Der neue ARD-Märchenfilm „Sechse kommen durch die ganze Welt“ frei nach den Brüdern Grimm zeigt, dass jeder etwas Besonderes ist – auch Außenseiter und Freaks mit ungewöhnlichen Fähigkeiten. Was zählt, ist der Mensch und dass er selbst an sich glaubt. Dann klappt’s auch mit der Prinzessin. Oder zumindest mit dem halben Königreich.
Regisseur Uwe Janson hat bereits mit „Aschenputtel“ (2011) bewiesen, dass er bekannten Märchen durchaus neue Seiten abgewinnen kann – und das in der x-ten Verfilmung. Als er damals die Rolle des Aschenputtels von der toughen Aylin Tezel spielen lässt, pfeift er auf das gängige Blonde-Prinzessin-Klischee und setzt gleich noch einen drauf: Ein junger Mann im Ballkleid darf sich als Heiratskandidatin dem Prinzen (Florian Bartholomäi) vorstellen. Ziemlich mutig für einen ARD-Märchenfilm. Um so größer ist jetzt die Spannung auf seinen neuen Streich.
Diesmal hat sich Janson ein weniger bekanntes Märchen der Brüder Grimm ausgesucht: „Sechse kommen durch die ganze Welt“. Zudem ist die Geschichte über sechs Außenseiter mit ungewöhnlichen Fähigkeiten erst einmal verfilmt worden – und zwar 1972 vom DDR-Regisseur Rainer Simon. Allerdings mit (Reise-) Beschränkungen. So wird im Titel des Märchenfilms „auf das Leben in der seit einem Jahrzehnt ‚eingeschlossenen‘ DDR-Gesellschaft“ (Wiedemann) angespielt, wenn nämlich das kleine Wörtchen „ganze“ Welt fehlt. Dennoch oder gerade deshalb gehört der DDR-Märchenfilm zu den besten der 1970er-Jahre.
Sechse kommen durch die ganze Welt und zum FilmFestival Cottbus
Ob sich die ARD-Neuverfilmung in den Olymp der besten deutschen Märchenfilme des 21. Jahrhunderts katapultiert, bleibt abzuwarten. Als die Adaption in einer Welt-Premiere beim 24. FilmFestival Cottbus im November 2014 gezeigt wird, gibt es schon einmal Vorschusslorbeeren, sprich: einen ordentlichen Applaus des jungen Publikums aus Kindern und deren Eltern. Vielleicht lag das auch daran, dass das Märchen leicht – nicht zu verwechseln mit seicht – sowie mit klugem Witz und Humor inszeniert ist.Diese Leichtigkeit spiegelt sich zum Beispiel im Märchenhelden wider. Ist er bei den Grimms noch ein junger rachsüchtiger Mann, der im Krieg diente und sauer auf den König ist, weil er nur „drei Heller Zehrgeld auf den Weg“ bekommt, so macht Drehbuchschreiber David Ungureit einen talentierten, aber armen Musikus namens Jasper (Rafael Gareisen) aus ihm. Der hat sich in die Prinzessin Ella (Laura Maria Heid) verliebt. Und sie in ihn. Wenn da nicht ihr Vater König Wilbur („Tatort“-Hauptkommissar: Sebastian Bezzel) wäre.
„Tatort“-Kommissar, Soap-Star und „Alice im Wunderland“
Anders als bei den Grimms sind es weder ein schnöder Kriegssold noch die finanzielle Rache des Soldaten, die die Handlung in Gang bringen, sondern das Nein des Königs zu der nicht standesgemäßen Beziehung seiner Tochter. Wie in „Aschenputtel“ entscheidet sich Regisseur Janson bei der Besetzung der Königstochter gegen blonde Prinzessinnen-Stereotype: Soap-Star Laura Maria Heid („Unter uns“) spielt die Rolle. Ihr „globaler Mix“ (lustiger O-Ton der Schauspielagentur, die sie vertritt) trifft hier auf Talent. Fast wie im Märchen.Apropos: Dass Sebastian Bezzel schauspielerisches Talent hat, beweist er mehrmals im Jahr als „Tatort“-Kommissar vom Bodensee. In der Rolle des Herrschers König Wilbur erinnert er an eine männliche Variante der despotischen Herzkönigin aus Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“. Auch sein Reich ist ein Land voller Absurditäten und skurriler Figuren. Wohin das Auge schaut Diener und Soldaten, die wie Spielkarten aussehen. Mittendrin der unberechenbare und zerstreuungssüchtige König, selbst im Spielkarten-Karo-Outfit, und sein Kanzler (Tonio Arango).
