Kaum eine andere fantastische Figur wird in deutschen Märchenfilmen so unterschiedlich dargestellt wie das „Rumpelstilzchen“ (1812) der Brüder Grimm.
Hexen und Zauberer. Riesen und Zwerge. Nixen und Feen: Fantastische Gestalten gehören zu den spannendsten und zugleich widersprüchlichsten Figuren im Märchen. Sie können dem Menschen nutzen, aber auch schaden, ihn schützen oder gar bedrohen – wie der Zwerg namens Rumpelstilzchen im gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm.
Das „klein[e] Männchen“ (Brüder Grimm 1980, S. 285) hilft einer armen Müllerstochter dreimal, aus Stroh Gold zu spinnen, weil ihr Vater mit dieser Kunst vor dem geldgierigen König geprahlt hat. Für seine Hilfe verlangt Rumpelstilzchen jeweils einen Lohn von dem Mädchen: ein Halsband, einen Ring und in der letzten Nacht das Versprechen: „[…] wenn du Königin wirst, dein erstes Kind“ (ebd. 286).
Doch die Helferfigur wird zum Gegenspieler, als der Kobold nach einem Jahr das Kind wirklich fordert. Ein letztes Mal kommt Rumpelstilzchen der Ex-Müllerstochter entgegen: Wenn die Königin seinen Namen errät, darf sie ihr Kind behalten. Letztlich findet sie diesen heraus und das Männchen reißt sich aus Wut darüber „selbst mitten entzwei“ (ebd. S. 288).
„Rumpelstilzchen“: Mehrmals in Deutschland verfilmt
Die Frage, weshalb Rumpelstilzchen als Lohn ein Kind fordert, bleibt im Märchen unbeantwortet – ein sogenanntes „stumpfes“ (nicht voll ausgenutztes) oder „blindes“ (funktionsloses) Motiv (Lüthi 1990, S. 31), das für die Grimm’schen Vorlagen nicht ungewöhnlich ist. Gut möglich, dass Rumpelstilzchens Beweggrund einst in der mündlichen Überlieferung einfach vergessen wurde.
Trotzdem gehört das Märchen „wegen seiner klaren und dramatischen Szenen, […] seiner durchsichtigen Komposition und seiner äußerst kunstvollen Bauweise“ (Röhrich 1999, Sp. 1169f.) nicht nur zu den beliebtesten, sondern auch zu den früh verfilmten.
So feiert das österreichische „Rumpelstilzchen“ von Regisseur Desider Kertész bereits am 23. Dezember 1923 als Stummfilm seine Wiener Premiere. Seit 1940 wird das Märchen als Tonfilm auch in Deutschland mehrmals produziert und zählt damit zu den meist adaptierten Grimm-Stücken.
Dabei bietet sowohl Rumpelstilzchens widersprüchlicher Charakter als auch die ‚Leerstelle’ seines Motivs für Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren geradezu eine Steilvorlage, das Märchen zu deuten, neue Schwerpunkte zu setzen, Figuren gegen den Strich zu bürsten. Und diese Chancen werden in der deutschen (Märchenfilm-)Geschichte auch intensiv genutzt.
„Rumpelstilzchen“ (D 1940): Edelmännchen im NS-Kino
Als die Story 1940 von Alf Zengerling erstmals als Tonfilm in Schwarzweiß adaptiert wird, ist es gerade die bildliche und charakterliche Zeichnung des übernatürlichen Helfers, die vollkommen neue Wege geht und sich überraschend deutlich von der Vorlage entfernt.Ein singendes weißbärtiges Edelmännchen – gespielt vom kleinwüchsigen Paul Walker –, das ein glänzendes Kostüm und eine Kappe aus feinstem Stoff trägt, hilft zwar der Müllerstochter Grete (Trude Häfelin) und fordert später auch ihr Kind.
Doch bleibt unklar weshalb. Auch Rumpelstilzchens grausames Ende bleibt aus. Das verwundert kaum, ist doch der NS-Märchenfilm zuvorderst für vier- bis achtjährige Kinder gedacht.
Rumpelstilzchen als übergeordnete positive Instanz
Vielmehr wird die vorbildliche Mutterrolle der Königin in den Mittelpunkt gerückt – die ohnehin für den Nationalsozialismus wichtigste Aufgabe der Frau. Mit den Worten „Du musst eine gute Mutter sein!“ entfernt sich das gute Rumpelstilzchen am Ende höflich und diskret via Stopptrick, ohne dass es sich selbst tötet.
Weil aber das Märchen auch böse Charaktere braucht, wird in das Figurenensemble ein geldgieriger Schatzkanzler (Kurt Lauermann) neu aufgenommen. Er vereint alle negativen Eigenschaften auf sich und wird von Rumpelstilzchen letztlich in einen Esel verwandelt. Damit steigt das noch bei den Grimms dämonische Wesen zur übergeordneten positiven Instanz auf, die den Guten hilft und die Bösen bestraft.
