 im thüringischen Erfurt gestartete ARD-/ZDF-Kinderkanal (seit 2012: KiKA) mitfinanzierte, für den der MDR bis heute verantwortlich ist.

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film


Und auch wenn der Posten des KiKA-Programmgeschäftsführers von 1997 bis 2017 mit westdeutsch sozialisierten männlichen Entscheidungsträgern besetzt wurde (seit 2018: Astrid Plenk aus Bernburg/Sachsen-Anhalt), ist es denkbar, dass sich schon Ende der 1990er-Jahre die Redaktionen zum Teil aus ostdeutschem Personal zusammensetzten – und sich dieser Umstand auf die Märchenfilm-Produktionsplanung (Regie, Drehbuch, Schauspiel etc.) auswirkte.

Märchen-Parodien in Kino und TV für Erwachsene

Dennoch ging von „Hans im Glück“ vorerst keine Trendwende aus. Schlichtweg aus dem einfachen Grund, weil das deutsche Märchenfilmgenre Anfang der 2000er-Jahre keine wichtigen Adaptionen nach Grimm, Andersen und Co. für ein Kinderpublikum produzierte. Fragen nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ spielten deshalb vorerst noch keine Rolle.

Gleichwohl war das Märchen weiter präsent: als Parodie in Kino und TV für Erwachsene. So funktionierten die von Otto Waalkes mitproduzierten Filmkomödien „7 Zwerge – Männer allein im Wald“ (D 2004) und „7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug“ (D 2006) an den Kinokassen. Und im Privatsender ProSieben flimmerte „Die Märchenstunde“ (D/AT/ČZ 2006–2012) der Rat Pack Filmproduktion (München) über die Bildschirme.

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures


Hier wie dort griffen die Filmverantwortlichen auf westdeutsches Personal zurück, das vor oder hinter der Kamera agierte, wenn man von wenigen im Osten geborenen Schauspielstars (Nina Hagen, Mirco Nontschew, Jeanette Biedermann etc.) einmal absah.

„Sechs auf einen Streich“ und „Märchenperlen“

Ab Mitte der 2000er-Jahre erlebte der Märchenfilm im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von ARD und ZDF ein Comeback. Die meist an den Weihnachtsfeiertagen erstmalig gezeigten Adaptionen der Reihen „Märchenperlen“ (ZDF, seit 2005, auch Koproduktionen) und „Sechs auf einen Streich“ (ARD, seit 2008) richteten sich dabei sowohl an ein Kinder- als auch Familienpublikum.

Dafür gründete die Kinder- und Jugendredaktion des ZDF Anfang der 00er-Jahre eine Art ‚Think Tank’, dem auch der Münchner Filmproduzent Ernst Geyer angehörte. Die Denkfabrik sollte eine Konzeption für zunächst sechs Märchenfilme entwickeln. Darin wurden auch fünf Drehbuchautoren und eine Drehbuchautorin aus den alten Bundesländern berufen. Mitfinanziert wurden die ersten vier Märchenfilme (2005–2008) neben der Länderförderung Bayern und Hamburg von der in Leipzig ansässigen Mitteldeutschen Medienförderung (vgl. Ungureit 2009, S. 10f.).

Ostdeutsche im ARD- und ZDF-Märchenfilm

Um tendenzielle Aussagen darüber zu treffen, ob und wie viele DDR-sozialisierte Filmemacherinnen und -macher das bundesdeutsche Märchengenre mitpräg(t)en, soll der Blick stichprobenartig auf die Bereiche Regie und Drehbuch gelenkt werden.

Bis 2021 drehte das ZDF 19 Märchenfilme*, an denen insgesamt 13 Regisseure (10) und Regisseurinnen (3) beteiligt waren. Davon sind zwei (15 Prozent)** im Osten geboren: Karola Hattop, die seit 1973 Kinder- und Familienfilme für das DDR-Fernsehen und später für das ZDF zwei Märchenfilme („Die sechs Schwäne“, 2012 und „Die Schneekönigin“, 2014) inszenierte, sowie Carsten Fiebeler („Die goldene Gans“, 2013), der erst nach der Wende als Regisseur arbeitete. Koproduziert wurden diese drei ZDF-Märchenfilme von der im Jahr 2000 im thüringischen Erfurt gegründeten Kinderfilm GmbH (später: Mideu Films GmbH).