Von Quoten-Frauen in Männer-Sixpacks
Und: Heißt es bei Carrolls Herzkönigin ständig „Ab mit dem Kopf!“, so schickt König Wilbur alle ihm Unliebsamen mit einem unschuldigen „Hopsala“! ins Schlossverlies. Dort landet auch Jasper, kurz nachdem er beim König um Prinzessin Ellas Hand angehalten hat. Ein Musikus als Schwiegersohn, das fehlte noch, so denkt der Herrscher. Doch Jasper trifft im königlichen Verlies auf Lukas „den Starken“ (Anton Rubtsov) und die „Hexe“ Flora (Alissa Wilms) – und flieht mit den beiden.Die erzählerische Idee, dass der Held nicht bloß mit Geschlechtsgenossen, sondern auch mit Mädchen durch die Welt zieht, ist so neu nicht. Schon in der 1972er-Adaption entscheiden sich die damaligen Szenaristen Manfred Freitag und Joachim Nestler für eine Quoten-Frau im Männer-Sixpack. Freilich auch aus dem Grund, weil sich der Märchenheld hier statt in die Prinzessin in das einfache Mädchen aus der Sechser-Truppe verliebt. Drehbuchschreiber David Ungureit ist 2014 konsequenter und geht noch einen Schritt weiter.
Die Quadratur des Zielgruppen-Kreises im Märchenfilm
Jasper, Lukas und Flora laufen – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht nur Markus „dem Läufer“ (Maximilian Gehrlinger) und Benjamin „dem Schützen“ (Emil Reinke) über den Weg, sondern auch Lisa „der Eisigen“ (Nicole Mercedes Müller). Gerade für weibliche Zuschauer, die keine Lust auf Prinzessin-Sein haben, bieten die Mädels Flora und Lisa zusätzliches Identifikationspotential. Alle Sechs haben außergewöhnliche Fähigkeiten, ecken aber damit im Land König Wilburs an und werden ausgegrenzt.Dass sich innerhalb dieser Sechs dann auch (Liebes-) Pärchen bilden, ist den Zielgruppen geschuldet. Denn der Märchenfilm soll ja Kinder, Teenager und Erwachsene ansprechen. Auch hier versucht man sich wieder an der Quadratur des Zielgruppen-Kreises. Kussszenen ernten bei den Kleinen allerdings nur Lacher. Sei es drum. Wie schon im Western-Klassiker „Die glorreichen Sieben“ sind es in „Sechse kommen durch die ganze Welt“ gerade die einzelnen Typen, die trotz ihrer Unterschiede zu einer verschworenen Gemeinschaft werden.
Die glorreichen Sieben kommen durch die ganze Welt
Und das ist auch notwendig, denn sie wollen mutig gegen König Wilbur aufbegehren. Nur gemeinsam kann das gelingen. Deshalb schmieden sie einen Plan. Verkleidet fordert Jasper den König zu einem Wettstreit heraus: Ein Rennen soll den schnellsten Läufer im Land ermitteln. Der Einsatz ist allerdings gewagt. Gewinnt Jasper, bekommt er die Hand der Prinzessin. Falls nicht muss er sein Leben und das Leben seines Läufers Markus dem König schenken. Die Sechs stehen vor einer großen Herausforderung …Dass das alles mit filmischen Retro-Stilmitteln, zum Beispiel guten alten Wischblenden aus den 1960er-Jahren inszeniert wird, beweist, dass sich „Sechse kommen durch die ganze Welt“ immer wieder aus seinem klassischen Märchenfilm-Korsett befreien will – um neue gestalterische Wege zu gehen. Und auch erzählerische: Denn am Ende sind es eben nicht sechs, die die Welt entdecken wollen, sondern plötzlich sieben. Und so wandern die nun glorreichen Sieben aus dem Märchenland neugierig der Zukunft entgegen.
Film: „Sechse kommen durch die ganze Welt“ (2014, Regie: Uwe Janson, BRD). Auf DVD erschienen.
Drehorte:
- Marmorpalais, Im Neuen Garten 10, 14469 Potsdam
- Schloss Friedrichsfelde, Am Tierpark 125, 10319 Berlin (Innenaufnahmen)
- Schloss und Park Marquardt, Hauptstraße 14, 14476 Potsdam OT Marquardt
- Zitadelle Spandau, Am Juliusturm 64, 13599 Berlin
Literatur:
- Brüder Grimm: Sechse kommen durch die ganze Welt, in: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke, Bd. 1. Stuttgart, 1980/2001, S. 369-375.
- Wiedemann, Dieter: Die siebziger und achtziger Jahre: Vertreibung eines Genres, in: König, Ingelore/Wiedemann, Dieter/Wolf, Lothar: Märchen. Arbeiten mit DEFA-Kinderfilmen. München, 1998, S. 16.
Headerfoto: Markus „der Läufer“ (Maximilian Gehrlinger, v.l.n.r.), Lukas „der Starke“ (Anton Rubstov), „Hexe“ Flora (Alissa Wilms), Musikus Jasper (Rafael Gareisen), Benjamin „der Schütze“ (Emil Reinke), Lisa „die Eisige“ (Nicole Mercedes Müller) / Foto-Copyright: Daniela Incoronato