„Eselshaut“ von Jacques Demy ist eine Hommage an den Meister des französischen (Märchen-)Films Jean Cocteau. Und doch steckt viel mehr in dem knallbunten Musical-Spaß. 50 Jahre nach seiner Kino-Premiere erscheint der Kultstreifen jetzt auf DVD.
Filme werden immer auch von Klassikern geprägt, die „prototypisch für die Entwicklung ihres Genres stehen können“ (zu Hüningen 2012). Das gilt ebenso für den Märchenfilm. Dabei kann dieser – mal mehr, mal weniger offen – strukturell oder ästhetisch Bezug auf einen oder mehrere Filmklassiker nehmen. Der Reiz liegt dann oft in einer ausgewogenen Melange aus genretypischen Strukturen, bildlichen Zitaten und postmodernen Brüchen.
Zu diesen Klassikern zählt zweifellos Jean Cocteaus „Die Schöne und das Biest“ (F 1946). Der französische Märchenfilm über die Liebe zwischen der schönen Belle (Josette Day) und der verzauberten Bestie (Jean Marais) inspiriert Ende der 1960er-Jahre auch den Poeten des französischen Kinos Jacques Demy (1931–1990).
Der Regisseur ist heute vor allem für sein Gegenwarts-Musical „Die Regenschirme von Cherbourg“ (F/BRD 1964) bekannt, das bereits märchenhafte Verweise enthält. In den 1970er-Jahren verfilmt er dann zwei explizite Sagen- beziehungsweise Märchenvorlagen: „Der Rattenfänger von Hameln“ (GB/USA 1972) – und „Eselshaut“ (F 1970). Letzter geht auf „Peau d’âne“ zurück, ein Märchen des französischen Dichters Charles Perrault, das er 1694 veröffentlicht.
Eselshaut: Ein Märchen von Charles Perrault
Die Vorlage erzählt über einen König, den seine Berater drängen, die eigene Tochter zu heiraten, um die Thronfolge zu sichern. Mit Hilfe ihrer Patin und dem abgezogenen Fell eines Esels – daher Eselshaut – kann die Prinzessin aber unerkannt vor dem Vater fliehen. An einem fremden Königshof erkennt ein Prinz, wer sie wirklich ist und heiratet das Mädchen.
Obgleich der Vater-Tochter-Inzest zum Beispiel in mythologischen Erzählungen aus der Antike oft vorkommt, erscheint er im Zaubermärchen eher selten – und wenn doch, dann als sogenanntes Eingangsmotiv, das die Handlung in Gang bringt. Das deutsche Pendant von Eselshaut ist hier beispielsweise „Allerleirauh“: Sie trägt einen Mantel aus allerlei Rauhwerk (eine alte Bezeichnung für Tierfelle).
Verfilmt wird „Eselshaut“ oder „Allerleirauh“ im Gegensatz zu anderen Märchen kaum. Dennoch gibt es frühe Adaptionen: Ein französischer Stummfilm „Peau d’âne“ von Albert Capellani datiert aus dem Jahr 1906. Johannes Meyer verfasst 1921 das Treatment für eine deutsche Kinoversion von „Allerleirauh“. Ob es verfilmt wurde, weiß niemand – aber sein Manuskript wartet noch heute im Deutschen Filminstitut, entdeckt zu werden.
Vom Vater-Tochter-Inzest zur Homosexualität
Warum sich Demy gerade „Eselshaut“ für eine Verfilmung aussucht und das Inzest-Motiv nicht ausspart, sondern ausspielt, wirft Fragen auf. Dass er inzestuöse Beziehungen in einigen seiner Filme offen oder versteckt thematisiert, ist aber unstrittig, so in „Die Mädchen von Rochefort“ (F 1967), „Parking“ (F 1985) und „Drei Karten für den 26.“ (F 1988).
Es gibt Erklärungsveruche, die meinen, dass Demy in „Eselshaut“ Inzest gleichnishaft für Homosexualität verwendet. Eine kühne Behauptung, weil das eine mit dem anderen auf den ersten Blick nichts gemeinsam hat, die aber bei näherer Betrachtung durchaus schlüssig wirkt.
Ein Grund: Beide – Inzest und Homosexualität – gelten aufgrund soziokultuereller Konventionen als Tabubruch. Demy selbst hat über seine eigene Bi- oder Homosexualität nie gesprochen. „Eselshaut“ kann aber als sein Versuch gedeutet werden, ‚das Unausprechliche’ – die Homosexualität – in fantastisch überhöhter Verfremdung (Märchen) und in motivischer Verkleidung (Inzest) erneut zu thematisieren (vgl. Duggan 2020).
