Hans Christian Andersen zeigt in „Die Schneekönigin“, was mit denen passiert, die nur auf ihren Verstand, aber nicht auf ihr Herz hören. Das ZDF hat das Kunstmärchen 2014 in einer deutsch-finnischen Koproduktion neu verfilmt – mit Erfolg: 2015 wird der Märchenfilm für den Grimme-Preis in der Kategorie Sonderpreis Kultur nominiert.
Eigentlich hätte Hans Christian Andersens Kunstmärchen „Die Schneekönigin“ das Potential, einmal als Miniserie oder Mehrteiler verfilmt zu werden. Dafür spricht, dass hier ein komplexes „Märchen in sieben Geschichten“ erzählt wird. Jede dieser Geschichten besitzt, und das ist die Gemeinsamkeit mit den Serienfolgen, „eine eigene ästhetische Struktur“ und entwickelt „aus der Mehrteiligkeit eine besondere Form des fortsetzenden Erzählens“ (Hickethier). Damit hätte Andersen schon die Vorlage für ein Miniserien-Drehbuch geliefert.
Bislang ist das Märchen, in dem das Mädchen Gerda ihren besten Freund Kay sucht, aber nur als Einzelfilm adaptiert, der ausnahmsweise wegen seiner Länge in zwei Folgen im TV gezeigt wird, zum Beispiel „Snow Queen“ (USA/D/CDN 2002). Dennoch können auch Einzelfilme, das Kunstmärchen adäquat umsetzen. Das zeigen zwei internationale Adaptionen, die bis heute – so unterschiedlich sie auch sind – zu den erzählerisch und ästhetisch spannendsten gehören: „Снежная королева“ (UdSSR 1966) und „Lumikuningatar“ (FIN 1986).
„Die Schneekönigin“ (2014): Wie mutig ist das ZDF?
Hat der sowjetische Dichter Jewgeni Schwarz das mitunter frömmelnde Märchen in die „Geschichte eines gefahrvollen Kampfes zwischen gut und böse“ (Berger) verwandelt, so legt die finnische Adaption den Schwerpunkt auf den „Reifeprozess der beiden Kinder“ (Will). Beide Verfilmungen verzaubern zudem mit ihren Bildern: hier eine märchenhaft verschneite Kleinstadtszenerie des 19. Jahrhunderts, dort eine Ausstattung, die „von den Legenden des Altertums bis zu den Moden des Weltraumzeitalters“ (Hartzell) reicht.
Als das ZDF im Frühjahr 2014 mit der Nachricht überrascht, dass die Dreharbeiten für eine deutsch-finnische Neuverfilmung von „Die Schneekönigin“ beginnen, werden Erinnerungen an eben diese Märchenadaption von 1986 wach: Einigen ist der finnische Film damals zu modern, zu sexualisiert, zu sperrig. Andere meinen, dass sich hier die „’alte‘ Märchenwelt geschickt mit modernen filmischen Mitteln verbindet“ (Lexikon des internationalen Films). Vor diesem Hintergrund fragen sich 2014 nicht wenige: Wie mutig ist das ZDF?
Keine Märchenfilm-Revolution, aber ein frischer Wind
Um es vorwegnehmen: „Die Schneekönigin“ von 2014 ist zwar eine deutsch-finnische Koproduktion, aber Regie und Drehbuch – als wichtige Pfeiler eines Films – werden von routinierten deutschen Filmemachern besetzt: So hat Regisseurin Karola Hattop bereits „Die sechs Schwäne“ (2012) für das ZDF verfilmt. Das Autoren-Team Anja Kömmerling/Thomas Brinx hat für vier ARD-Märchenfilme das Drehbuch geschrieben. Doch auch ohne Märchenfilm-Revolution, wie noch 1986, weht ein frischer deutsch-finnischer Wind.
Das zeigt sich in einer besonderen Atmosphäre, die dadurch entsteht, dass ein Großteil der Außenaufnahmen dort gedreht wird, wo die Schneekönigin leben soll: in Lappland – inmitten einer weiten schneebedeckten Landschaft und Polarlichtern. Neben dem Setting unterstützt auch die sphärische Musik (Gert Wilden jun.) diese Stimmung, weil der Komponist die Auftritte der Schneekönigin (dargestellt von der finnischen Schauspielerin Linda Zilliacus) mit einem hellen, aber eisig klingenden Soprangesang untermalt, der sich von der übrigen Filmmusik abhebt.
