Archiv für den Monat: Juli 2020

Gegen den blonden Strich gebürstet: Aschenputtel (2011)

Gegen den blonden Strich gebürstet: Aschenputtel (D 2011)

Eine Titelheldin mit Migrationshintergrund, viel Slapstick und ein junger Mann im Ballkleid, der dem Prinzen Heiratsavancen macht: Der ARD-Märchenfilm zeigt mit „Aschenputtel“, dass er im 21. Jahrhundert angekommen ist.

Welcher Regisseur auch heute das Grimm’sche Märchen vom „Aschenputtel“ adaptiert: An dem Filmklassiker „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ wird er allemal gemessen. Und das, obwohl die Vorlage des Kultfilms eigentlich auf ein Märchen der tschechischen Schriftstellerin Božena Němcová zurückgeht und mit dem „Aschenputtel“ der Brüder Grimm wenig gemeinsam hat. Dennoch: Das emanzipierte tschechische Aschenbrödel hat dem eher passiven deutschen Aschenputtel auf Kinoleinwand und Bildschirm bisher den Rang abgelaufen.

Frust abbauen: Aschenputtel (Aylin Tezel) bedient alles andere als Klischees / © WDR/Hardy Spitz

Frust abbauen: Aschenputtel (Aylin Tezel) bedient alles andere als Klischees / © WDR/Hardy Spitz


Als die ARD 2011 entscheidet, die Brüder-Grimm-Vorlage neu zu verfilmen, möchten das Drehbuchautor David Ungureit und Regisseur Uwe Janson ändern: Nicht nur, dass ihre Adaption mit Versatzstücken des „Aschenbrödel“-Klassikers arbeitet – oftmals ironisch gebrochen –, auch die konsequent gegen den Strich besetzten Darsteller in ihren Rollen, eine gestraffte Filmhandlung und zeitgemäße Dialoge wollen das Original modernisieren.

Romantische Drehorte vs. drastischer Psycho-Terror

"Aschenputtel" (1895) / Thekla Brauer

„Aschenputtel“ (1895) / Thekla Brauer

Der Moment der märchenhaften Alltagsentrückung bleibt dennoch erhalten: Als Aschenputtel zu Beginn am verwitterten Grabstein seiner verstorbenen Mutter kniet, erinnert das an ikonisch gewordene Bilder dieses Märchens, zum Beispiel von der Illustratorin Thekla Brauer vom ausgehenden 19. Jahrhundert (Szenenbild: Oliver Munck). Das und andere erschienen damals in einer Ausgabe mit dem Titel „Grimm’s Kinder- und Hausmärchen“ von 1895. Historisch-romantisch ist auch der Drehort, an dem ein Großteil der Szenen des ARD-Märchenfilms entsteht: Das LWL-Freilichtmuseum Detmold wird zum Gutshof, in dem Aschenputtel mit Stiefmutter (Barbara Auer) und Stiefschwester Annabella (Pheline Roggan) lebt.
Frauenhaushalt: Stiefschwester (P. Roggan), Aschenputtel (A. Tezel), Stiefmutter (B. Auer) / © WDR/Hardy Spitz

Frauenhaushalt: Stiefschwester (P. Roggan), Aschenputtel (A. Tezel), Stiefmutter (B. Auer) / © WDR/Hardy Spitz


Im Gegensatz zu den malerischen Kulissen wird das Schicksal von Aschenputtel ohne Kitsch recht drastisch in Szene gesetzt: Anders als bei den Grimms ist auch sein Vater bereits tot, sodass es den psychischen und physischen Demütigungen von Stiefmutter und Stieftochter („Du bist Dreck!“) schutzlos ausgeliefert ist. Aber: Nicht nur eine weiße Taube sondern auch ein Esel namens Nepomuk erweisen sich als hilfreiche Freunde, die ihm in Notsituationen beistehen.