„Rumpelstilzchen“ (BRD 1955): Waldgeist im Nachkriegskino
Eine ähnliche Figurenkonstellation nutzen auch zwei Adaptionen, die nach 1945 im geteilten Deutschland entstehen: Im BRD-Märchenfilm „Rumpelstilzchen“ von 1955 sind es zwei böse Berater des Königs – Schatzmeister (Harry Wüstenhagen) und Hofmarschall (Helmut Ziegner) – die die Müllerstochter Marie (Liane Croon) antreiben, immer mehr Stroh zu Gold spinnen.
Dabei wird der Titelheld des Märchenfilms, gedreht in Farbe auf Agfacolor, zum bemitleidenswerten Waldgeist in grünem Kostüm. Dessen Rolle übernimmt der kleinwüchsige Werner Krüger. Er sei zwar „Herr des Waldes und Gebieter über Bäume und Tiere“ und hilft der Müllerstochter, ist aber offenbar einsam und sehne sich „nach einem Kinderlachen“ (O-Ton). Für das Baby gibt er extra einen großen Weidenkorb in Auftrag.
Die Adaption in der Regie von Herbert B. Fredersdorf kann bei alldem ihre Nähe zum westdeutschen Heimatfilm nicht verleugnen, wenn tiefe Wälder, hohe Berge und plätschernde Bäche ins Bild gerückt werden – und auch die Moral nicht zu kurz kommt. Da will Rumpelstilzchens Abgang gar nicht recht passen – auch wenn der grausame Akt nur im Anlauf gezeigt und zum Abbruch der Szene führt.
„Das Zaubermännchen“ (DDR 1960): Titelheld als Aussteiger
In der DEFA-Verfilmung von Christoph Engel, frei nach einer „Rumpelstilzchen“-Aufführung des Hans-Otto-Theaters in Potsdam, wird der Titelheld (Siegfried Seibt) dagegen zum zotteligen Aussteiger, der sich enttäuscht von den Menschen in den tiefen Wald zurückgezogen hat.
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TV-TIPP
Das Zaubermännchen (DDR 1960): Sonntag, 23. Januar 2022 um 16.50 Uhr im MDR.
Dort baut er eine Wiege, sodass das Kind bei ihm aufwachsen könne, „ohne die verderbliche Macht des Goldes kennenzulernen“ (O-Ton) – ein kritischer Verweis auf das Stroh-zu-Gold-spinnen und die Gier des jungen Königs (Nikolaus Paryla), oder besser gesagt: des bösen Schatzmeisters (Bodo Mette), sowie die Lügen des Müllers Kunz (Karl-Heinz Rothin).
Das ostdeutsche „Zaubermännchen“ von 1960 sieht sich damit einer sozialkritischen Interpretation verpflichtet, in der „[n]icht Gold und Reichtum sondern menschliche Werte […] in den Mittelpunkt“ (Wiedemann 2017, S. 194f.) rücken. Wie schon zuvor verabschiedet sich das gute Männchen am Ende mittels Trick und zaubert sich lächelnd in den Wald zurück.
„Rumpelstilzchen“ (BRD 1960): ‚Hexenmeister’ in TV-Film
Für ein Anti-Natur-Rumpelstilzchen, das den kleinen Königssohn der Müllerstochter/Königin Rosemarie (Ulrike Teichmann) zu einem bösen Zauberer erziehen will, um selbst auf den Thron zu kommen, entscheidet sich eine Fritz-Genschow-Verfilmung von 1960. Diese TV-Adaption wird in zwei Folgen á 45 Minuten für die ARD produziert. Darin meint der ‚Hexenmeister’:
Morgens muss er die Schmetterlinge töten, mittags den Bienen den Honig wegnehmen, nachmittags die kleinen Häschen fangen, und abends muss er die Grillen töten, die so zirpen. Das kann ich nämlich gar nicht leiden. [O-Ton]
Die eindeutig negative Charakterisierung des Männchens hebt sich von den bisherigen Adaptionen – die den Titelhelden mit zumeist guten Eigenschaften ausstatten – merklich ab. Dass das Rumpelstilzchen am Ende wütend seinen linken Fuß mit beiden Händen packt und im Boden verschwindet, scheint die logische Konsequenz seines tierfeindlichen Verhaltens.
„Rumpelstilzchen“ (BRD 2007): Verschlagener ZDF-Kobold
Doch das böse kleine Männchen feiert überraschend sein Comeback in zwei gesamtdeutschen Märchenfilmen, die in den 00er-Jahren im Auftrag der öffentlich-rechtlichen Sender entstehen. Sowohl eine ZDF- als auch eine ARD-Adaption setzen dabei auf ein Rumpelstilzchen, bei dem die negativen Eigenschaften überwiegen.
Beide nähern sich damit wieder der Grimm’schen Fassung an, wobei das Motiv des Männchens gleichzeitig in den Hintergrund rückt. Auffällig ist jeweils die Charakterisierung des Titelhelden auf der Tonebene. So spart Rumpelstilzchen (Katharina Thalbach) in der ZDF-Verfilmung (2007) von Andi Niessner im Dialog mit der Müllerstochter Marie (Marie Christine Friedrich) nicht mit bösen Beschimpfungen.
