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Soundtrack im Märchenfilm: Die wahnsinnig traurige Prinzessin (ČSSR 1968)

Soundtrack im Märchenfilm: Die wahnsinnig traurige Prinzessin (ČSSR 1968)

In den 1960er-Jahren entwickelte sich auch in der Tschechoslowakei ein Filmstil, der durch Lust am Experiment und offene Gesellschaftskritik auffiel. Doch ebenso die Filmmusik veränderte sich hörbar.

Was haben die US-Kultserie „Miami Vice“ (1984–1989) und der tschechoslowakische Märchenfilm „Die wahnsinnig traurige Prinzessin“ (1968) gemeinsam? Auf den ersten Blick wenig. Doch das täuscht, denn sowohl für die Serie als auch die Märchenadaption hat der tschechisch-amerikanische Filmkomponist Jan Hammer (eigentlich: Jan Hamr) die Filmmusik geschrieben.

Ein Blick zurück: Als der in Prag geborene Hamr 1968 an der Musikhochschule in seiner Heimatstadt studierte, veränderte ein Ereignis schlagartig auch sein Leben: der „Prager Frühling“. Die kommunistische Reformbewegung wollte in der ČSSR einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ schaffen.

Doch die Hoffnung auf Freiheit endete abrupt mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts, genauer der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens, am 21. August 1968. Einige tschechoslowakische Künstlerinnen und Künstler, die zuvor die Chance genutzt und mit ihrer Arbeit gesellschaftliche Missstände kritisiert hatten, erhielten eine Zeitlang Berufsverbot.

Musikstudent Jan Hamr wanderte in die USA aus

Wie der Regisseur Jiří Menzel (1938–2020), den der DDR-Filmemacher Rainer Simon (*1941) auch deshalb demonstrativ für die Titelrolle in seinem DEFA-Märchenfilm „Sechse kommen durch die Welt“ (DDR 1972) besetzte (vgl. Schenk 2003, S. 84).

Sechse kommen durch die Welt (DDR 1972): Jiří Menzel (3. v. r.) spielte eine Titelrolle / © MDR/DREFA Media Holding

Sechse kommen durch die Welt (DDR 1972): Jiří Menzel (3. v. r.) spielte eine Titelrolle / © MDR/DREFA Media Holding


Andere, wie Miloš Forman (1932–2018), der später für „Einer flog über das Kuckucksnest“ (USA 1975) und „Amadeus“ (USA 1984) einen Oscar gewann, emigrierten in die USA. Wie auch der damals erst 20-jährige Jan Hamr. Er beendete sein in Prag abgebrochenes Musikstudium dank eines einjährigen Stipendiums an der Berkeley School in Boston (USA) – und blieb.

Kurz vorher durfte er in seiner Heimat seinen ersten (und letzten) Soundtrack für einen tschechoslowakischen (Märchen-)Film schreiben, eben „Die wahnsinnig traurige Prinzessin“ („Šíleně smutná princezna“). Regie führte Altmeister Bořivoj Zeman (1912–1991), der zuvor mit „Die stolze Prinzessin“ (1952) und „Es war einmal ein König“ (1955) das Genre in seiner Heimat entscheidend mitgeprägt hatte.

Der Märchenfilm und die ‚tschechoslowakische neue Welle’

Im Unterschied zu diesen Produktionen entstand „Die wahnsinnig traurige Prinzessin“ allerdings in einem anderen kulturpolitischen Klima. Denn die ‚tschechoslowakische neue Welle’ – in Anlehnung an die französische Nouvelle Vague – hatte seit Anfang der 1960er-Jahre auch ein wenig das Märchenfilmgenre erfasst.

Die wahnsinnig traurige Prinzessin (ČSSR 1968): Die Sängerin Helena Vondráčková in der Titelrolle / © MDR/Drefa

Die wahnsinnig traurige Prinzessin (ČSSR 1968): Die Sängerin Helena Vondráčková in der Titelrolle / © MDR/Drefa


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TV-TIPP
Die wahnsinnig traurige Prinzessin (1968): Sonntag, 27. August um 14.45 Uhr im MDR.

Die klassische Geschichte um Prinz und Prinzessin, deren Väter die beiden verheiraten wollen, obwohl sich das Paar noch nie gesehen hat, aber am Ende doch zusammenkommt, wurde „über die Mittel der Parodie“ (Liptay 2004, S. 108) modernisiert und mit weniger subtilen, sondern offenkundigen Anspielungen auf die Gegenwart versehen.

Überholverbot, Nummernschild, Chaplin-Filme

Das betrifft zum einen die Mise-en-Scène, zum Beispiel die Requisiten. So steht im Märchenfilm plötzlich ein Verkehrsschild mit einem Überholverbot an der Landstraße und die königliche Kutsche besitzt neben einer Hupe auch ein gemaltes Nummernschild.

Im Schloss des Vaters der traurigen Prinzessin, des Königs Leberecht/Dobromysl (Bohuš Záhorský), auch der Fröhliche genannt, ist ein Fernsprech- und Rohrbriefsystem installiert, ein Grammophon spielt, eine Boxkamera macht statt Fotografien Scherenschnitte und ein kleines, im Schloss eingerichtetes Kino zeigt Chaplin-Filme für den Hofstaat.

