Dornröschen war einmal. Denn: In „Maleficent – Die dunkle Fee“ geht es weniger um einen blonden Teenager, der sich an einer Spindel sticht, sondern um das Psychogramm einer guten Fee (Angelina Jolie), die zur bösen mutiert. Und dabei auch ein paar märchen-untypische Botschaften im Gepäck hat. Walt Disney würde sagen: „Oh my God!“
Nicht hundert – wie im „Dornröschen“-Märchen –, sondern nur 55 Jahre später hat das Disney-Studio ein Remake seines Zeichentrick-Klassikers „Sleeping Beauty“ (1959) in den Kinos gestartet. Herausgekommen ist ein bildgewaltiger Fantasy-Film, der in seiner Idee ein wenig an „Star Wars Episode I-III“ erinnert und die Frage, warum Darth Vader ein Böser wurde. In „Maleficent“ (2014) versucht Regisseur Robert Stromberg herauszufinden, warum die Fee Malefiz aus „Sleeping Beauty“ (1959) so schlecht drauf ist.
In dem Animationsfilm verflucht sie die kleine Prinzessin Aurora: An ihrem 16. Geburtstag soll sie sich an einer Spindel stechen und tot umfallen. Doch: In der Version des US-Filmproduzenten Walt Disney, die am 30. Oktober 1959 unter dem Titel „Dornröschen und der Prinz“ in die westdeutschen Kinos kommt, wird nicht das Motiv, oder besser gesagt: das „blinde Motiv“ (Lüthi), der bösen Fee hinterfragt. Blind bedeutet in dem Fall, dass die „Hintergründe (für ein bestimmtes Handeln, d. A.) unbeleuchtet bleiben“ (ebd.). Im Übrigen typisch für viele Märchen.
Dornröschen-Märchen: von Basile über Perrault bis zu den Grimms
Die „Dornröschen“-Vorlagen sind deshalb auch hier wenig hilfreich: In Giambattista Basiles Version „Sonne, Mond und Thalia“ ist das vermeintlich Böse eine harmlose alte Frau, die selbst erschrocken ist, als sich das Mädchen Thalia – das italienische Dornröschen – mit dem Finger an einer Hanffaser verletzt und tot hinfällt. Im „Dornröschen“ der Brüder Grimm und von Ludwig Bechstein nimmt die 13. Fee dem König übel, dass sie nicht zum Geburts-Fest seiner Tochter eingeladen ist – und verflucht sie.
Aber, mal ehrlich, rechtfertigt eine ausgebliebene Einladung einen Todesfluch? Auch in der Version von Charles Perrault – auf die sich „Sleeping Beauty“ und „Maleficent“ beziehen – finden sich keine Anhaltspunkte: In „Die schlafende Schöne im Walde“ hat der König gleichfalls vergessen, eine alte Fee einzuladen. Für diesen Fauxpas revanchiert sie sich mit dem bekannten Fluch. Und auch hier wird dieser abgemildert von einer anderen guten Fee, die prophezeit, dass es nur ein 100-jähriger Schlaf sein soll, in den die Prinzessin fällt.
Schwarze Anti-Fee Maleficent mit Hörnern und Flügeln
„Maleficent“-Drehbuchschreiberin Linda Woolverton versucht deshalb im Remake das Geheimnis zu lüften, weshalb die Fee später zu einer bösen und dunklen mutiert – stellt dabei aber gleichzeitig auch die dem Märchen so typischen Pole Gut und Böse in Frage. Dabei nutzt sie eine (weibliche) Stimme aus dem Off, die das Märchen erzählt, bisweilen kommentiert, oftmals aber mit einem Zuviel an Informationen die Fantasie der Zuschauer – die ja durch Filmbilder angeregt werden soll – zerstört:
Der lebenslustige Teenager Maleficent (Isobelle Molloy) lebt in den Mooren, ein Naturparadies ohne Rangordnung, in dem Elfen, Fabeltiere und Zauberwesen harmonisch zusammenleben. Obwohl Maleficent eine Fee ist, vereint sie – anders als ihre Kolleginnen – keine typischen Feen-Attribute auf sich: Sie trägt langes schwarzes Haar, spitze Hörner auf dem Kopf und Flügel mit schwarz-glänzenden Federn auf dem Rücken, mit denen sie fliegen kann. Sie ist – trotz dieses teuflisch-ambivalenten Kostüms – ein sympathisches Wesen.