Populäre Vorbilder: Walt Disney und Jean Cocteau
Dass Demy sich dabei einer traditionellen Stilistik des Märchenfilms bedient, zeigt schon die Exposition in „Eselshaut“. Darin knüpft er bildlich an populäre Vorbilder wie die Disney-Zeichentrickfilme „Snow White and the Seven Dwarfs“ (USA 1937) oder „Sleeping Beauty“ (USA 1959): Auch hier wird ein antikes Buch aufgeklappt, in dem der Märchentext zu lesen ist.
Während ein Off-Erzähler in das Märchen einführt, wird in „Eselshaut“ von einer Buchillustration in das identische Bild eines romantischen Märchenschlosses geblendet. Es ist das Wasserschloss Le Plessis-Bourré, ein prächtiger Bau aus dem 15. Jahrhundert in der Provinz Anjou. Hier leben der blaue König (Jean Marais), die vom Tod gezeichnete Königin und ihre gemeinsame Tochter, wobei die damals 27-jährige Catherine Deneuve in einer Doppelrolle zu sehen ist.
Stil-Ikone Deneuve, Film-Ikone Marais
Deneuve ist zu dieser Zeit bereits eine lebende Stil-Ikone mit immenser erotischer Anziehungskraft. Mit der Besetzung von Jean Marais spannt Demy andererseits einen Bogen zum traditionellen, französischen Märchenfilm, dem Cocteau-Klassiker „Die Schöne und das Biest“. Hier spielt er sowohl den schmarotzenden Avenant, die schaurige Bestie als auch am Ende den erlösten Prinzen. Demy sagt dazu in einem Interview vom 19. Dezember 1970:
Ich wollte mit einem Augenzwinkern auf Cocteau verweisen […]. Schließlich war er der einzige in Frankreich, der sich an den fantastischen Film herangewagt hatte. Um an ihn, an ‚La belle et la bête’ zu erinnern, wollte ich unbedingt Jean Marais. (Duggan 2020, S. 65)
Um diesen Verweis bildlich zu unterstreichen, trägt Marais einen Königsmantel mit breiten Schulterpolstern, der an das Kostüm und die kraftvolle Physiognomie der Bête erinnert.
Pop-art-Farbdramaturgie: Blau, Rot, Gelb, Grün
Obwohl Demy in „Eselshaut“, anders als Cocteau, Farbe als Mittel der filmischen Dramaturgie und Charakterisierung einsetzen kann, sind auch hier Traditionen unverkennbar, zum Beispiel zu „Der Dieb von Bagdad“ (USA 1940). Die frühe Technicolor-Produktion setzt der blauen Stadtkulisse von Bagdad, einem der Handlungsorte, in dem der böse Großwesir Jaffar (Conrad Veidt) regiert, das rosafarbene Basra gegenüber, in dem die liebreizende Prinzessin (June Duprez) lebt.
In „Eselshaut“ wird dem blauen Königreich – was sich an Figuren (blaugeschminkte Pagen), Tieren (blau gefärbte Pferde) und Elementen der Innenausstattung zeigt, zum Beispiel mit blauen Skulpturen, die durch Menschen verkörpert werden – das rote Königreich gegenübergestellt.
Dort lebt der der Prinz (Jacques Perrin) und – wie das Rot bereits symbolisch anzeigt – verliebt sich in Eselshaut. Mit dem Grün des Waldes, in dem sich beide das erste Mal treffen, und dem (Gold-)Gelb von Eselshaut (Haar und Kleid) komplettiert sich die Pop-art-Farbdramaturgie des 2012 restaurierten, farbkorrigierten Märchenfilms.
Requisitverschiebungen als postmoderne Brüche
Neben traditionellen, bildlichen Zitaten torpediert Demy zugleich althergebrachte Genre-Konventionen, wenn er mittels einer sogenannten Requisitverschiebung historische beziehungsweise postmoderne Brüche erzeugt. So ist Eselshauts Mutter nach ihrem Tod in einer futuristisch anmutenden Käseglocke aufgebahrt, die so auch zur Ausstattung in einem Science-Fiction-Film gehören könnte.
Oder es werden zur Hochzeit von Eselshaut und dem Prinzen auf Schloss Chambord, dem zweiten Hauptdrehort, sowohl der Brautvater als auch Eselshauts Patin, die Flieder-Fee (Delphine Seyrig), mittels eines Helikopters eingeflogen. Dabei bewirken diese und andere Anachronismen „lediglich einen historischen, nicht aber einen ästhetischen Bruch“ (Liptay 2004, S. 110).
Vielmehr fügen sie sich stilistisch in das Dekor ein und visualisieren zudem die „lächelnd distanzierte Erzählart“ (Distelmaier-Haas 2012, S. 135) sowie sprachliche Ironie, die bereits in der Perrault’schen Vorlage steckt.