Musik charakterisiert die Figuren im Märchenfilm
Diese Idee geht auf ein musikalisches Konzept zurück: Schon der Filmkomponist Max Steiner möchte „das Auftreten von Personen akustisch so […] repräsentieren, dass der Zuschauer sie ohne Blick auf die Leinwand identifizieren können sollte: […]“ (De la Motte-Haber/Emons). In „Die Schneekönigin“ funktioniert das gut: Wenn der Zuschauer in den ersten Szenen die befreundeten Nachbarskinder Kay (Kristo Ferkic) und Gerda (Flora Li Thiemann) kennenlernt, dann werden sie im Gegensatz zur Schneekönigin von warmen Gitarrenklängen begleitet.
Gerdas Großmutter (Annekathrin Bürger) erzählt von der Schneekönigin, die im hohen Norden lebt, und von der Gefahr, die von ihr ausgeht: Jeder Mensch, den die Schneekönigin dreimal küsst, erstarrt zu Eis und muss sterben. Kay begegnet ihr und ist wie hypnotisiert von dieser unheimlichen, aber auch wunderschönen Frau. Dennoch macht er sich vor seinen Kumpels über sie lustig, weil er cool sein will, und vielleicht auch Angst vor seinen eigenen Gefühlen hat. Darüber ist die einsame Schneekönigin enttäuscht und rächt sich …
Schneekönigin als Auslöserin für das Böse im Film
Das Drehbuch hält sich im Kern an Andersens „Märchen in sieben Geschichten“, lässt aber einige religiöse Verweise weg und rückt – wie schon 1986 – sexuelles Erwachen und Verlangen in den Blickpunkt. So ist nicht mehr der Teufel, als Inbegriff des Bösen im Christentum, der Auslöser für die Handlung in der ersten und zweiten Geschichte, sondern die Schneekönigin selbst. Sie zaubert Kay einen Eissplitter ins Auge, damit er fortan die Dinge nicht mehr mit dem warmen Herzen, sondern nur noch mit einem kühlen Verstand beurteilt. Dann entführt sie ihn.
Hier lässt sich wunderbar Andersens Fundamentalkritik an „herz- und phantasielosen Verstandesmenschen“ (Stein) erkennen. Filmisch wird das durch die Kamera (Sebastian Hattop) unterstützt, wenn Kay, als er den Splitter ins Auge bekommt, seine Umwelt für Sekunden in Schwarzweiß wahrnimmt. Parallel dazu erscheint die Schneekönigin für Kay als eine Art menschgewordene (sexuelle) Fantasie, der er sich nicht entziehen kann. Das funktioniert auch, weil die Rolle von einem jungen Mann, dem damals 15-jährigen Kristo Ferkic, gespielt wird.
Gerda kommt nicht vom rechten Weg ab
Als Kay plötzlich verschwindet, macht sich Gerda auf die Suche nach ihm. Wie bei Andersen wird das Mädchen auf seiner Reise immer wieder auf die Probe gestellt. Dabei trifft Gerda die grasrauchende Blumenfrau Flora (Annette Frier), eine überspannte Prinzessin (Paula Knüpling) mit bürgerlichem Bräutigam Karl (Moritz Jahn), eine toughe Räuberhauptfrau (Steffi Kühnert) mit cooler Räubertochter (Lena Urzendowsky) und eine steinalte Läppin (Liisi Tandfelt), die das Mädchen vorm Erfrieren rettet.
Das heißt, einerseits begegnen Gerda Verlockungen – Floras Blumengarten verweist auf den paradiesischen Garten Eden, das Prinzessinnenschloss verspricht ein sorgenfreies Leben in Reichtum –, andererseits tödliche Gefahren, wenn die Räuber das Mädchen als kleinen Snack verspeisen wollen. Zudem erinnert Gerda an eine andere bekannte Figur: Rotkäppchen. Wie in diesem Märchen ist das Motiv „der Wahl zwischen zwei Wegen“ (Shojaei Kawan) erkennbar. Das wird farblich mit Gerdas rotem Mäntelchen unterstützt (Kostümbild: Friederike Tabea May).