Feenreich vs. Menschenreich: politische Gegensätze
Und dabei ebenso friedlich, wie das Naturparadies, in dem sie lebt – das zudem von der Farbe Grün dominiert wird, die für Hoffnung, Leben, Frieden steht. In dieses Feenreich bricht der Menschenjunge Stefan (Michael Higgins) ein. Beide gleichaltrigen Teenager freunden sich an – und verlieben sie sich mit der Zeit. Doch Stefan fühlt sich zu Höherem bestimmt, was nebenbei schon sein Name verrät, der im Griechischen (stéphanos) „Kranz“ oder „Krone“ bedeutet: Er möchte im Reich der Menschen König werden.
Dieses Menschenreich ist das politische Gegenstück zum Feenreich. Kriegslust, Landgier und Missgunst prägen dieses Land. Der machthungrige alte König Henry (Kenneth Cranham) regiert es. Angeblich bedroht das nachbarliche Feenreich sein eigenes Imperium. Einen echten Beweis dafür gibt es nicht, kann es auch nicht geben. Doch – und hier wagt sich der US-Märchenfilm (sic!) aus der Deckung – ein Krieg kann auch mit gefälschten Beweisen begonnen werden. Das hat die Welt (wenig märchenhaft) 2003 erfahren müssen.
Maleficents Flügelraub steht auch für Vergewaltigung
Maleficent (Angelina Jolie), jetzt eine erwachsene Frau, stellt sich an die Spitze der Zauberwesen, die die Moore verteidigen – und siegt. Doch der alte König will nicht aufgeben. Derjenige, dem es gelingt, Maleficent zu töten, soll sein Königreich erben. Der erwachsene Stefan (Sharlto Copley) sucht seine Jugendliebe auf, gibt vor, sie zu warnen. Und doch betäubt er sie nur mit einem Schlaftrunk und raubt ihr das Wichtigste: die Flügel. Eine Schlüsselszene, wie Angelina Jolie dem britischen Sender BBC Radio 4 verriet.
Drehbuchschreiberin Linda Woolverton und ihr sei sehr wohl bewusst gewesen, dass diese Szene die Metapher für eine Vergewaltigung ist, so Jolie. Und: „In dem Film geht es auch um die Frage, wie das Missbrauchsopfer darauf reagieren soll: selbst gewalttätig werden oder sich überwinden und ein liebenswerter, offener Mensch bleiben.“ Maleficent, traumatisiert und gebrochen, verändert sich – äußerlich und innerlich. Ebenso legt sich über den Garten Eden ein dunkler Schatten. Das Grün verschwindet. Schwarz herrscht vor.
Bilderwelten täuschen nicht über erzählerische Mankos hinweg
Um Jolies Frage aufzugreifen: Maleficent wird gewalttätig. Vorerst. Bei der Taufe von Stefans Tochter Aurora – zu der sie nicht eingeladen ist – verflucht sie die Prinzessin. Sie solle sich an ihrem 16. Geburtstag an einer Spindel stechen, in einen todesähnlichen Schlaf fallen und erst durch einen Kuss der wahren Liebe erlöst werden. Dass der Vater seine Tochter dann plötzlich drei Blumenfeen anvertraut, die Aurora bis zu ihrem 16. Geburtstag im Feenreich (in Maleficents Nähe!) aufziehen sollen, ist eines der erzählerischen Mankos.
Der Märchenfilm schafft es oftmals nicht, die Logik der Handlung auf dem hohen Niveau zu halten, auf dem sich Ausstattung (Set-Dekoration: Gary Freeman, Lee Sandales) und Kostüm (Anna B. Sheppard) durchaus befinden. Gewiss, das Aufwachsen Auroras im Feenreich bringt mit sich, dass sich die Prinzessin und Maleficent im Laufe der Jahre über den Weg laufen – dennoch wirkt alles vorhersehbar und künstlich. Da freut sich der Zuschauer, wenn in Monologen und Dialogen manchmal ein wenig Ironie durchschimmert.