„Prinzessinnen aus dem Märchen, gibt es die nicht mehr?“
Demy, der auch das Drehbuch für „Eselshaut“ schreibt, arbeitet zudem mit selbstreferentiellen Verweisen, wenn der blaue König augenzwinkernd sagt: „Prinzessinnen aus dem Märchen, gibt es die nicht mehr?“ Kurz zuvor hatte er sich Porträts von Königstöchtern angeschaut, die er auf Geheiß seiner Minister heiraten soll, um die Thronfolge zu sichern.
Diese Bildnisse sind historische Frauenporträts, deren Gesichter aber komisch verfremdet sind: hier eine lange Nase, dort ein schiefer Mund. Sie zeigen, dass Demy in Requisiten und Ausstattung historische Bezüge zelebriert, diese aber gleichzeitig bricht, also ent-historisiert – und sich letztlich humorvoll distanziert.
Weniger neu, eher klassisch sind dagegen wieder die Tricks in „Eselshaut“, die mittels einfacher Techniken umgesetzt werden und die ästhetisch Bezug zu filmischen Vorbildern nehmen. Neben Stopptrick und Überblendung werden sowohl Rückwärtslauf (reverse motion) als auch Zeitlupe (slow motion) genutzt, um das Märchenwunder zu visualisieren. Beispielhaft sollen hier die Kerzen erwähnt werden, die in „Eselshaut“ wie durch Zauberhand beginnen zu brennen – so wie 25 Jahre zuvor schon in „Die Schöne und das Biest“.
Filmmusik von Legrand: Barock, Jazz und Pop
Jener Cocteau-Klassiker, der „Eselshaut“ auf so vielen Ebenen durchdringt, beeinflusst letztlich auch die Musik. Komponist Michel Legrand, mit dem Demy schon für „Die Regenschirme von Cherbourg“ und „Die Mädchen von Rochefort“ zusammengearbeitet hatte, schreibt eine Filmmusik, die zwischen Barock, Jazz und Pop oszilliert.
Es ist „eine eigentümliche Ineinanderschachtelung des märchenhaften Universums, der Welt von Cocteau und der Pop-Art-Farben“ (Legrand). Oder anders gesagt, so wie der Film selbst: eine originelle Melange aus genretypischen Strukturen, Anspielungen auf Klassiker und postmodernen Brüchen. Eselshaut (F 1970)
Darsteller: Catherine Deneuve, Jean Marais, Jacques Perrin, Delphine Seyrig, Micheline Presle u. a.
Regie: Jacques Demy
Fassung: Deutsche Synchronisation, Französische Originalfassung mit oder ohne deutsche Untertitel
Länge: ca. 90 Minuten
Alterseinstufung: Freigegeben ohne Altersbeschränkung
Label: Studiocanal (VÖ: 7.5.2020)
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„Eselshaut“ (1970) ist auch Teil der 4er-DVD-Box „Jacques Demy <3 Catherine Deneuve Edition“ mit „Die Regenschirme von Cherbourg“ (1964), „Die Mädchen von Rochefort“ (1967) und „Die Umstandshose“ (1973). Lauflänge: ca. 391 Minuten.
Verwendete Quellen:
- Distelmaier-Haas, Doris (2012): Nachwort. In: Perrault, Charles: Sämtliche Märchen. Mit 10 Illustrationen von Gustave Doré. Übersetzung und Nachwort von Doris Distelmaier-Haas. Stuttgart, S. 131–140.
- Duggan, Anne E. (2020): Verque(e)re Märchenwelten. Zur Camp-Ästhetik von „Peau d’âne“. Aus dem Englischen von Kristina Köhler. In: Köhler, Kristina (Hrsg.): Jacques Demy. Film-Konzepte 56. München, S. 53–66.
- Hüningen, James zu (2012): Filmklassiker. In: Lexikon der Filmbegriffe (zuletzt geändert: 29.1.2012).
- Liptay, Fabienne (2004): WunderWelten. Märchen im Film. Remscheid.
- Taloş, Ion (1993): Inzest. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 7. Berlin/New York, S. 229–241.
Weiterführende Literatur:
- Grob, Norbert: Zum Tod des französischen Filmregisseurs Jacques Demy: Ich bin ich. In: Die Zeit 45 (1990), Nr. 46, 9.11.1990.
- Mulligan, Georgia (2017): The queer cinema of Jacques Demy. University of Warwick.
- Peau d’âne (Eselshaut) – ein Film von Jacques Demy (F 1970): Dialog aus Alain Bergalas „Le cinéma, une histoire de plans“. Gesprochen von Fanny Ardant und Michel Piccoli. In: Kunst der Vermittlung. Aus den Archiven des Filmvermittelnden Films.
Headerfoto: Eselshaut (Catherine Deneuve) mit ihrem Vater, dem blauen König (Jean Marais) / © Studiocanal