Archiv für den Monat: Juli 2015

Michel (Tim Oliver Schultz) begegnet im Schloss zuallererst einem riesenhaften Monster / Foto: ARD

Horror im Märchenfilm: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen (D 2014)

Das Märchen über einen Kerl, der keine Angst kennt, ist in Deutschland bislang nur selten verfilmt. Kein Wunder, erlebt der Märchenheld doch den blanken Horror – bei dem sich die Kids schon mal unter der Bettdecke verkriechen. 2014 wagt sich die ARD an eine Neuverfilmung und will dabei den Spagat zwischen Gruselfilm und Kinderfilm schaffen.

Obwohl der Märchenfilm ein eigenständiges Genre ist, so streift er immer wieder auch andere: Ein Mal erinnert er an einen Abenteuerfilm und „zeigt mit seinem Protagonisten die Eroberung des Unbekannten als die Form, in der er sich bewährt, Proben besteht, Bedrohungen überlebt, […]“. Ein anderes Mal ist er Liebesfilm, Romanze, Melodram und dreht sich „um leidenschaftliche oder herzerweichende Gefühle, um Sinnstiftung im alltäglichen Unglück, um die Erfüllung im Privaten“ (Faulstich). So ähneln die beiden Genres erzählerisch auch dem literarischen Märchen, weil der Held viele Abenteuer besteht und nebenbei das private Liebesglück findet.

Dennoch gibt es Filmgenres, mit denen der Märchenfilm selten gemeinsame Sache macht. Dazu zählt der klassische Horrorfilm. Ein Grund: Das Genre visualisiert das Grauen. Schreckliche Gestalten, wie Monster, Vampire, Zombies geben sich die Klinke in die Hand – wenn sie denn noch eine Hand haben – und lehren uns das Fürchten. Da sich der deutsche Märchenfilm aber seit Ende der 1920er-Jahre bis heute vor allem an Kinder wendet, gibt es Vorbehalte, wenn Märchen und Horror eine filmische Allianz eingehen. Denn anders als Erwachsene würden Kinder verstört auf die mitunter drastische und blutige Ästhetik des Horrorfilms reagieren.

Puppentrickfilm von 1935 mit baumelnden Leichen und halbierten Menschen

Zwar gibt es immer wieder Einwände, dass die literarischen Märchen ja auch „Gruseln, Grauen, Grausamkeiten“ (Freund) enthalten, doch anders als bei den Grimms, Andersen oder Hauff visualisiert der Film im Gegensatz zum Buch das Grauen, werden die physischen und psychischen Folgen von Grausamkeit sichtbar. Als 1935 das erste Mal ein Gruselmärchen für ein deutsches Kinderpublikum verfilmt wird, sind es ähnliche Argumente, die das Für und Wider zeigen. Es ist der Puppentrickfilm „Von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen“, den die Gebrüder Diehl für die Schule produzieren und der im „Dritten Reich“ kontrovers diskutiert wird.

1935 wird das Märchen als Puppentrickfilm erstmals adaptiert / Quelle: mediawien-film.at

1935 wird das Märchen als Puppentrickfilm erstmals adaptiert / Quelle: mediawien-film.at


Die schaurige Geschichte über einen Helden, der auf schreckliche Gestalten trifft, haben 1818 erst die Brüder Grimm und 1853 Ludwig Bechstein („Das Gruseln“) veröffentlicht. Obwohl der stumme Puppentrickfilm aufgrund seiner exzellenten Trick- und Figurengestaltung auf der Weltausstellung in Paris 1937 mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wird, schütteln viele NS-Lehrer über das originell-grotesk inszenierte Schwankmärchen nur mit dem Kopf: „Szenen, wie am Galgen baumelnde Leichen, Kegel aus Gebeinen, Kugeln aus Totenköpfen, halbierte Menschen sowie Monster und Ungeheuer“ (Endler) halten sie für äußerst bedenklich.

2014 wird „Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ verfilmt

Andere meinen, dass der Film für Kinder vollkommen ungeeignet sei. Trotzdem erhält er die Zulassung, allerdings wird empfohlen, ihn erst ab dem dritten Volksschuljahr zu zeigen. Zudem „bedarf [der Film] sorgfältiger Vorbereitung, damit das volle Verständnis erreicht und kein seelischer Schaden durch die tolle Gespenstergeschichte angerichtet werden kann“ (Verzeichnis der Unterrichtsfilme). Doch, weshalb wird das Märchen damals überhaupt verfilmt? Die Antwort findet sich in der Vorlage: „Schwank, Slapstick-Komik spielen das Grauen herunter, verharmlosen es zu bloßer Burleske“ (Freund), und machen das Märchen so für Kinder adaptierbar.