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans


Anders als beim ZDF verteilt sich die Produktion der ARD-Märchenfilme auf die neun Landesrundfunkanstalten. Die in der DDR geborene ehemalige RBB-Mitarbeiterin Sabine Preuschhof koordinierte die Reihe „Sechs auf einen Streich“ in den ersten Jahren. Werden die 52 ARD-Adaptionen bis 2021 im Hinblick auf Ost-West-Besetzung ausgewertet, zeigt sich folgendes Bild: Von insgesamt 26 Regisseuren (20) und Regisseurinnen (6) haben fünf (19 Prozent) eine Ost-Sozialisation**.

Fürneisen und Fiebeler gehören zu Top-Regisseuren

Darunter ist Bodo Fürneisen, der bei fünf ARD-Märchenfilmen auf dem Regiestuhl sitzt – er wird nur übertroffen vom westdeutschen Regisseur Christian Theede mit sechs NDR-Adaptionen. Fürneisen hatte bereits für das DDR-Fernsehen die Klassiker „Die Geschichte vom goldenen Taler“ (DDR 1985) sowie „Die Weihnachtsgans Auguste“ (DDR 1988) inszeniert. Fiebeler kommt insgesamt auf vier ARD-Adaptionen und zeigt, dass man in ZDF und ARD erfolgreich Märchen verfilmen kann.

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR


Dabei verantwortet die fünf Fürneisen-Märchenfilme und eine Fiebeler-Adaption die in Potsdam ansässige Landesanstalt RBB. Fiebelers drei andere ARD-Verfilmungen entstehen zwar unter Federführung der westdeutschen Anstalten Hessischer Rundfunk (HR) bzw. Südwestrundfunk (SWR), werden aber zum Teil von der Kinderfilm GmbH produziert: „Das blaue Licht“ (D 2010).

Nur wenige ‚ostdeutsche’ Märchenfilm-Drehbücher

Bei zwei weiteren mit Osthintergrund (Regie) gedrehten Filmen ist neben Radio Bremen (RB), dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem HR auch der MDR als Koproduzent vertreten. Einen weiteren Märchenfilm verantwortet die in Leipzig ansässige Landesanstalt ganz allein, wobei zudem die Kinderfilm GmbH das Märchen im Auftrag des MDR produziert.

Im Hinblick auf eine Ost-West-Sozialisation von Drehbuchautorinnen und -autoren im ZDF- und ARD-Märchenfilm zeigt sich ein ähnliches Bild: Von insgesamt 17, die an den „Märchenperlen“ beteiligt sind, hat nur ein Drehbuchschreiber (6 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Dieser ist aber an drei ZDF-Märchenfilmen beteiligt. Bei den ARD-Produktionen haben von insgesamt 28 Autorinnen und Autoren vier (14 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Zwei davon arbeiten allerdings gleich an drei Märchenfilmen mit.

Von „Das kalte Herz“ zu „Timm Thaler“

Einzelne Kinofilme in den 2010er-Jahren wie die Filmmärchen „Aschenbrödel und der gestiefelte Kater“ (D 2013) und „Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte“ (D 2013, koproduziert vom BR), aber auch das nach einer klassischen Vorlage entstandene „Das kalte Herz“ (D 2016, koproduziert u. a. von ARD/MDR/SWR und mitfinanziert u. a. von Mitteldeutsche Medienförderung und Medienboard Berlin-Brandenburg) entstehen wieder weitgehend mit westdeutsch sozialisierten Filmschaffenden, wobei letztere Märchenverfilmung mit André M. Hennicke und Jule Böwe zwei ostdeutsch sozialisierte Schauspielstars engagiert.

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH


Eine Ausnahme stellt die fantastische Romanverfilmung „Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen“ (D 2017) dar, die u. a. von den im thüringischen Gera geborenen Andreas Dresen (Regie) und Jörg Hauschild (Schnitt) sowie von der aus Potsdam stammenden Sabine Greunig (Kostüme) inszeniert wurde. Ostdeutsche wie Charly Hübner, Nadja Uhl, Reiner Heise oder Steffi Kühnert, aber auch die westdeutschen Schauspieler Justus von Dohnányi, Axel Prahl oder Bjarne Mädel machten den u. a. vom ZDF koproduzierten Kinofilm zu einem gesamtdeutschen Projekt.

Ostanteil proportional zur Gesamtbevölkerung

Demnach sind seit 1990 in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden, die entweder vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ARD, ZDF) oder von freien Produktionsfirmen hergestellt wurden. Doch untermauern die Statistiken und Filmbeispiele die These, dass es im bundesdeutschen Märchenfilm heute noch eine „Repräsentationslücke“ von DDR- oder ostdeutsch-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern gibt?

