Pünktlich zur Weihnachtszeit erweckt Disney in diesem Jahr „Nussknacker und Mausekönig“ zum Leben. Dumm nur, dass sich die Geschichte anfühlt, als wenn das Pentagon ein paar Seiten im Drehbuch mitgeschrieben hat. Kinostart ist am 1. November 2018.
Wenn die Kamera in den ersten Filmbildern das weihnachtliche, verschneite London um 1900 aus der Vogelperspektive zeigt, ist das natürlich ein bezaubernder Anblick. Alles funkelt, glitzert, blinkt. Parallel läuft auf der Tonspur Tschaikowskis „Nussknacker-Suite“ – quasi das „Last Christmas“ des 19. Jahrhunderts. Wer da nicht in Weihnachtsstimmung kommt!
Die Schweizer Filmkritikerin Christine Lötscher hat recht, wenn sie meint, dass in Disney-Märchenfilmen von Beginn an „alles, was man sieht und hört musikalisch durchrhythmisiert ist und allein dadurch mit einem Zauber aufgeladen ist“.
Ja, Disney weiß, wie man den Zuschauer manipuliert. Und an Weihnachten lässt sich das Publikum besonders gerne manipulieren. Am besten klappt das mit einer fantastischen Geschichte, die sich auch noch am Heiligen Abend zuträgt, wie im neuen Disney-Film „Der Nussknacker und die vier Reiche“.
Vorlage ist „Nussknacker und Mausekönig“ von E. T. A. Hoffmann
Es war aber kein Brite, der dafür die Vorlage lieferte – wie etwa Charles Dickens mit „A Christmas Carol“, als 3-D-Fantasy-Spektakel im Jahr 2009 von Disney verfilmt – sondern ein Wahl-Berliner mit dem schönen Namen Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, kurz: E. T. A. Hoffmann.
Hoffmann (1776–1822), so etwas wie der ‚King of Romanticism’ im 19. Jahrhundert, veröffentlichte im Dezember 1816 den ersten Band seiner „Kindermärchen“. Darunter befand sich auch die Geschichte „Nussknacker und Mausekönig“.
Darin erlebt die siebenjährige Marie einen Kampf zwischen Spielzeugfiguren, zu denen ein hölzerner Nussknacker gehört, mit einem Heer von Mäusen, die von einem siebenköpfigen bösen Mausekönig angeführt werden.
Traum und Wirklichkeit vermischen sich auf skurrile Weise
Obgleich die Geschichte ganz nebenbei „die erste literarische Schilderung einer Berliner Weihnachtsfeier mit einem Lichterbaum“ war, wie der DDR-Schriftsteller und Hoffmann-Herausgeber Klaus Günzel (1936–2005) feststellte, so ist das Besondere vielmehr, dass in dem Märchen Traum und Wirklichkeit auf skurrile Weise miteinander vermischt werden.
Ein filmisches Terrain, auf dem Disney bereits erfolgreich war – nicht zuletzt mit „Alice im Wunderland“ (2010) und dem Nachfolger „Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ (2016). Hier wie dort gelangt die Titelfigur mit Hilfe von ‚Umsteigepunkten’, entweder ein Kaninchenloch oder ein magischer Kaminspiegel, vom Alltag des viktorianischen Englands in eine Fantasiewelt.
Walking in a Winter Wonderland
Auch Clara Stahlbaum (Mackenzie Foy), die Heldin aus „Der Nussknacker und die vier Reiche“, wechselt die Seiten. Ein schier endlos scheinender dunkler Flur, an dessen Ende sich eine riesige Baumwurzel befindet, dient als Zugang zu einem fantastischen ‚Winter Wonderland’. Hier sucht Clara einen geheimnisvollen Schlüssel, der zu einer Spieluhr passt – das Weihnachtsgeschenk ihrer kurz zuvor verstorbenen Mutter.
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Nussknacker und Mausekönig (D 2015): Traum und Wirklichkeit
Mit der ursprünglichen Hoffmann’schen Geschichte hat das freilich nicht mehr viel zu tun. Gewiss trifft der Zuschauer noch auf einige jener Figuren, die er aus der literarischen Vorlage kennt: etwa Bruder Fritz, Schwester Louise (Ellie Bamber), der Vater (Matthew Macfadyen) oder der schrullige Pate Droßelmeier (Morgan Freeman). Auch ein paar Ingredienzien der von Hoffmann inspirierten Ballettmusik „Der Nussknacker“ (1892) schmeckt der Zuschauer heraus.
Als eine klassische Coming-of-Age-Geschichte lesbar
Doch das war’s dann schon. Die Abkehr vom Original verwundert allerdings nicht. Schon die „Alice“-Verfilmungen schlugen einen anderen Weg ein. Sowohl deren Titelfigur als auch Clara in „Der Nussknacker und die vier Reiche“ erlebt man nicht als Kind, sondern als heranwachsende junge Frauen – deren Abenteuer als eine klassische Coming-of-Age-Geschichte lesbar sind.
Solche und weitere neue Erzählideen sind quasi ein Muss. Sie können zeitnahe Akzente setzen und zuweilen auf fantastische Art und Weise das Heute kommentieren. Dennoch bietet Lasse Hallströms („Chocolat – Ein kleiner Biss genügt“, 2000) Verfilmung des Hoffmann’schen Klassikers erzählerisch kaum Überraschungen.
Wer sind die Guten, wer sind die Bösen?
