Archiv für den Monat: September 2023

Der Eisenhans (2011): Ein ZDF-Märchenfilm mit André M. Hennicke (M.), Paula Schramm und Laurence Rupp (r.) / Foto: Petro Domenigg/ZDF

Der Eisenhans (D 2011) – oder: Die Suche nach erzählerischer Geschlossenheit

Die Grimms zeigen uns mit ihren Märchen, wie gut einfache Geschichten funktionieren. Sollen diese aber adaptiert werden, tun sich Probleme auf. Denn der Film verlangt nach überzeugender Logik und Tiefe.

Der Titel täuscht. Kein „wilder Mann, der braun am Leib war, wie rostiges Eisen, und dem die Haare über das Gesicht bis zu den Knieen [sic!] hingen“ (Grimm 1980, S. 234), sondern ein Königssohn mit goldenem Haar ist der eigentliche Held dieses Märchens. Der titelgebende Eisenhans ist dagegen ‚nur’ sein „Mentor“ (nach Christopher Vogler): ein alter, geheimnisvoller Walddämon, der dem Prinzen hilft, zu sich selbst zu finden.

Dennoch ist die Geschichte, die im Eigentlichen aus zwei Teilen besteht – einerseits der Gefangennahme und Flucht des Eisenhans, andererseits dem Erwachsenwerden des jungen Prinzen –, unter diesem Titel zu einem der bekanntesten Grimm’schen Märchen (seit 1850) geworden. 2011 wird es vom ZDF verfilmt.

„Der Eisenhans“ als ZDF-Märchenfilm

Das Drehbuch verfasst der Kinder- und Jugendbuchautor Rudolf Herfurtner, der zudem Hörspiele und Theaterstücke schreibt. Wenngleich „Der Eisenhans“ sein erstes Filmmanuskript ist, das auf einen klassischen Grimmtext zurückgeht, so enthalten seine anderen neu erdachten Geschichten oft fantastische Motive.

„Mentor“ und Dämon: Michael Mendl als Titelfigur "Der Eisenhans" / © Petro Domenigg/ZDF

„Mentor“ und Dämon: Michael Mendl als Titelfigur „Der Eisenhans“ / © Petro Domenigg/ZDF


Im ZDF-Märchenfilm, der für die Fernsehreihe „Märchenperlen“ produziert ist, wird die Geschichte gestrafft. Dennoch bleibt das Drehbuch im Kern nah an der Vorlage. Es mag sein, dass „eine so in sich geschlossene Erzählung wie der Eisenhans“ (Scherf 2007, S. 252, [H. i. O.]) Drehbuchschreiberinnen und -schreiber immer auch ein wenig ehrfürchtig vor größeren Abweichungen oder Änderungen zurückschrecken lässt.

„Fremder Jäger“ wird zum Schwarzen Ritter

Herfurtner ‚arbeitet’ deshalb nah am Ausgangstext und versucht so, die erzählerische Geschlossenheit der Vorlage für den Film nochmals zu steigern. Das betrifft zum Beispiel kurz auftretende Figuren, die zwar wichtig für die Handlung sind, aber hernach keine Rolle mehr spielen. Kurzum: eine funktionslose Figur, ein stumpfes Motiv (vgl. Lüthi 1979, Sp. 467–471).

Gemeint ist „ein fremder Jäger“ (Grimm 1980, S. 234), der den Eisenhans im Wald aus „einem tiefen Pfuhl“ (ebd.) – ein sumpfiger Tümpel – zieht und dem König übergibt. Er sperrt „den wilden Mann“ (ebd.) in einen Eisenkäfig. Der tapfere Jäger wird später aber nicht mehr erwähnt.

Schwarzer Ritter (André M. Hennicke): Als "Schatten" verfolgt er den Prinzen bis zum Ende / © Petro Domenigg/ZDF

Schwarzer Ritter (André M. Hennicke): Als „Schatten“ verfolgt er den Prinzen bis zum Ende / © Petro Domenigg/ZDF


In der Verfilmung unter der Regie des deutsch-schweizerischen Regisseurs Manuel Siebenmann („Tatort“) fängt der Schwarze Ritter (André M. Hennicke) den Eisenhans (Michael Mendl). Hennicke, bekannt aus „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ (D 2013) und „Das kalte Herz“ (D 2016), wird dabei als böse Figur inszeniert, die sowohl am Beginn als auch nochmals am Ende der Geschichte auftritt – und die ebenso mit der Selbstfindung des Helden eng verwoben ist.

Schwarzer Ritter als bedrohlicher „Schatten“

Nach dem US-Autor Christopher Vogler, der in „The Writer’s Journey“ (dt.: Die Odyssee des Drehbuchschreibers, 1997) sieben wichtige, sogenannte Archetypen benennt, mit denen der Held in Beziehung treten kann, agiert der Schwarze Ritter als fieser, gesetzloser Gegenspieler, als „Schatten“.