Kampf der Geschlechter: Frauen vs. Männer
So zum Beispiel als die dunkle Fee die Prinzessin das „kleine Monsterchen“ nennt, wenn sie diese im Feenreich argwöhnisch beobachtet. Für die humoristischen Momente, in der etwas düsteren Verfilmung, sorgt auch Maleficents treuer Diener Diaval – „durch“ (griechisch: dia) den sie an wichtige Neuigkeiten kommt. Der Grund: Vormals ein Rabe, den sie vor dem Tod rettet, nimmt er nun auf Befehl Maleficents verschiedene Gestalten (Rabe, Mensch, Wolf, Drache) an, um bei ihren Racheplänen zu helfen – und bisweilen zu widersprechen.
In der Rolle Diavals (im Übrigen gespielt von „Control“-Star Sam Riley), wie noch stärker in König Henry und Stefan, wird eines ganz besonders deutlich: In „Maleficent – Die dunkle Fee“ sind die männlichen Figuren konsequent dem weiblichen Ensemble untergeordnet. Entweder werden sie zum gezähmt-harmlosen Diener (Diaval) oder sie verlieren jede Sympathie, Glaubwürdigkeit und Daseinsberechtigung, weil sie durch Gier und Ehrgeiz innerlich zerfressen sind (König Henry und Stefan).
Vom Suchen und Finden der wahren Liebe
Und auch der obligatorische Märchenprinz (Brenton Thwaites als Phillip), dem eigentlich die Rolle des „Erlösers“ zukommen sollte, enttäuscht. Sein Kuss erlöst Prinzessin Aurora (Elle Fanning) nicht aus ihrem Todesschlaf, in den sie fällt, als sie sich an einem Spinnrad sticht. Vier Kerle, vier Nieten. Vielleicht liegt das ja an den coolen Frauen (darunter Jolie), die den Film mitproduzieren – und in einer immer noch patriarchalisch geprägten Welt keine Lust auf positive, starke Männerrollen im Märchenfilm haben.
Das heißt nicht, dass „Maleficent – Die dunkle Fee“ die weiblichen Charaktere modern zeichnet: Maleficent, Prinzessin Aurora und die drei Blumenfeen Knotgrass (Imelda Staunton), Flittle (Lesley Manville) und Thistlewit (Juno Temple) bieten im Vergleich mit ihren männlichen Kollegen aber wenigstens ein paar Identifikationsmodelle fürs Publikum. Und: Die Mädels machen unter sich aus, was „wahre Liebe“ in Wirklichkeit bedeutet. Es hat jedenfalls nicht unbedingt etwas mit der Liebe zwischen Mann und Frau zu tun …
Primärliteratur:
- Basile, Giambattista: Sonne, Mond und Thalia, in: Das Pentameron. Aus dem Neapolitanischen Übertragung von Felix Liebrecht. Nachwort von Werner Bahner. Mit 20 Federzeichnungen von Josef Hegenbarth, Leipzig, 1968
- Bechstein, Ludwig: Das Dornröschen, in: Sämtliche Märchen. Vollständige Ausgabe der Märchen Bechsteins nach der Ausgabe letzter Hand unter Berücksichtigung der Erstdrucke. Mit 187 Illustrationen von Ludwig Richter, Mannheim, 2011
- Brüder Grimm: Dornröschen, in: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen von Heinz Rölleke. Bd. 1, Stuttgart, 1980/2001
- Perrault, Charles: Die schlafende Schöne im Walde, in: Sämtliche Märchen. Mit 10 Illustrationen von Gustave Doré. Übersetzung und Nachwort von Doris Distelmaier-Haas, Stuttgart, 1986
Sekundärliteratur: Lüthi, Max: Blindes Motiv, in: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 2, New York/Berlin, 1979, Sp. 467-471.
Headerfoto: Maleficent – Die dunkle Fee (USA 2014): Die Titelrolle übernimmt die US-Schauspielerin Angelina Jolie / © Frank Connor/Disney Enterprises, Inc. All Rights Reserved.