Alle kennen Aschenputtel. Aber nur wenige Allerleirauh. Zu Unrecht, wie ein ARD-Märchenfilm von 2012 zeigt – und dabei auch heikle Themen offen anspricht.
Sie haben vieles gemeinsam: Aschenputtel und Allerleirauh. Nicht nur, dass beide schon früh die Mutter verlieren, „erst so erniedrigt und dann so erhöht“ (Diederichs) werden. Es sind auch ihre Schönheit – und die Coolness, mit der die jungen Frauen dem Schicksal ein Schnippchen schlagen und am Ende ihren Prinzen erobern. Und doch ist Allerleirauh die mysteriöse Unbekannte. Bis jetzt. Denn die ARD hat das Geheimnis in einem Märchenfilm für ihre Reihe „Sechs auf einen Streich“ gelüftet.
Dabei hat die Geschichte der Brüder Grimm, die bereits in der Erstauflage ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ von 1812 erscheint, schon früh Drehbuchschreiber inspiriert. 1921 verfasste Johannes Meyer das Treatment für eine stumme Kinoversion von „Allerleirauh“. Ob es verfilmt wurde, weiß niemand – aber sein Manuskript wartet noch heute im Deutschen Filminstitut, entdeckt zu werden. 1971 adaptierte Rudolf Jugert das Märchen fürs Schweizer Fernsehen. Das Drehbuch für den Kurzfilm schrieb Heinz Bothe-Pelzner.
„Allerleirauh“ von 1971 ohne Inzest-Motiv
Hier lässt der Märchenfilm ein brisantes Detail der Vorlage aus: den Vater-Tochter-Konflikt. Bei den Grimms hat ein verwitweter König seiner Frau versprochen, nur eine zu heiraten, die ebenso schön ist wie sie. Doch es findet sich keine, die ihr gleicht. Mit einer Ausnahme. Seine eigene Tochter. Er verliebt sich in sie und möchte sie heiraten. – Inzest als Eingangsmotiv in „Allerleirauh“ kann ein Grund sein, weshalb das Märchen bis heute nur wenig verfilmt ist, und wenn doch – 1971 – dann weich gespült: ohne Inzest-Motiv.
Trotz 1968er-Bewegung und einer damit einhergehenden neuen Offenheit waren Themen wie Inzest oder Missbrauch in der Familie Anfang der 1970er-Jahre immer noch ein Tabu – und gehörten schon gar nicht in einen Märchenfilm. Es dauert über 40 Jahre bis sich Drehbuchschreiber wieder an die Geschichte wagen. Inzwischen ist die Diskussion um sexuellen Missbrauch in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Gut so. Das macht es in diesem Fall auch leichter für Autoren und Regisseure. Im Frühjahr 2012 verfilmt die ARD das Märchen von „Allerleirauh“.
ARD-Märchenfilm hält sich an Vorlage der Brüder Grimm
Drehbuchschreiber Leonie und Dieter Bongartz halten sich an die Grimmsche Vorlage – und binden das Inzest-Motiv ein. Es ist der Auslöser für die Flucht von Prinzessin Lotte (Henriette Confurius) vor ihrem Vater König Tobalt (Ulrich Noethen) – der sich in einem Zwiespalt befindet: Einerseits das Versprechen gegenüber seiner toten Frau, andererseits die Staatsräson – oder, frei nach Machiavelli: Die Sicherung der Macht hat oberste Priorität. Nur mit einer neuen Heirat ist sein Königtum langfristig gesichert. Allein das zählt für ihn.
Doch der Vater hat nicht mit dem „starken Widerwillen seiner Tochter“ (Talos) gerechnet, die ihm schier unlösbare Aufgaben stellt – und hofft, dass er diese nicht erfüllt. Drei prächtige Kleider soll er ihr beschaffen und einen Mantel aus dem Fell jeden Tieres. Leider gelingt ihm das. Deshalb bleibt für die Tochter nur die Flucht. Die drei Kleider steckt sie in eine Walnuss – Symbol für Fruchtbarkeit und Liebe –, bevor sie den Pelzmantel aus allerlei Rauhwerk (eine alte Bezeichnung für Tierfelle) überzieht, ihr Gesicht schwärzt und unerkannt entkommt.
Renaissance-Fürst im Märchenfilm: Jakob als Heinrich VIII.