Vor dem Hintergrund, dass etwa 17 Prozent aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger ostdeutscher Herkunft sind (vgl. Kollmorgen 2021, S. 235) und diese Zahl als Vergleichsgröße gilt, wirkt der Regieanteil im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von 19 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“) und 15 Prozent (ZDF: „Märchenperlen“) sowie der Drehbuchanteil von 14 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“)** relativ proportional. Nur der ‚ostdeutsche’ Drehbuchanteil am ZDF-Märchenfilm von 6 Prozent ist unterproportional.**

Die Zahlen zeigen zudem wenig überraschend, wenn die beiden ‚Ost-Landesanstalten’ RBB und MDR an Märchenfilmen der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ beteiligt sind, werden für die Posten Drehbuch und Regie ebenso ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler interessant. Zudem wirkt sich die Beteiligung ostdeutscher Produktionsfirmen, beispielsweise der „Kinderfilm-GmbH“, auf den Anteil im Osten sozialisierter Akteure und Akteurinnen aus.

ARD-Landesanstalten mit ‚Lokalpatriotismus’

Dennoch lässt das nicht pauschal den Schluss zu, die in Thüringen bzw. Sachsen-Anhalt ansässige Firma arbeite vorrangig mit ostdeutschem Personal, im Unterschied zu im Westen ansässigen Produktionsfirmen.

Dafür spricht, dass „Kinderfilm“ auch ZDF-Märchenfilme verantwortete, die eine westdeutsche Regisseurin (Anne Wild: „Hänsel und Gretel“, 2006) oder einen westdeutschen Regisseur (Frank Stoye: „Der Zauberlehrling“, 2017; „Der süße Brei“, 2018) rekrutierten. Das gilt auch für die von „Kinderfilm“ produzierten ARD-Märchenfilme „König Drosselbart“ (D 2008), „Die Gänsemagd“ (D 2009) und „Rotkäppchen“ (D 2012) – alle in der Regie der Münchnerin Sibylle Tafel.

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland


Trotzdem scheint es, dass „Kinderfilm“ – im Gegensatz zu im Westteil Deutschlands ansässigen Produktionsfirmen – ein Stück weit sensibilisierter mit der Rekrutierung von Filmschaffenden umgeht. Andererseits kann dem Unternehmen, wie auch einigen ost- und westdeutschen ARD-Landesrundfunkanstalten allgemein vorgehalten werden, dass sie einen ‚Lokalpatriotismus’ bedienen, das heißt: vor allem Filmschaffende engagieren, die auf dem Gebiet der jeweiligen Rundfunkanstalt oder eines Bundeslandes leben und für den Sender bereits arbeiten.

Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Wenn RBB und MDR keine oder weniger im Osten sozialisierte Künstlerinnen und Künstler rekrutieren würden, lägen die Anteile bei Regie und Drehbuch deutlich unter dem erwähnten quantitativen Minderheitenstatus der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung (17 Prozent). Denn die anderen sieben im Westen ansässigen Landesanstalten NDR, RB, WDR, HR, SWR, BR und Saarländischer Rundfunk (SR) würden das mit dem von ihnen engagierten Ostpersonal nicht auffangen.

Die ostdeutsche Übernahme

Doch wie wirkt sich der Ost-Regieanteil von 19 bzw. 15 Prozent sowie -Drehbuchanteil von 14 bzw. 6 Prozent auf die öffentlich-rechtliche Märchenfilmproduktion** aus? Folgen daraus unmittelbare Defizite?

Glaubt man Josef Göhlen, ehemaliger Leiter des Kinderprogramms beim HR und ZDF, so ist es genau umgekehrt: Der heutige bundesdeutsche Märchenfilm ist eigentlich ein DEFA-Märchenfilm 2.0. Denn für Göhlen orientieren sich die ARD- und ZDF-Märchen „an einer tradierten Märchendramaturgie, wie sie seinerzeit insbesondere von der ostdeutschen Produktionsfirma DEFA gepflegt wurde“ (Gangloff 2016, S. 8f.). Damit meint er, dass darin die Armen und Unterdrückten immer zu den im ethischen Sinn Guten, die Reichen dagegen durchgehend zu den Bösen zählten. Er halte es für einen großen Fehler, diese Dramaturgie nachzuahmen.