Aschenputtel gegen den blonden Strich besetzt

Zwar sind Parallelen zu „Aschenbrödel“ offensichtlich – dort sind es die Eule Rosalie und der Schimmel Nikolaus –, doch wird in „Aschenputtel“ eher vorhandene Potenzial der Vorlage geschickt ausgebaut: Erfüllt bei den Grimms am Grab der Mutter nur ein „weißes Vögelein“ Aschenputtels Wünsche, so ist es im Märchenfilm eine weiße Taube. Nicht nur mit der Farbe Weiß wird auf ein Gott nahes Lebewesen verwiesen. In der christlichen Überlieferung soll sich zudem der Heilige Geist als weiße Taube gezeigt haben.

Kostümsprache: Die Kleidung der Stiefmutter (Barbara Auer) steht auch für ihren Charakter / © WDR/Hardy Spitz

Kostümsprache: Die Kleidung der Stiefmutter (Barbara Auer) steht auch für ihren Charakter / © WDR/Hardy Spitz


Im Film lebt die Seele der verstorbenen Mutter in der weißen Taube weiter – und hilft, wenn es ihm besonders dreckig geht. Mit Erfolg. Aschenputtel ist keck, witzig und lehnt sich selbstbewusst gegen Stiefmutter und Stiefschwester auf. Mit Aylin Tezel – Tochter einer deutschen Krankenschwester und eines türkischen Arztes – als Titelfigur hat Regisseur Uwe Janson zudem die Hauptrolle gegen den blonden Strich besetzt und bricht mit tradierten (Prinzessin-)Klischees. Das gilt gleichfalls für die Rolle des Prinzen Viktor (Florian Bartholomäi).

Von Ferkeln und Mehlsäcken: Symbole im ARD-Märchenfilm

Dem toughen Aschenputtel wird hier kein Macho-Prinz, sondern ein eher verkopfter, durchaus androgyner Königssohn gegenübergestellt – ähnlich zwei verschiedener Puzzleteile, die sich letztlich doch ergänzen. Bis es soweit ist, müssen sich beide allerdings noch kennenlernen. Im Gegensatz zur Grimmvorlage, in dem Aschenputtel den Prinzen auf drei aufeinanderfolgenden Abenden während eines Balls trifft – auf dem er sich eine Braut aussuchen soll – lernen sich beide im Film eher durch Zufall kennen. Und zwar zunächst nicht im Schloss, sondern im Wald.

Falscher Eindruck: Aschenputtel (Aylin Tezel) kniet nicht vor dem Jäger (Florian Bartholomäi) / © WDR/Hardy Spitz

Falscher Eindruck: Aschenputtel (Aylin Tezel) kniet nicht vor dem Jäger (Florian Bartholomäi) / © WDR/Hardy Spitz


Auslöser sind zwei Aufgaben der bösen Stiefmutter: Aschenputtel muss an einem Tag fünf Ferkel ins Dorf, am anderen Tag drei Säcke Mehl durch den Wald bugsieren. Hier trifft es auf den Prinzen, der sich aber als Jäger ausgibt. Obwohl mit dem Ferkel als Glücks- und Erfolgssymbol sowie weißem Mehl als Zeichen von Reichtum (nur eine reiche Bevölkerungsschicht konnte sich weißes Mehl leisten) Aschenputtels sozialer Aufstieg bildlich vorhergesagt wird, ist das nicht nur platter Symbolismus.

Brüder Grimm goes Slapstick-Komödie

Janson/Ungureit verbinden ihre bildlichen Ideen mit Anleihen aus Slapstick-Komödien, wenn Aschenputtel und Jäger (Prinz) die im Wald entlaufenen Ferkel höchst amüsant wieder einfangen wollen. Oder wenn sich über Aschenputtel, als es den Jäger bei seinen missglückten Schießversuchen im Wald beobachtet, plötzlich einer der Mehlsäcke öffnet und es – von oben bis unten bestäubt – einem Gespenst gleicht. Kommt das Märchen damit zum einen im 21. Jahrhundert an, so hält das Drehbuch zum anderen an Reimen und Formeln der Vorlage fest.