Die Farbe schwarz steht hier auch für das Böse und ist im Märchen- bzw. Fantasygenre oft anzutreffen (so tragen zum Beispiel Darth Vader in „Star Wars“, USA 1977–1983, oder die Titelfigur in „Maleficent – Die dunkle Fee“, USA 2014, bekanntlich ein schwarzes Kostüm).

Eisenhans als hilfreicher „Mentor“

Das Drehbuch stellt dem Helden zugleich, wie eingangs erwähnt, mit dem Eisenhans einen „Mentor“, einen Lehrmeister zur Seite , der – wie Zaubermeister Merlin mit König Artus – eine sorgende Hand über seinen Schützling hält. In der Vorlage wie auch im Film ist der Held zu Beginn ein achtjähriger Junge namens Johannes (Leopold Conzen).

Allerdings tritt in der Adaption stärker hervor, dass er zuvor vor allem von seiner Mutter (Marion Mitterhammer) verwöhnt und betüddelt („Hänschen“) wird – und in einem ‚goldenen Käfig’ lebt, in dem er ‚gefangen’ scheint. Sein Schicksal ähnelt daher dem des Eisenhans.

Behütete Kindheit: Johannes (Leopold Conzen) mit seiner Mutter (Marion Mitterhammer) / © Petro Domenigg/ZDF

Behütete Kindheit: Johannes (Leopold Conzen) mit seiner Mutter (Marion Mitterhammer) / © Petro Domenigg/ZDF


Die ‚Verbindung’ zwischen beiden Figuren wird schon früh bildlich angezeigt: In der Nacht als Eisenhans vom Schwarzen Ritter aus dem Waldtümpel gezogen und gefangen wird, schläft der kleine Johannes schlecht, wälzt sich im Bett hin und her und wacht schließlich auf.

Die hintereinander montierten Kamerabilder nehmen den Verlauf der kommenden Ereignisse vorweg, wenn Johannes seinen späteren Mentor befreit (sein goldener Ball fällt zuvor in den Käfig) und mit ihm in den Wald geht (er hat Angst vorm Vater, der verbot, die Käfigtür zu öffnen).

Zu guter Letzt verbindet beide – Prinz und Lehrmeister – sprachlich der gemeinsame Name: Denn Hans ist die Kurzform von Johannes.

Von Mondscheinkraut und Liebstöckel

Eisenhans, der sich im ZDF-Märchenfilm als „Hüter des Waldes“ sieht und diesen vor Tiere tötenden Jägern ‚schützt’ (wenn er die Männer in seinen Tümpel hinabzieht), lehrt Johannes Wissen über Heil- und Gewürzpflanzen. Zum Beispiel, dass die Beeren des Mondscheinkrauts (auch: Schwarzer Nachtschatten) giftig sind, als er im Wald davon kosten will, weil er Hunger hat. Oder dass Liebstöckel (auch: Maggikraut) essbar ist und Speisen vorzüglich würzt.

Das Drehbuch greift dabei zum Teil Szenen aus der Grimmvorlage auf (die aber nicht weiter ausfabuliert werden) und verbindet diese mit neuen Ideen: Als Johannes den Eisenhans aus dem Käfig befreit, „klemmte sich [der Knabe] den Finger“ (ebd. S. 235). Das zeigt auch der Film. Neu ist, dass der naturkundige Dämon ihm später im Wald erklärt, dass Johanniskraut Wunden heilt und er seinen Finger damit behandeln soll.

Blumenkavalier: Langsam, aber stetig entwickelt sich die Liebe zwischen den beiden / © Petro Domenigg/ZDF

Blumenkavalier: Langsam, aber stetig entwickelt sich die Liebe zwischen den beiden / © Petro Domenigg/ZDF


Und der Liebstöckel ist es später, weswegen er an die königliche Tafel zitiert wird (nachdem er als junger Mann, gespielt von Laurence Rupp, den Eisenhans verlassen muss und als Küchen- beziehungsweise Gärtnerjunge an einem fremden Königshof arbeitet) und dort die Prinzessin (Paula Schramm) trifft, in die er sich später verliebt.

Freilich können diese Einschübe als ‚didaktisches Bildungsfernsehen’ im Märchenfilmgewand deklariert werden, dennoch zeigen sie, was es heißen kann, an und mit einem originalen Märchentext zu ‚arbeiten’.

Bisweilen zu symbolbeladene Erweiterungen

Gleichwohl scheinen einige Erweiterungen bisweilen zu konstruiert und symbolbeladen, so als sich die Prinzessin beim Sticken an der Nadel sticht und kurz danach auch noch ihre Puppe zu Boden fällt und kaputtgeht.