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR


Die Schweizer Filmkritikerin Christine Lötscher meint, dass sich die ARD- und ZDF-Adaptionen zudem gestalterisch „an der historisierenden Ästhetik der DEFA-Märchenfilme“ (Lötscher 2017, S. 310) orientieren. Und: Wie den DDR-Produktionen liege dem öffentlich-rechtlichen Märchenfilm „eine Analyse und Interpretation der Textvorlage zugrunde; die zeitlosen Konflikte der Figuren werden konkretisiert, psychologisiert und in die Gegenwart übertragen“ (ebd. S. 311). Allerdings gelinge es eher selten, den ganz eigenen Zauber der DEFA-Filme zu reproduzieren.

Daraus wäre auf die hier diskutierte Frage zu schließen, dass sich seit 1990 keine westdeutsche „Übernahme“ in der gesamtdeutschen Märchenfilmproduktion, sondern umgekehrt eine ostdeutsche „Übernahme“ vollzogen hat – wenn auch ‚nur’ in dramaturgischer und gestalterischer Hinsicht.

Diversität: Frauenanteil und Migrationshintergrund

Gleichwohl bleibt damit die Frage nach einer angemessenen personellen ostdeutschen Teilhabe in der bundesdeutschen Märchenfilmproduktion bestehen. Flankiert wird sie allerdings im 21. Jahrhundert mit der Forderung nach einer generellen Diversität in diesem Filmgenre: Die stichprobenartigen Statistiken zeigten beispielsweise, dass der Frauenanteil – nicht nur im Regie- und Drehbuchfach – sehr gering ist.

Zudem sind Filmschaffende mit Migrationshintergrund noch Ausnahmen. Der deutsch-türkische Regisseur Cüneyt Kaya („Das Märchen vom goldenen Taler“, 2020), der in Istanbul geborene Regisseur und Drehbuchautor Su Turhan („Die drei Federn“, 2014; „Prinzessin Maleen“, 2015; „Der starke Hans“, 2020) oder der in Vietnam geborene Kameramann und Regisseur Ngo The Chau (u. a. „Die Hexenprinzessin“, D/CZ, 2020) sind drei Beispiele. Ebenso lassen sich hier der Finne Hannu Salonen („Des Kaisers neue Kleider“, 2010) oder die in Stockholm geborene deutsche Regisseurin Maria von Heland („Die Sterntaler“, 2011; „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, 2013) nennen.

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein


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DDR reloaded: Der identitätsstiftende DEFA-Märchenfilm

Die Frage nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ im deutschen Märchenfilmgenre sollte deshalb um andere Gruppen (Frauen, Migrationshintergrund) in den nächsten Jahren erweitert werden. Um das personelle Defizit ausgeglichener zu gestalten, braucht es nicht unbedingt starre Quotenregelungen. Dafür sensibilisierte Filmschaffende in den Chefinnen- und Chefetagen wären schon einmal ein Anfang.

* Ohne den Märchenfilm „Zwerg Nase“ (D, 2008, R: Felicitas Darschin). Dieser entstand im Auftrag des BR, wird aber zu den ZDF-„Märchenperlen“ gezählt, obwohl der Sender nicht daran beteiligt war.

** Die Herkunft der Filmschaffenden wurde in öffentlichen Quellen (Internet, Fachmedien) recherchiert und/oder individuell bei den Künstlerinnen und Künstlern angefragt (E-Mail). Da nicht zu allen Filmschaffenden die Herkunft recherchiert werden konnte, können die Zahlen prozentual leicht abweichen (Stand: 24.3.2022).

Verwendete Quellen:


Headerfoto: Die kluge Bauerntochter (BRD 2010): Die Titelfigur (Anna Maria Mühe, l.) und ihre Freundin die Magd (Sabine Krause) bestaunen das Fernrohr des Königs / Foto: MDR/Sandy Rau

Weibliche Perspektiven: Die feuerrote Blume (UdSSR 1978)

Weibliche Perspektiven: Die feuerrote Blume (UdSSR 1978)

Auch das Märchenfilmgenre ist eine Männerdomäne. Selten sitzt eine Frau auf dem Regiestuhl oder schreibt das Drehbuch. In der sowjetischen Verfilmung frei nach „Die Schöne und das Biest“ von 1978 ist das anders.

Sie sind in der Branche immer noch in der Minderheit. Und das seit den Anfängen des Films vor mehr als 125 Jahren: Frauen. Gewiss wurden und werden sie gern vor der Kamera (von zumeist Männern) positioniert, oder sagen wir: drapiert, aber dahinter – als Regisseurin oder Drehbuchschreiberin – sind Frauen nur vereinzelt zu finden.