Männerhaushalt: König (H. Krassnitzer), Zeremonienmeister (G. Fleck), Prinz (F. Bartholomäi) / © WDR/Hardy Spitz

Männerhaushalt: König (H. Krassnitzer), Zeremonienmeister (G. Fleck), Prinz (F. Bartholomäi) / © WDR/Hardy Spitz


So findet sich im Film nicht nur der Reim „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“ wieder, als die Titelheldin Linsen und Erbsen aus der Asche lesen muss, um von der Stiefmutter die Erlaubnis (nicht) zu erhalten, am königlichen Ball teilzunehmen. Auch die Formel „Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich“ darf Aschenputtel artig aufsagen, um dann – nicht ganz seinem Wunsch entsprechend – vom Wunderbaum ein mit kleinen roten und gelben Blumen gemustertes weißes Kleid nebst knallroten Schuhen zu bekommen.

Junger Mann als weibliche Heiratskandidatin für Prinz Viktor

Obwohl Aschenputtels Ballkleid Romy Schneiders Garderobe in der „Sissi“-Trilogie (AT, 1955–1957, R: Ernst Marischka) zitiert, fügt es sich gut in die Epoche ein, in der der Märchenfilm spielt: das Biedermeier (circa 1815–1850). Kostümbildnerin Petra Neumeister verpasst zudem Stiefmutter und Stiefschwester Annabella modische Anti-Accessoires, die auch ihren bösen Charakter reflektieren: So dominieren zum Beispiel dunkle Farben und hohe Krägen im Outfit der Stiefmutter, wobei der Kragen hier auch für Hochmut, Arroganz und Machtstreben steht.

Darf ich bitten: Prinz Viktor (Florian Bartholomäi) und Aschenputtel (Aylin Tezel) auf dem Ball / © WDR/Hardy Spitz

Darf ich bitten: Prinz Viktor (Florian Bartholomäi) und Aschenputtel (Aylin Tezel) auf dem Ball / © WDR/Hardy Spitz


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Nicht nur Höhepunkt im Hinblick auf Kostüm und Ausstattung ist der Ball, zu dem König Clemens (Harald Krassnitzer) einlädt und auf dem sich Sohn Viktor eine Braut aussuchen soll. Gedreht wird auf dem Gelände der Burg Anholt, ein Wasserschloss im Stil des Barock umgeben von einer malerischen Parkanlage. Doch kein dröges Fest mit starren Umgangsformen sondern ein überraschend ausgelassener Ball wird inszeniert – auf dem sogar ein junger Mann mit Langhaarperücke und Ballkleid sein Glück als weibliche Heiratskandidatin versucht.

Geschlechterstereotype mit einem Lächeln aushebeln

Auch wenn sie oder er nicht bei Prinz Viktor landen kann: Dem Genre Märchenfilm tun neue, andere Frauen- und Männerbilder nur gut, weil sie überholte Geschlechterstereotype märchenhaft mit einem Lächeln aushebeln. Lächelnd schafft es auch Aschenputtel, Prinz Viktor auf dem Ball für sich zu gewinnen – wenn da nicht Stiefmutter und Stiefschwester wären. Doch die weiße Taube kann am Ende ganz wie bei den Grimms verkünden: „Rucke di guck, rucke di guck, kein Blut im Schuck: der Schuck ist nicht zu klein, die rechte Braut, die führt er heim.“

Drehorte:

  • Burg Anholt, Schloss 1, 46419 Isselburg
  • LWL-Freilichtmuseum Detmold, Krummes Haus, 32760 Detmold

Filme:

  • „Aschenputtel“ (BRD, 2011, R: Uwe Janson, BRD). Auf DVD erschienen.
  • „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ (ČSSR/DDR, 1973, R: Václav Vorlícek). Auf VHS/DVD erschienen.

Verwendete Quellen:

  • Brüder Grimm: Aschenputtel. In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 1, S. 137–144.
  • Märchenatlas: Märchen in Bildern: Aschenputtel (abgerufen: 31.7.2020)


Headerfoto: Aschenputtel (Aylin Tezel) kniet am verwitterten Grabstein seiner verstorbenen Mutter / © WDR/Hardy Spitz