Väter: König Heinrich/Jindřich (Jaroslav Marvan, l.), König Leberecht/Dobromysl (Bohuš Záhorský) / © MDR/Drefa

Väter: König Heinrich/Jindřich (Jaroslav Marvan, l.), König Leberecht/Dobromysl (Bohuš Záhorský) / © MDR/Drefa


Diese oft komischen Requisitverschiebungen können dabei durchaus im Umfeld der ‚tschechoslowakischen neuen Welle’ verortet werden, auch wenn es sich hier ‚nur’ um eine stilistische Risiko- und Experimentierfreude handelt und nicht um den „Versuch[,] thematisch ‚heiße Eisen’ anzufassen“ (Retzlaff 2018, S. 238, [H. i. O.]).

„Schlagerrevue mit zeitgenössischer Musik“

Dabei unterstützt die Filmmusik von Jan Hammer – 2013 vom renommierten tschechischen Schallplattenlabel Supraphon auf der CD „Šíleně smutná princezna“ veröffentlicht – diese ästhetische Neuerung im Märchenfilm.

Zum Beispiel, wenn die Chaplin-Slapstickszenen, zur Erheiterung der traurigen Prinzessin gezeigt, von typischer Stummfilmmusik des 20. Jahrhunderts begleitet werden – obwohl diese nicht in das historisch entrückte Märchen passen. Auf der CD eröffnen und beschließen sie den Soundtrack (vgl. CD-Track: 1 Předehra/Auftakt, CD-Track: 17 Dohra/Nachspiel).

Diese stilistische Neuausrichtung findet sich freilich schon in der Grundidee des Films, der zudem als „Schlagerrevue mit zeitgenössischer Musik“ (Liptay 2004, S. 108) angelegt ist. Populäre tschechische Gesangsstars wie der 25-jährige, jungenhafte Václav Neckář und die erst 21-jährige, bildschöne Helena Vondráčková in den Rollen von Prinz und Prinzessin singen, tanzen und schauspielern sich durch den Märchenfilm.

Hitverdächtige, eingängige Musikstücke

Dazu schrieb Hammer beiden Ikonen hitverdächtige, eingängige Musikstücke auf den Leib, die sein Talent schon früh erahnen lassen. Wie zum Beispiel „Znám jednu starou zahradu“ (dt. „Ich kenne einen alten Garten“, CD-Track: 4), das Neckář und Vondráčková auf einer Bootsfahrt auf dem Schlossteich gemeinsam intonieren.

Die Melodie findet sich als Leitmotiv an anderen Stellen des Films beziehungsweise Soundtracks wieder, beispielsweise im Vorspann und mit abgewandelten Text in der Schlusssequenz („Znám jednu krásnou princeznu“, dt. „Ich kenne eine wunderschöne Prinzessin“, CD-Track: 15).

Erotik: Der Prinz (Václav Neckář) hat schon einmal seine kaputte Hose zum Flicken ausgezogen / © MDR/Drefa

Erotik: Der Prinz (Václav Neckář) hat schon einmal seine kaputte Hose zum Flicken ausgezogen / © MDR/Drefa


Inkognito: Die Prinzessin (Helena Vondráčková) als einfaches Mädchen beim Hosenflicken / © MDR/Drefa

Inkognito: Die Prinzessin (Helena Vondráčková) als einfaches Mädchen beim Hosenflicken / © MDR/Drefa


Hörenswert ist auch das schmissige „Miluju a maluju“ (dt. „Ich liebe und male“, CD-Track: 8): Prinz Václav singt es, wenn er – unerkannt – als Diener des Prinzen eingesperrt, die Gefängnismauern mit Farbe verschönert, aber bereits in die Prinzessin verliebt ist.

Selbige revanchiert sich mit der Ballade „Slza z tváře padá“ (dt. „Eine Träne fällt aus seinem Gesicht“, CD-Track: 10). Obgleich die Titelfigur ihre Traurigkeit nur vorspielt, um nicht den ihr ‚unbekannten’ Prinzen heiraten zu müssen.

Wie systemkritisch ist „Die wahnsinnig traurige Prinzessin“?

Es ist viel darüber spekuliert worden, ob „Die wahnsinnig traurige Prinzessin“ vor dem Hintergrund der ‚tschechoslowakischen neuen Welle’ nicht doch – wie viele andere Filme dieser Kinobewegung – „eine subtile und ironische, vor allem aber hoch politische Systemkritik am tschechoslowakischen Alltag“ (Brunner 2022) in sich berge. Und sich der Märchenfilm nur vordergründig als harmlos-heitere Komödie gäbe.