Und das, obwohl sich die Drehbuchschreiber Ashleigh Powell und Simon Beaufoy („Die Tribute von Panem – Catching Fire“, 2013) durchaus Mühe geben: So trifft Clara im Schneereich, im Blumenreich und im Zuckerland auf seltsame Bewohner. Darunter die ambivalente Zuckerfee (Keira Knightley), der extravagante Blumenkönig (Eugenio Derbez) und der bedächtige Herrscher des Schneereiches (Richard E. Grant).
Dass das Böse das eigentlich Gute, und das vermeintlich Gute in Wahrheit das Böse in sich vereint, ist eine der wenigen Unvorhersehbarkeiten der filmischen Neubearbeitung. Dabei beunruhigt, dass Disney – wie schon in den „Alice“-Verfilmungen – sowohl erzählerisch als auch ästhetisch einen gewissen Militarismus bedient.
Soviel Krieg im Märchenland
Man könnte fast meinen, dass das Pentagon, Hauptsitz des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums, am Drehbuch beteiligt war, wenn Clara – in Uniform – zusammen mit dem Soldaten Philip und einer bewaffneten Armee ins unheilvolle Vierte Reich marschiert. Dort regiert die tyrannische Mutter Ingwer (Helen Mirren). Ausgerechnet hier ist der magische Schlüssel versteckt, den Clara sucht.
Offenbar, so die unterschwellige Botschaft, sind Konflikte – auch in der Fantasiewelt – nur noch militärisch zu lösen. Mag sein, dass eine solche Attitüde schon die Hoffmann’sche Vorlage enthält, wenn dort eine „Mäuseartillerie“ mit der „nußknackerischen Armee“ kämpft.
Doch in der Neuverfilmung scheint das die neue Erzählstrategie. Denn auch die gute Zuckerfee, die sich am Ende als böse entpuppt, baut ihre diktatorische Macht auf eine Armee von Spielzeugsoldaten, die wiederum in eine Schlacht ziehen. Soviel Krieg im Märchenland gab es selten.
Schwarze Figuren im US-amerikanischen Mainstream-Kino
Bei solch Getöse geht fast unter, dass Disney es Schritt für Schritt schafft, „selbstbewusst und gleichberechtigt agierende schwarze und weiße Figuren“ (Busche) im Hollywood-Film zu zeigen. Philip, gespielt vom Afrobriten Jayden Fowora-Knight, ist neben „Oscar“-Preisträger Morgan Freeman die männliche Figur im Film – und schwarz.
Sicher kann der Vorwurf gelten, dass Philip nur ein sogenannter Sidekick ist: eine Nebenfigur, die der Heldin als treuer Freund zur Seite steht. Dagegen spricht allerdings, dass Philip als Figur weder überzeichnet wird noch in komische Situationen gerät, was typisch für Sidekicks ist. Mehr noch: Fast scheint es, dass sich Clara und Philip ein wenig ineinander verlieben.
Und, nein, beide tanzen am Ende nicht zu Tschaikowskis „Blumenwalzer“ im Dreivierteltakt. Man muss es ja mit dem Kitsch keineswegs übertreiben. Auch in einem Disney-Film nicht.
Film: „Der Nussknacker und die vier Reiche/The Nutcracker and the Four Realms“ (USA, 2018, R: Lasse Hallström). Kinostart in Deutschland ist am 1. November 2018.
Drehorte: u. a. Pinewood Studios (London). Der Szenenbildner Guy Hendrix Dyas („Elizabeth – Das goldene Königreich“, 2007) ließ sich von realen Orten in England, Russland und Deutschland inspirieren:
- Herrenhaus Minley Manor (Camberley GU17 9UF, UK)
- Stadtviertel South Kensington (London, UK)
- Basilius-Kathedrale (Roter Platz, 109012 Moskau, RUS)
- Nowodewitschi-Kloster (Nowodewitschi Passage 1, 119435 Moskau, RUS)
- Markusturm (Rödergasse, 91541 Rothenburg ob der Tauber, D)
- Sieberstor (Plönlein, 91541 Rothenburg ob der Tauber, D)
Literatur:
- Busche, Andreas: Ein weiter Weg – Afroamerikanische Emanzipation und Integration im Hollywood-Kino. In: Kinofenster.de, 23.11.2011
- Günzel, Klaus: Ein Capriccio in drei Sätzen als Nachtrag zu E. T. A. Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“. In: Hoffmann, E. T. A.: Nussknacker und Mausekönig. Märchen. Mit Holzstichen von Bertall und einem Nachwort von Klaus Günzel. Berlin, 1982, S. 210f.
- Lötscher, Christine: Teenagernöte im Freilichtmuseum. Die Märchenspielfilmreihen „Sechs auf einen Streich“ (ARD) und „Märchenperlen“ (ZDF). In: Dettmar, Ute/Pecher, Claudia Maria/Schlesinger, Ron (Hrsg.): Märchen im Medienwechsel – Zur Geschichte und Gegenwart des Märchenfilms. Stuttgart, 2018, S. 310.
Weiterführende Medien: „ZDF-History: Geheimes Hollywood. Die dunkle Seite der Traumfabrik“. Ein Film von Annette Baumeister und Natascha Walter.
Headerfoto: Clara (Mackenzie Foy) und Philip (Jayden Fowara-Knight) marschieren ins Vierte Reich ein / © Disney 2018
Dieser Beitrag wurde am 8. Dezember 2019 aktualisiert.