Zudem bedient sich der Kobold einer List, um Maries Versprechen zu bekommen, verschwindet aber am Ende dennoch spurlos, als es aus Zorn – wie bei den Grimms – mit dem Fuß in die Erde stößt. Doch das Böse wird hier wieder nicht nur durch das kleine Männchen personifiziert, sondern zusätzlich durch einen gierigen Minister (Erich Schleyer). Er entführt Marie, sperrt sie ein und befiehlt ihr, immer mehr Stroh zu Gold zu spinnen.
„Rumpelstilzchen“ (2009): ARD-Titelheld mit Humor
Auch der ARD-Märchenfilm setzt auf derbe Dialoge, wobei Rumpelstilzchen (Robert Stadlober) auch als ambivalente Figur gelten kann. Gerade die Widersprüchlichkeit des Titelhelden wird sprachlich gut abbildet. „Und Rumpelstilzchen hat durchaus auch Humor, was ihn jedoch nicht weniger furchterregend macht, eher im Gegenteil“, so Drehbuchschreiber David Ungureit.
Das Böse wird aber auch hier auf zwei Figuren verteilt – eine fantastische (Rumpelstilzchen) und eine ‚menschliche’: König Gustav (Gottfried John) braucht Geld und lässt die Tochter (Julie Engelbrecht) des prahlerischen Müllers Gisbert (Thomas Rudnick) einsperren, sodass sie Stroh zu Gold spinnen soll. Dennoch setzt auch diese Adaption auf das grausame Ende des Rumpelstilzchens, wenn sich der Boden unter seinen Füßen öffnet und ihn letztlich verschluckt.
Gutes Männchen, böses Männchen
Die sechs Verfilmungen des „Rumpelstilzchen“-Märchens zeigen, dass im 20. Jahrhundert – „Drittes Reich“ (1940), BRD (1955) und DDR (1960) – vor allem die guten Charaktereigenschaften des Männleins in den Vordergrund rücken. Zudem ist die jeweilige Ideologie in der Adaption ablesbar und reflektiert damit einmal mehr ihre Entstehungszeit. Nur punktuell wird der Zwerg als ‚geschlossen’ negative Figur (1960) dargestellt.
Im 21. Jahrhundert heißt es bei den Filmemacherinnen und Filmemachern ‚zurück zu den Wurzeln’ und man erinnert sich wieder an die böse Seite des Männchens (2007, 2009). Gleichwohl wird dabei die Inszenierung von Humor flankiert, was aber nicht bedeutet, dass der Spaß der Figur die Bösartigkeit nimmt. Überraschend ist, dass fast alle Verfilmungen im Figurenensemble zusätzlich böse Charaktere mit aufnehmen, die entweder Rumpelstilzchen entlasten oder das Böse figürlich verdoppeln.
Filme:
- „Rumpelstilzchen“ (D, 1940, R: Alf Zengerling). Auf DVD erschienen.
- „Rumpelstilzchen“ (BRD, 1955, R: Herbert B. Fredersdorf). Auf VHS und DVD erschienen.
- „Das Zaubermännchen“ (DDR, 1960, R: Christoph Engel). Auf VHS und DVD erschienen.
- „Rumpelstilzchen“ (BRD, 1960, R: Fritz Genschow). Auf DVD erschienen.
- „Rumpelstilzchen“ (BRD, 2007, R: Andi Niessner). Auf DVD erschienen.
- „Rumpelstilzchen“ (BRD, 2009, R: Ulrich König). Auf DVD erschienen.
Weitere Verfilmungen (Fernsehspiele):
- Rumpelstilzchen (DDR, 1956, R: Peter Hagen). Noch nicht auf DVD erschienen.
- Von der Königstochter, die Gold spinnen wollte (DDR, 1984, R: Johanna Rothe). Noch nicht auf DVD erschienen.
- Rumpelstilzchen (BRD, 1988, Idee: Titus Thaler/SWF). Noch nicht auf DVD erschienen.
Verwendete Quellen:
- Brüder Grimm: Rumpelstilzchen. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 1, S. 285–288.
- Filmportal: Rumpelstilzchen (AT, 1923, R: Desider Kertész)
- Lüthi, Max: Märchen. Bearbeitet von Heinz Rölleke. 8., durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart, 1990.
- Röhrich, Lutz: Name des Unholds. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 9, Berlin/New York, 1999, Sp. 1164–1175.
- Ungureit, David: Fünf Fragen, fünf Antworten. In: 6 auf einen Streich. Der Märchenfilm im Ersten. Märchenfilm-Archiv. (Stand vom 22.12.2011, abgerufen: 7.2.2022)
- Wiedemann, Dieter: „Es war einmal … Märchenfilme in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR“. In: Dettmar, Ute/Pecher, Claudia Maria/Schlesinger, Ron (Hrsg.): Märchen im Medienwechsel – Zur Geschichte und Gegenwart des Märchenfilms. Stuttgart, 2017, S. 179–228.
Headerfoto: „Rumpelstilzchen“ (BRD 1955): Müllerstochter Marie (Liane Croon) gibt Rumpelstilzchen (Werner Krüger) ihr Halsband / Quelle: Studiocanal