Der Märchenfilm als eines der ältesten Filmgenres ist da keine Ausnahme, gleichwohl es die Französin Alice Guy (1873–1968) ist, die mit „Die Kohlfee“ (franz. La Fée aux Choux, F 1895/96) einen der ersten Fantasyfilme dreht. Eine Fee verwandelt darin Kohlköpfe in niedliche Babys.

Doch in der Wirklichkeit der nachfolgenden Filmjahrzehnte hält keine märchenhafte Fee oder Patin eine schützende, besser: fördernde Hand über Filmemacherinnen. Das zeigt sich exemplarisch an einem Märchen, das weltweit zu den beliebtesten zählt und mehrmals verfilmt wird: „Die Schöne und das Tier“ (franz. La belle et la bête).

Von Frauen verfasst, von Männern verfilmt

Das Kunstmärchen geht auf zwei Feengeschichten der beiden Französinnen Gabrielle-Suzanne de Villeneuve (1685–1755) und Jeanne-Marie Leprince de Beaumont (1711–1776) zurück. Hier wie dort erlöst ein Mädchen („die Schöne“) den in eine Bestie verwandelten Prinzen („das Tier“) mit seiner Liebe.

Allerdings wird die von Frauen erdachte und aufgeschriebene Geschichte später zumeist von Männern als Schauspielfilm adaptiert.

Es war einmal (F 1946): Jean Marais (Bestie) und Josette Day (Belle) in den Hauptrollen / © Ring-Film

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Die Schöne und das Ungeheuer (ČSSR 1978): Zdena Studenková und Vlastimil Harapes / © Filmstudio Barrandov

Die Schöne und das Ungeheuer (ČSSR 1978): Zdena Studenková und Vlastimil Harapes / © Filmstudio Barrandov


Allen voran Jean Cocteaus (1889–1963) „Es war einmal“ (franz. La belle et la Bête, F 1946), die tschechoslowakische Version „Die Schöne und das Ungeheuer“ (auch: „Die Jungfrau und das Ungeheuer“, tschech. Panna a netvor, ČSSR 1978) von Juraj Herz (1934–2018), die ZDF-Koproduktion „Die Schöne und das Biest“ (D/AT 2012) von Marc-Andreas Bochert, die deutsch-französische Christophe-Gans’-Verfilmung von 2014 oder die US-amerikanische Walt-Disney-Adaption von Bill Condon, die 2017 in die Kinos kommt – um nur einige Beispiele zu nennen.
Die Schöne und das Biest (D/AT 2012): Elsa (Cornelia Gröschel), das Tier (Max Simonischek) / © ZDF/Michael Mrkvicka

Die Schöne und das Biest (D/AT 2012): Elsa (Cornelia Gröschel), das Tier (Max Simonischek) / © ZDF/Michael Mrkvicka


Die Schöne und das Biest (USA 2017): Emma Watson und Dan Stevens in den Hauptrollen / © 2016 Disney Enterprises

Die Schöne und das Biest (USA 2017): Emma Watson und Dan Stevens in den Hauptrollen / © 2016 Disney Enterprises

„Die feuerrote Blume“ von Irina Powolozkaja

Nur die ostdeutsche Puppentrickfilmerin Katja Georgi (1928–2018) mit ihrem Animationsfilm „Die Schöne und das Tier“ (DDR 1976) und die sowjetische Filmemacherin Irina Powolozkaja mit dem Realfilm „Die feuerrote Blume“ (russ. Аленький цветочек, UdSSR 1978) – „nach Motiven von Märchen über die Schöne und das Ungeheuer“ – fallen aus dem männlich geprägten (Regie-)Rahmen.

Dabei zeigt gerade „Die feuerrote Blume“ weibliche Perspektiven, die den Märchenfilm von seinen männlichen Pendants unterscheiden. Freilich ist ein Grund dafür Regisseurin Powolozkaja selbst, die neben ihrer Kollegin Nadeshda Koschewerowa (1902–1989) zu den wenigen Filmemacherinnen gehört, die in der Sowjetunion Märchen verfilmen.