Und zwar in dem Augenblick, als Johannes nach dem Gärtnern kurz seinen Hut abnimmt und seine goldenen Haarsträhnen (er hatte die Probe beim Eisenhans nicht bestanden, in einen Goldbrunnen nichts hineinfallen zu lassen, auch nicht sein Haar) bis ins Schlafzimmer der Prinzessin strahlen (was wiederum in der Vorlage steht).

Klischee: Nicht nur, dass die Prinzessin (Paula Schramm) stickt, sie sticht sich auch noch / © Petro Domenigg/ZDF

Klischee: Nicht nur, dass die Prinzessin (Paula Schramm) stickt, sie sticht sich auch noch / © Petro Domenigg/ZDF


Der Stich mit der Nadel, beim Grimm’schen „Dornröschen“ ist es eine Spindel, steht im Märchen – psychoanalytisch interpretiert – für das Erwachsenwerden eines Mädchens, also den Beginn der Menstruation (vgl. auch Bettelheim 1980, S. 261–274).

Das Ende einer Entwicklungsphase zeigt ebenso die kaputte Puppe an. Die Sozialwissenschaftlerin Insa Fooken verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass bereits „[i]n der Antike […] die Mädchen in dem Übergang vom Mädchen zur Frau ihre Puppe opfern mussten“ (Palm 2022). Damit war die Kindheit beendet.

Erzählerische Geschlossenheit am Filmende

Abseits dieser „symbolistischen Bildnerei“ (Amann 2022), die die Filmwissenschaftlerin Caroline Amann auch in Spielfilmen von Ingmar Bergman, Andrei Tarkovsky und Federico Fellini ausmacht, punktet „Der Eisenhans“ dennoch mit einer erzählerischen Geschlossenheit, die Ideen der Vorlage größtenteils klug weiterspinnt, was sich im Besonderen am Ende nochmals zeigt:

Wie bei den Grimms wird das Land, in das Johannes kommt und in dem er die Prinzessin trifft und später heiratet, kriegerisch angegriffen. Doch der „Feind, der übermächtig war und ein großes Heer hatte“ (Grimm 1980, S. 239), ist hier kein Unbekannter mehr, sondern der Schwarze Ritter mit seinen Kumpanen, der den Eisenhans einst gefangen nahm und den Prinz Johannes damals als Kind kennenlernte.

Showdown: Der Schwarze Ritter (André M. Hennicke) bedroht die Prinzessin (Paula Schramm) / © Petro Domenigg/ZDF

Showdown: Der Schwarze Ritter (André M. Hennicke) bedroht die Prinzessin (Paula Schramm) / © Petro Domenigg/ZDF


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Der wiederholte Rückgriff auf die Figur des Schwarzen Ritters im zweiten Teil (Prinz wird erwachsen) beziehungsweise am Schluss unterstützt nochmals die Abgerundetheit der Verfilmung, die den Kern der Handlung belässt, doch in der „die Charaktere und deren Beziehungsgefüge“ so angelegt sind, dass sie „dramatische Situationen durchleben können, die für jedermann nachvollziehbar sind“ (Vogler 1997, S. 81) und sich zu einem Gesamtbild fügen.

Film: „Der Eisenhans“ (BRD, 2011, R: Manuel Siebenmann). Ist auf DVD erschienen.

Drehorte:

  • Burg Finstergrün, Burgstraße 65, 5591 Ramingstein, Österreich
  • Burg Rappottenstein, Rappottenstein 85, 3911 Rappottenstein, Österreich
  • Rauris, 5661, Österreich

Verwendete Quellen:

  • Amann, Caroline: Symbolismus. In: Lexikon der Filmbegriffe (zuletzt geändert: 10.2.2022, abgerufen: 25.9.2023)
  • Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. Deutsch von Liselotte Mickel und Brigitte Weibrecht. München, 1980, S. 261–274.
  • Brüder Grimm: Der Eisenhans. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 2, S. 233–242.
  • Lüthi, Max: Blindes Motiv. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 2. Berlin/New York, 1979, Sp. 467–471.
  • Palm, Katharina: Spielzeug – Gefährten der Kindheit. In: Deutschlandfunk Kultur (vom: 22.12.2022, abgerufen: 25.9.2023)
  • Scherf, Walter: Der Eisenhans. In: Ders.: Das Märchenlexikon. Erster Band A–K. Sonderausgabe. München, 2007, S. 251–256.
  • Vogler, Christopher: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Frankfurt a. M., 1997


Headerfoto: Der Eisenhans (2011) – ein ZDF-Märchenfilm mit André M. Hennicke (M.), Paula Schramm und Laurence Rupp (r.) / Foto: Petro Domenigg/ZDF