Filmmontage stellt Beziehungen zwischen Gerda und Kay her
So nutzt „Die Schneekönigin“ in einer Szene typische Märchen-Ikonografien, wenn ein einsamer Wolf die schlafende Gerda (als Rotkäppchen) im Wald entdeckt und neugierig anblinzelt. Doch nicht vom Wolf gehen Gefahren aus, sondern von der Schneekönigin, die Kay „im Eispalast menschlicher Erstarrung“ (Freund) gefangenhält. Dabei leistet, im Gegensatz zu Andersens Vorlage, Kay mitunter aktiven Widerstand. Dieser wird durch einen Traum Gerdas unterstützt, der dazu führt, dass der Eissplitter aus Kays Auge verschwindet.
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Geld oder Liebe: Das kalte Herz (D 2014)
Die sechs Schwäne (D 2012): Kunstgeschichte im Märchenfilm
Der Eisenhans (D 2011) – oder: Die Suche nach erzählerischer Geschlossenheit
Er will aus dem Reich der Schneekönigin fliehen – genau zu dem Zeitpunkt als ebenso Gerda im Wald vor den Räubern flüchtet. Mit einer klugen Schnitttechnik (Ann-Sophie Schweizer), hier einem sogenannten Match Cut, stellt der Film eine Verbindung zwischen den beiden Kindern her, die beide um ihr Leben rennen. Neben dieser Technik sind es aber vor allem Parallelmontagen, die einerseits Gerdas Suche, andererseits Kays Erlebnisse im Schloss der Schneekönigin zeigen. Das erhöht auch die Spannung im Märchenfilm.
Fazit: Gefühl triumphiert über den Verstand
„Gefühle machen schwach, das Einzige, was zählt, ist der Verstand“: Diese Philosophie der Schneekönigin will der deutsch-finnische Märchenfilm von 2014 ad absurdum führen. Dabei vertraut er vor allem auf das Zusammenspiel von filmischen Möglichkeiten, setzt diese gekonnt wie in einem Erwachsenenfilm ein, um größtmögliche Wirkung zu erzielen. Das Knacken und Knirschen von Eis, Geräusche die den Film von Beginn an begleiten, können dabei auch als Vorboten eines guten Endes gelten. Das Eis bricht. Das Gefühl triumphiert über den Verstand.
Film: „Die Schneekönigin“ (2014, Regie: Karola Hattop, BRD/FIN). Auf DVD erschienen.
Drehorte:
- Lappland, u. a.: Arctic Snow Hotel, Lehtoahontie 27, 97220 Sinettä, Finnland
- Berlin-Brandenburg: u. a.
- Bauernhof, Lindenstraße, 15806 Zossen, OT Schöneiche
- Heimatmuseum Alter Krug, Weinberge 15, 15806 Zossen (Küche von Gerdas Großmutter)
- Kirchplatz, 15806 Zossen (Eröffnungssequenz)
- Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf, Bettina-von-Arnim-Straße 13, 14913 Niederer Fläming
- Schloss Friedrichsfelde, Am Tierpark 125, 10319 Berlin
Literatur:
- Berger, Eberhard: Die Schneekönigin (Снежная королева), in: Berger, Eberhard/Giera, Joachim (Hrsg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin, 1990, S. 177.
- De la Motte-Haber, Helga/Emons, Hans: Filmmusik. Eine systematische Beschreibung. München, 1980, S. 180.
- Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005, S. 73.
- Hartzell, Päivi: Filmbesprechungen: Die Schneekönigin, in: Ehlers, Ulrich/Kahrmann, Klaus-Ove (Hrsg.): Mädchenbilder im skandinavischen und deutschen Kinder- und Jugendfilm. Scheersberg, 1988, S. 157.
- Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. 3., überarbeitete Auflage, Stuttgart/Weimar, 2001, S. 198.
- Shojaei Kawan, Christine: Rotkäppchen, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 11, Berlin/New York, 2004, Sp. 859.
- Stein, Ernst: Nachwort, in: Stein, Ernst (Hrsg.): Hans Christian Andersen. Märchen. Illustrationen von Bernhard Nast. Berlin, o. J., S. 385.
- Will, Fabienne: Die Schneekönigin (Lumikuningatar), in: Friedrich, Andreas (Hrsg.): Filmgenres. Fantasy- und Märchenfilm. Stuttgart, 2003, S. 147.
Headerfoto: Die finnische Schauspielerin Linda Zilliacus als „Die Schneekönigin“ / © ZDF/Anniina Nissinen