Gewiss kommt sie zahlenmäßig nicht an Koschewerowa (u. a. „Aschenbrödel“, russ. Золушка, UdSSR, 1947; „Ein uraltes Märchen“, russ. Старая, старая сказка, UdSSR, 1968) heran. Dennoch prägt Powolozkaja in Zusammenarbeit mit Drehbuchschreiberin Natalja Rjasanzewa die Verfilmung des Märchens von der feuerroten Blume.

Von „Aljonkas Blümchen“ zu „Die feuerrote Blume“

Die Autorin nutzt eine russische Variante des Erzähltyps aus dem 19. Jahrhundert, die der Schriftsteller Sergej T. Aksakow (1791–1859) einst in seiner Kindheit hört: Sie trägt den Titel „Aljonkas Blümchen“ (vgl. Aksakow 1919). Später schreibt er die Geschichte noch einmal selbst auf als „Die scharlachrote Blume“. Der ‚Mann’, resp. das ‚Tier’, kommt im Titel nicht mehr vor.

Jene Aljonka, im Film Aljona und gespielt von der 19-jährigen Marina Iljitschowa (1959–2018), ist es, die sich die feuerrote Blume von ihrem Vater (Lew Durow, 1931–2015) wünscht. Denn er geht auf Reisen und möchte seinen drei Töchtern, darunter auch die älteren, aber eitlen und falschen Arina (Olga Korytkowskaja) und Akulina (Jelena Wodolasowa), etwas mitbringen.

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Sie ist hier ein rot leuchtendes Fantasiegewächs / © Icestorm

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Sie ist hier ein rot leuchtendes Fantasiegewächs / © Icestorm


Doch die Wunderblume befindet sich im Besitz eines Waldungeheuers, das einst ein schöner Prinz (Alexander Abdulow, 1953–2008) war und in einem prächtigen Schloss wohnte. Weil er die Liebe einer zauberkundigen Prinzessin (Alla Demidowa) verschmähte, die ihm als Zeichen dafür die feuerrote Blume schenkte, verwandelte sie ihn in eine Kreatur.

Sie kann nur erlöst werden, wenn ein Mädchen sie in dieser Gestalt liebgewänne. Im weiteren Verlauf der Handlung wacht die Prinzessin als neue Schlossherrin misstrauisch über ihr Prinzungeheuer.

Neujustierung des Figurenensembles

All das verrät dem Publikum eine Märchenerzählerin (Eva Mayer), die als Voiceover die Handlung begleitet und mit ihrer Stimme jene hier apostrophierten weiblichen Perspektiven auf der Tonebene gleichsam eröffnet.

Daneben ist es aber vor allem eine (psychologische) Neujustierung des Figurenensembles, die diese Sichtweisen unterstützt: vor allem der Fokus auf die einstige, nun etwas gealterte Zauberprinzessin. Sie spielt – neben Aljona – die heimliche, wenn auch tragische weibliche Hauptrolle. Denn sie treibt die Handlung voran, hinterfragt in ihrer Figur aber ebenso ganz allgemein das Selbstverständnis und das Selbstbild von Frauen.

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Die Zauberin (Alla Demidowa) ist die Urheberin der Verwünschung / © Icestorm

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Die Zauberin (Alla Demidowa) ist die Urheberin der Verwünschung / © Icestorm


Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Sie macht Aljona (Marina Iljitschowa) vorerst unglücklich / © Icestorm

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Sie macht Aljona (Marina Iljitschowa) vorerst unglücklich / © Icestorm


Die populäre, sowjetische Filmkritikerin Vera Shitova (1927–2002) lobt einst Demidowas Schauspiel „einer kaltherzigen, launischen, manierierten und eifersüchtigen Zauberin […] die in der Lage ist, einen ihrer verführerischen Blicke in einer Sekunde in einen anderen zu verwandeln […]“ (Shitova 1978).

Klassische weibliche Figurenpaare

Aljona und die Zauberin ähneln dabei anderen weiblichen klassischen Figurenpaaren im Märchen(-Film): Schneewittchen und böse Königin oder Dornröschen und 13. Fee. Kostüm und Maske bestärken noch die Unterschiede in „Die feuerrote Blume“.

Aljona ist eine junge, ‚natürliche’ Schönheit, die von einer traditionell-volkstümlichen Bauern- und Kaufmannswelt umgeben ist – aber ohne Kopfputz, Schmuck und oftmals ohne Sarafan, jenem langen ärmellosen Trachtenkleid, das ihre Schwestern tragen (Kostüme: Berta Kuratowa). Ein Unterkleid lässt sie dann nur noch mehr schlicht und bescheiden aussehen.