Neustart: Die ARD schickt Michel (Tim Oliver Schultz, r.) als Furchtlosen ins Rennen / © Radio Bremen/Jo Molitoris

Neustart: Die ARD schickt Michel (Tim Oliver Schultz, r.) als Furchtlosen ins Rennen / © Radio Bremen/Jo Molitoris


Dennoch wird die Schauergeschichte erst 1999 ein zweites Mal in Deutschland verfilmt: in der Zeichentrickserie „SimsalaGrimm“ (Regie: Chris Doyle, Staffel 1, Folge 10). Und obwohl ARD und ZDF seit 2008 bzw. 2005 Märchenrealfilme wie am Fließband produzieren, haben sich beide öffentlich-rechtlichen Sender erst einmal nicht an das Grimmsche „Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ herangewagt. Bis 2014 ein mutiger Drehbuchautor (Mario Giordano) und ein tapferer Regisseur (Tobias Wiemann) ausziehen, das Gruselmärchen endlich als Schauspielerfilm zu adaptieren. Beide trauen sich, die Genres Horrorfilm und Komödie im ARD-Märchenfilm zu verknüpfen und eine kindgerechte Adaption zu zaubern.

Gruseliges Setting mit geschickter Kameraführung

Es sind die ersten Szenen in „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“, die Typisches des Horrorfilms zeigen: Eine dunkle Nacht in einem Moorwald. Nebelschwaden steigen auf. Ein Käuzchen schreit. Monsterähnliche Tiere kommen aus dem Verborgenen, schlängeln über den morastigen Boden, verkriechen sich wieder. Zieht Szenenbildner Florian Kaposi alle Register eines gruseligen Settings, so unterstützt Kameramann Jo Molitoris dieses filmästhetisch. Großaufnahmen eines Tausendfüßlers und Regenwurms verwandeln die real kleinen Tierchen mittels einer geschickten Kameraführung in schaurige Kreaturen. So einfach und wirksam geht Horror.

Typisches Setting: Michel (Tim Oliver Schultz) hat nachts im Moor keine Angst / © Radio Bremen/Jo Molitoris

Typisches Setting: Michel (Tim Oliver Schultz) hat nachts im Moor keine Angst / © Radio Bremen/Jo Molitoris


Wie im Grimmschen Märchen steht ein junger Mann im Mittelpunkt. Er heißt Michel (Tim Oliver Schultz), so wie der naiv-weltfremde „deutsche Michel“, und kennt keine Furcht. Sein Bruder Caspar (Roy Peter Link) und Vater (Jochen Nickel) sind deswegen ratlos, weil sie Angst für genauso wichtig halten wie Essen und Schlafen. Damit greift der Film existenzielle Fragen auf: Was ist Angst? Oder: Ist Angst lebenswichtig? Philosophie im Märchenfilm. Ganz im Sinne von Søren Kierkegaard („Der Mensch braucht Angst, sonst lernt er nichts.“), aber auch im Sinne des Genres Horrorfilm, das ebenso Ängste fokussiert, will Michel lernen, was es heißt, Angst zu haben.

Horrorfilm + Komödie + Liebesfilm = Märchenfilm

Er geht in die Welt hinaus, sucht schaurige Orte auf, gerät in beklemmende Situationen, lernt unheimliche Gestalten kennen – doch er fürchtet sich nicht. Auch nicht vor einem weiblichen Wesen namens Prinzessin Elisabeth (Isolda Dychauk). Anders als in der Brüder-Grimm-Vorlage, in der die Königstochter erst am Ende auftritt, lernen sich Michel und Elisabeth schon früher kennen. Zudem wird die Prinzessin als toughe, hosentragende Amazone inszeniert, die mit Waffen genauso gut umgeht wie ihre Geschlechtsgenossinnen mit Kämmen. Sie, ihr königlicher Vater (Heiner Lauterbach) und der Hofstaat müssen auf der Wiese in einer Zeltstadt kampieren.