Spione: Herr Iks (Josef Kemr, l.) und Herr Ypsilon (Darek Vostřel) sind aufmerksam / © MDR/Drefa

Spione: Herr Iks (Josef Kemr, l.) und Herr Ypsilon (Darek Vostřel) sind aufmerksam / © MDR/Drefa


Dafür sprechen vor allem zwei Figuren, die beiden Spione Herr Iks (Josef Kemr) und Herr Ypsilon (Darek Vostřel) mit ihren übergroßen Brillen, um alles sehen zu können – der eine im Dienst von König Jindřich/Heinrich (Jaroslav Marvan), Vater von Prinz Václav; der andere von König Dobromysl, Vater von Helena. Die Spione haben die Hochzeit der beiden Königskinder eingefädelt und enthüllen später die wahre Identität des eingesperrten Dieners, der eigentlich Prinz Václav ist.

DDR kürzte Märchenfilm – aber warum?

Das klingt alles eher harmlos, dennoch ist beispielsweise ihr gemeinsames Lied „Kujme pikle“ (CD-Track: 6) nicht in der Fassung des DEFA-Studios für Synchronisation enthalten. Diese lief am 5. Dezember 1969 in den DDR-Kinos an. Mehr noch: Die DEFA-Version wurde zudem auf etwa 69 Minuten gekürzt. Das tschechoslowakische Original wird dagegen mit einer Länge von 89 beziehungsweise 83 Minuten angegeben.

Im Liedtext, der sowohl im Booklet des Soundtracks steht als auch auf Videoportalen abrufbar ist, singen sie unter anderem davon, ein Chaos anzurichten, zu intrigieren und Streiche zu spielen. Die begleitende Musik tendiert am Ende z­u russischer Volksmusik, zu der beide Spione mit vor der Brust verschränkten Armen im Kreis tanzen – ähnlich wie bei einem sogenannten Kasatschok (dt. Kosakentanz).

Ob den DDR-Filmfunktionärinnen und -funktionären diese Anspielungen im Jahr 1969 – wenige Monate nach der auch sowjetischen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ in der ČSSR – zu frech erschienen und sie deshalb herausgeschnitten wurden, muss bisher eine These bleiben. Es spricht aber vieles dafür.

Ein Soundtrack der Freiheit

Zugleich zeigt dieses Musikstück, dass sich der junge Jan Hamr des Alltags in seiner Heimat – mit moskautreuer Staatssicherheit (tsch. Státní bezpečnost, kurz: StB) – durchaus bewusst war und offenbar mit genauem Blick diese musikalisch kommentierte.

Populäre Gesangsstars der 1960er-Jahre: Helena Vondráčková und Václav Neckář / © MDR/Drefa

Populäre Gesangsstars der 1960er-Jahre: Helena Vondráčková und Václav Neckář / © MDR/Drefa


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Deshalb sind seine Kompositionen für „Die wahnsinnig traurige Prinzessin“ mehr als ein Soundtrack für einen Märchenfilm: Sie sind auch ein Zeugnis, das die kurze Phase der Freiheit in der ČSSR widerspiegelt. Kurzum: ein Soundtrack der Freiheit.

© Supraphon

© Supraphon

Titel: „Šíleně smutná princezna“ (Texty písní: Ivo Fischer, Hudba: Jan Hammer ml.)
Format: CD
Tracks: 17 / Hörproben: Hier klicken
Länge: 39:02 Minuten
CD-Booklet: 12 Seiten mit 6 Original-Liedtexten, Abbildungen und Hintergrundtext von Pavel Víšek in tschechischer Sprache.
Label: Supraphon (VÖ: 2013)

Film: „Die wahnsinnig traurige Prinzessin“ (ČSSR, 1968, R: Bořivoj Zeman). Ist auf VHS/DVD erschienen. Hier den Film in der DEFA-Synchronfassung sehen.

Verwendete Quellen:

  • Benešová, Maria: Der Flug der Phantasie. In: Berger, Eberhard/Giera, Joachim (Hrsg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin, 1990, S. 267–275, hier: 269f.
  • Brunner, Philipp: Tschechoslowakische neue Welle. In: Lexikon der Filmbegriffe. (zuletzt geändert: 18.2.2022, abgerufen: 21.3.2023)
  • DEFA-Filmdatenbank: Die wahnsinnig traurige Prinzessin (ČSSR 1967). (abgerufen: 21.3.2023)
  • Liptay, Fabienne: WunderWelten. Märchen im Film. Remscheid, 2004, S. 108, 110.
  • Mládková, Jitka: Grande Dame des Jazz gestorben. In: Radio Prague International (vom: 22.6.2006, abgerufen: 20.3.2023)
  • Retzlaff, Steffen: Der tschechoslowakische Märchenspielfilm (1920–1989). In: Dettmar, Ute/Pecher, Claudia Maria/Schlesinger, Ron (Hrsg.): Märchen im Medienwechsel – Zur Geschichte und Gegenwart des Märchenfilms. Stuttgart, 2018, S. 229–249.
  • Schenk, Ralf: Sechse kommen durch die Welt (DDR 1972). In: Friedrich, Andreas (Hrsg.): Filmgenres. Fantasy- und Märchenfilm. Stuttgart, 2003, S. 84–88.
  • [o. A.]: Šíleně smutná princezna (1968). (abgerufen: 20.3.2023)


Headerfoto: Die wahnsinnig traurige Prinzessin (ČSSR 1968): Helena Vondráčková spielt die Hauptrolle / © MDR/DREFA Media Holding GmbH