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Traditionell, lebendig und volkstümlich mutet Aljonas Welt an / © Icestorm

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Traditionell, lebendig und volkstümlich mutet Aljonas Welt an / © Icestorm


Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Das verwunschene Schloss, in dem die Zauberin (A. Demidowa) und ihr alter Diener (A. Tschernow) leben, atmet dagegen den Geist der Vergänglichkeit / © Icestorm

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Das verwunschene Schloss, in dem die Zauberin (A. Demidowa) und ihr alter Diener (A. Tschernow) leben, atmet dagegen den Geist der Vergänglichkeit / © Icestorm


Die ältliche Zauberin hingegen steht in den wortwörtlich ausgestorbenen Innenräumen ihres Rokokoschlosses für eine „bewußte Künstlichkeit“ (Liptay 2004, S. 224) und Einsamkeit.

Konstantin Sagorski (auch: Zagorski), der die Ausstattung verantwortet, nutzt dafür offenbar eine reale, außerfilmische Schlossarchitektur – welche genau, ist bislang noch unbekannt. Sagorski hat sein Können bereits in „Aladins Wunderlampe“ (russ. Волшебная лампа Аладдина, UdSSR, 1967, R: Boris Ryzarew) und „Die traurige Nixe“ (russ. Русалочка, UdSSR/BGR, 1976, R: Wladimir Bytschkow) unter Beweis gestellt und lässt in „Die feuerrote Blume“ durch Zimmer und Säle rot- und gelbgefärbtes Herbstlaub wehen – was Vergänglichkeit und Tod signalisiert.

Kostüm, Maske, Schnitt im Märchenfilm

Die verbitterte Zauberin selbst trägt verschiedene Kleider, darunter eines mit Spitzen, Rüschen, Schleifen aus der Epoche des Hochrokoko (1750–1770). Zu ihren Modeaccessoires zählen hier – ganz bestimmend für diesen historischen Zeitabschnitt – eng anliegende Halsbänder aus Samt oder Edelsteinborten.

Dazu setzt ihr das Maskenbild (L. Kusnezowa, I. Gorbunowa) mitunter eine Perücke auf, die den Kontrast zu Aljonas natürlichem langen Echthaar verstärkt. Die Zauberin mutiert so „zur Repräsentantin einer vergangenen Epoche […], die an ihren Formzwängen erkrankt und zum musealen Dekor erstarrt ist“ (ebd. S. 225).

Um die Kontraste noch augenfälliger zu machen, werden die Bilder der beiden Frauen oft hintereinander montiert (Schnitt: G. Sadownikowa). Eine ausgeklügelte Farbdramaturgie (Kamera: Alexander Antipenko) charakterisiert darüber hinaus die Figuren und die Räume, in denen sie agieren: Aljonas Zuhause ist von lebendigen Farben geprägt, die Umgebung der Zauberin gleicht einem viragierten Stummfilm (vgl. Lenk 2022). Natürlichkeit vs. Verfremdung.

Eisenhans und Waldmensch als Vorbilder

Dieser starke Fokus auf weibliche Protagonistinnen bezieht mit ein, dass das Märchen zudem bildlich „fern jeglichen Tierhorrors“ (Liptay 2004, S. 223) erzählt ist.

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Der Prinz (Alexander Abdulow) ist endlich vom Zauber erlöst / © Icestorm

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Der Prinz (Alexander Abdulow) ist endlich vom Zauber erlöst / © Icestorm


Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Der Schauspieler Alexander Abdulow galt in den 1970er- und 1980er-Jahren als einer der schönsten Männer der Sowjetunion und wurde entsprechend besetzt. Er starb mit nur 54 Jahren / © Icestorm

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Der Schauspieler Alexander Abdulow galt in den 1970er- und 1980er-Jahren als einer der schönsten Männer der Sowjetunion und wurde entsprechend besetzt. Er starb mit nur 54 Jahren / © Icestorm

Gerade diesen Aspekt haben männliche Regisseure, wie Jean Cocteau, gestalterisch besonders herausgestellt. Seine animalische, brüllende, oft blutverschmierte Bestie – gespielt von Jean Marais (1913–1998) – trägt eine erschreckende Tiermaske, angefertigt vom französischen Künstler Christian „Bébé“ Bérard (1902–1949).

In „Die feuerrote Blume“ wird auf solche visuellen Schockmomente oder andere Effekthascherei verzichtet. Das Ungeheuer ähnelt eher einem Waldschrat, der im Grimm’schen „Eisenhans“ oder in „Guerrino und der Waldmensch“ des italienischen Märchensammlers Giovanni Francesco Straparola (um 1480– um 1558) seine gestalterischen Vorbilder findet.