Erst den Apfel, dann Michels Herz: Prinzessin Elisabeth (Isolda Dychauk) ist treffsicher / © Radio Bremen/Jo Molitoris

Erst den Apfel, dann Michels Herz: Prinzessin Elisabeth (Isolda Dychauk) ist treffsicher / © Radio Bremen/Jo Molitoris


Der Grund: Im heimatlichen Schloss spukt es gewaltig. Bis jetzt hat dort noch keiner die Geister und Dämonen vertreiben können. Hat sich der Märchenfilm „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ bisher zumeist am Horrorfilm orientiert, wissentlich in den Grenzen, die für ein Kinderpublikum gesetzt sind, so steht jetzt ein anderes Genre gleichberechtigt daneben: die Komödie. Einerseits liegt das eben an der Vorlage, die bereits eine „Kombination von Grusel und Schwank, Gewalt und Burleske“ (Sahr) ist, andererseits an der Zielgruppe: Um den Szenen das allzu Gruselige und Dramatische zu nehmen, werden diese oftmals komödiantisch flankiert.

Neue Ideen: Beatboxing, Dracula und Spiegelkabinett

Ein cooles Beispiel dafür ist der Leibwächter (Sebastian Fuchs), der mit sogenanntem Beatboxing – ein aus dem Hip Hop bekannter Gesang, bei dem Klänge oder Instrumente mit Mund, Nase und Rachen imitiert werden – die Befehle des Königs begleitet. Auch deswegen werfen Kritiker der Verfilmung vor, sie könne sich nicht entscheiden zwischen Horror, Grusel und Komödie. Die einfache Antwort: Ein Märchenfilm muss sich im Hinblick auf Genres nicht festlegen. Viel wichtiger ist es, dass er neue Akzente setzt und die oftmals allzu konventionell inszenierte ARD- und ZDF-Märchenfilmwelt aufmischt – wieso nicht auch mit Beatboxing.

Draculas Opfer: Tiamat (Anna Thalbach) gibt Michel ein schwieriges Rätsel auf / © Radio Bremen/Jo Molitoris

Draculas Opfer: Tiamat (Anna Thalbach) gibt Michel ein schwieriges Rätsel auf / © Radio Bremen/Jo Molitoris


Ohne Beatboxing wagt es der furchtlose Michel, das Schloss vom Spuk zu befreien, auch weil zum Lohn die Prinzessin und das halbe Königreich warten. Zum Showdown im Schloss lässt Regisseur Tobias Wiemann, im Gegensatz zum Anfang mit überdimensionalen Würmern, die Monster von Computerspezialisten programmieren. Aber nicht nur: Michel trifft auch auf die Untote Tiamat (Anna Thalbach), Herrscherin der Geister und Dämonen, die an Lucy Westenra – eine Vampir-Figur aus Bram Stokers „Dracula“ – erinnert und ihm ein Rätsel aufgibt. Obwohl er es errät, zaubert sie Michel dennoch zur Strafe in ein Spiegelkabinett, zugleich Symbol von Irrealität, Halluzination, Orientierungslosigkeit, dem er aber entkommt. Das Schloss ist befreit. Obwohl er immer noch nicht das Fürchten gelernt hat, findet er jetzt Elisabeth an seiner Seite, die genauso klug wie Michel furchtlos ist und ihm zeigt, was es heißt, sich zu gruseln.

Film: „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ (2014, R: Tobias Wiemann, BRD). Ist auf DVD erschienen.

Drehorte:

  • Fischerhude, 28870 Ottersberg
  • Knoops Park, OT St. Magnus, 28759 Bremen
  • Kulturland Teufelsmoor, bei 27726 Worpswede
  • Landesschule Pforta, Schulstraße 12, 06628 Naumburg
  • Schloss Neuenburg, Schloss 1, 06632 Freyburg (Unstrut)
  • Schnoor-Viertel, 28195 Bremen

Literatur:

  • Endler, Cornelia A.: Es war einmal … im Dritten Reich. Die Märchenfilmproduktion für den nationalsozialistischen Unterricht. Frankfurt a. M., 2006, S. 248.
  • Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München, 2002, S. 36, 40.
  • Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005, S. 142.
  • Möller, Christian: Der Mensch braucht Angst, sonst lernt er nichts, in: Die Welt, 03.05.2013
  • Sahr, Michael: Verfilmte Kinder- und Jugendliteratur. Der literarische Kinderfilm – ein vernachlässigtes Unterrichtsmedium. Baltmannsweiler, 2004, S. 80.
  • Verzeichnis der Unterrichtsfilme für Allgemeinbildende Schulen. Stuttgart/Berlin, o. J. (= Band 4 der Schriftenreihe der RfdU/RWU, Loseblattsammlung)


Headerfoto: Michel (Tim Oliver Schulz) in „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ (D 2014) / © Radio Bremen/Jo Molitoris