Das Drehbuch stellt ihr vorher einen Mutterersatz zur Seite: Zwar kann Köchin Birthe (Gabriela M. Schmeide) Lotte am Hof ihres Vaters nicht beschützen, doch sie schenkt ihr – als Helferfigur – drei Glücksbringer. Später wird Lotte diese klug einsetzen. Zudem bringt sie der Prinzessin das Kochen bei. Und verrät ihr, dass eine gute Suppe Zeit braucht. Langsam muss sie garen – so wie sich eine Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen langsam entwickelt …
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Als rußverschmiertes Etwas im Pelzrock landet sie nach ihrer Flucht am Hof des jungen Königs Jakob (André Kaczmarczyk): Der ist attraktiv, bisweilen arrogant. Und mit seinen Untertanen geht er nicht gerade zimperlich um. Das wird auch Allerleirauh spüren – und sich dagegen wehren. Regisseur Christian Theede macht aus Jakob einen widersprüchlichen Kerl, der in Outfit und Habitus an den englischen König Heinrich VIII. (1491–1547) erinnert – und sich daher elegant in das Märchenfilm-Setting einfügt: Willkommen in der Renaissance!
Von gewalttätigen Männern in Pluderhosen
Nicht nur die Drehorte mit den Schlössern Hämelschenburg und Marienburg passen gut ins Bild, obwohl letzteres eher zur Neo-Gotik des 19. Jahrhunderts gehört (Szenenbild: Andreas Lupp). Auch die Kostüme nehmen Anleihen aus der Renaissance, jener Epoche um 1500 mit Männern in geschlitzten Pluderhosen und Frauen mit großen Dekolletés (Kostümbild: Susanne Platz und Karin Lohr). Da ist es eine runde Sache, wenn das Drehbuch sogar Shakespeare-Dramen zitiert – und Allerleirauh und Jakob in den Mund legt.
Es sind Verse aus „Die lustigen Weiber von Windsor“. Hier heißt es romantisch: „Wie Schatten flieht die Lieb’, indem man sie verfolgt. Sie folgt dem, der sie flieht, und flieht den, der ihr folgt.“ Doch lustig ist das Leben von Allerleirauh erst einmal nicht. Ist die Prinzessin aus Angst vor sexueller Gewalt vor ihrem Vater geflohen, so erwartet sie am Hof von König Jakob nicht nur verbale, sondern auch körperliche Gewalt – die (wieder) von Männern ausgeht und nicht nur Macht (gegenüber Frauen) demonstrieren soll.
Allerleirauh tauscht die Küche mit dem Thronsaal
Wenn Jakobs Freund Rasmus (Adrian Topol) Allerleirauh mit der Peitsche droht und befiehlt, dass es seine Stiefel mit bloßen Händen putzen soll („Knie nieder, fang an!“), so ist das auch eine sexuelle Analogie, die der Zuschauer aus ARD-Märchenfilmen bisher nicht kennt. Gut, dass das Autoren-Duo auch hier Allerleirauh eine Helferfigur – als Pendant zur Köchin Birthe – zur Seite stellt. Es ist der Koch Mathis (lustig und liebenswert: Fritz Karl), dem es in der Küche hilft – und der es väterlich beschützt.
Mit seiner Unterstützung kann Allerleirauh alias Lotte das Versteckspiel beginnen. Wie Aschenputtel besucht es dreimal unerkannt ein Fest im Schloss. Dafür zieht es seine prächtigen Kleider an und tanzt mit Jakob – der sich verliebt. Wie durch ein Wunder entkommt es ihm dreimal. Am Ende entdeckt er Allerleirauhs wahre Identität. Den Mantel als Schutzhülle – weil ihr einst die eigene Schönheit zum Verhängnis wurde – und auch das rußverschmierte Gesicht braucht Lotte jetzt nicht mehr. Wie Aschenputtel tauscht sie die Küche mit dem Thronsaal.
Und: Die gute Suppe, die Zeit braucht – als eine Metapher für die sich entwickelnde Liebe zwischen Lotte und Jakob – hat lange genug für beide geköchelt.
Filme:
- „Allerleirauh“ (2012, R: Christian Theede, BRD). Ist auf DVD erschienen.
- „Allerleirauh“ (1971, R: Rudolf Jugert, CH). Ist auf VHS erschienen.
Drehorte (2012):
- Mahnmal St. Nikolai, Harvestehuder Weg 118, 20249 Hamburg (Küchen-Szenen)
- Niendorfer Gehege, nördlich von Hagenbecks Tierpark, zwischen Niendorf und Eidelstedt, Hamburg (Wald-Szenen)
- Schloss Hämelschenburg, Schlossstraße 1, 31860 Emmerthal (König Tobalt)
- Schloss Marienburg, Marienberg 1, 30982 Pattensen (König Jakob)
Literatur:
- Brüder Grimm: Allerleirauh. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 1, S. 350–356.
- Diederichs, Ulf: Aschenputtel. In: Who’s who im Märchen. Düsseldorf, 1995, S. 34.
- Talos, Ion: Inzest. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 7. Berlin/New York, 1993.
Headerfoto: Prinzessin Lotte (Henriette Confurius) hat sich als Allerleirauh verkleidet / Foto: NDR/Marion von der Mehden