Keine betont angsteinflößende Inszenierung

Zwar flößt das Ungeheuer während seines ersten Auftritts – in dem Augenblick, in dem der Kaufmann für seine Lieblingstochter Aljona die Blume im verwilderten Schlossgarten pflückt – durchaus Respekt ein, doch dieser funktioniert vor allem ‚sekundär’ auditiv und visuell:

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Mehr Naturgeist als Bestie – Alexander Abdulow steckt im Kostüm / © Icestorm

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Mehr Naturgeist als Bestie – Alexander Abdulow steckt im Kostüm / © Icestorm


Die Waldszenerie erscheint plötzlich feuerrot, was hier Gefahr und Warnung anzeigt. Eine bedrohlich klingende Musik, ein aufbrausender Wind flankiert die Sequenz. Das Ungeheuer, von dem nur die von Moos umgebende Augenpartie zu sehen ist, brüllt aber nicht, sondern spricht eher enttäuscht-verärgert. Später, als es Aljona kennen und lieben lernt und am Schluss durch sie erlöst wird, ähnelt es einem scheuen Naturgeist im raschelnden Blätterkleid, von menschlicher Größe und Gestalt.

Die Schöne und die Zauberin

Doch letztlich bleiben das Waldungeheuer resp. der Prinz, der Kaufmann und auch der Alte (Alexei Tschernow) – der hier als „Mentor“ (nach Christopher Vogler) neu ins Drehbuch aufgenommen wird und den Figuren den Weg weist – nur männliche Rand- und Nebenfiguren in dieser äußerst poesievollen Verfilmung.

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Die Zauberin (Alla Demidowa, r.) mit Aljona (Marina Iljitschowa) / © Icestorm

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Die Zauberin (Alla Demidowa, r.) mit Aljona (Marina Iljitschowa) / © Icestorm


Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Am Ende verlässt die Zauberin mit dem Alten das Schloss / © Icestorm

Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Am Ende verlässt die Zauberin mit dem Alten das Schloss / © Icestorm


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MEHR ZUM THEMA
Ästhetik im Märchenfilm: Die Schöne und das Biest (F 2014)
Mach’s noch einmal, Bill: Die Schöne und das Biest (USA 2017)

Die eigentlichen Hauptfiguren sind weiblich: Aljona und die Zauberin. Durch sie oder mit ihnen erlebt das Publikum das Märchen aus einer betont weiblichen Perspektive und Sichtweise: erzählerisch und ästhetisch. Dabei agieren beide Frauen nicht als Objekte (eines männlichen Blicks), sondern als Subjekte – von denen die eine die Kraft hat zu lieben, die andere (noch) nicht. So sollte die Geschichte im Eigentlichen den Titel tragen: Die Schöne und die Zauberin.

Film: „Die feuerrote Blume“ (1978, UdSSR, R: Irina Powolozkaja). Ist auf DVD erschienen.

Verwendete Quellen:

  • Aksakov, Sergej T.: Die rote Wunderblume. Aus dem Russischen von Juri Elperin. Illustrationen: Viktoria Kitavina. Weinböhla, 2015
  • Aksakow, Sergej T.: VII. Gymnasium. Erste Periode. In: S. T. Aksakow’s Familienchronik. Nach Sergius Raczynskis Übertragung aus dem Russischen bearbeitet und erweitert von H. Röhl. Leipzig, 1919 (abgerufen: 23.8.2023)
  • Berger, Eberhard: Die feuerrote Blume (1978). In: Berger, Eberhard/Giera, Joachim (Hrsg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin, 1990, S. 218–221.
  • Lenk, Sabine: Virage. In: Lexikon der Filmbegriffe (zuletzt geändert: 9.3.2022, abgerufen: 23.8.2023)
  • Liptay, Fabienne: Die feuerrote Blume (1978). In: Wunderwelten. Märchen im Film. Remscheid, 2004, S. 222–226.
  • Shitova, Vera: Аленький цветочек (1977). In: Спутник кинозрителя (August 1978). Unter: kino-teatr.ru (abgerufen: 23.8.2023)


Headerfoto: Die feuerrote Blume (UdSSR 1978): Marina Iljitschowa spielt das Mädchen Aljona, das sich in ein Waldungeheuer verliebt / © Icestorm Entertainment