Irgendwo zwischen Utopie und Lügengeschichte liegt das obskure Schlaraffenland. Wie es dort wohl zugeht, zeigt jetzt ein durchaus gelungener Märchenfilm der ARD-Reihe „Auf einen Streich“. Dabei wird die grotesk-komische Vorlage klug adaptiert und erzählt so ganz nebenbei auch etwas über die jüngere deutsch-deutsche Geschichte.
Den Namen verdankt das Schlaraffenland seinen Bewohnern: den sogenannten Schla(u)raffen. Diese sind aber weniger schlau als träge, denn ihr Name geht einerseits auf das mittelhochdeutsche Wort slûr (dt.: Faulenzer) zurück, andererseits verweist er auf den Affen, das „Tier, das in der älteren Tradition Symbol des Dummdreisten und des Triebhaften ist“. Dennoch ist dieses Schlaraffenland ein paradiesischer Ort „des Wohllebens, in dem alle sinnlichen Genüsse überreichlich Erfüllung finden, ohne dass dafür menschliche Arbeit notwendig wäre“ (Richter).Im 19. Jahrhundert finden der Märchensammler Ludwig Bechstein und die Brüder Grimm Gefallen an diesem wundersamen Land und nehmen die Geschichte in ihre Märchenbücher auf: allerdings unter gänzlich verschiedenen Vorzeichen. Bechstein beschreibt vor allem die kulinarischen Vorzüge in seinem „Märchen vom Schlaraffenland“, sodass dem Leser das Wasser im Munde zusammenläuft. Zudem illustriert der populäre Ludwig Richter die Geschichte mit fünf Zeichnungen. Auch er kann sich dem Reiz dieses grotesk-komischen Märchens nicht entziehen.
Lügen und Kulinarik: Bechstein, Grimm, von Fallersleben
Die Grimms basteln dagegen eine Lügengeschichte. Ihr „Märchen vom Schlauraffenland“ enthält „neben anderen Bildern der Verkehrten Welt und der unmöglichen Dinge auch S[chlaraffen]motive […]“ (Richter). So fließt süßer Honig wie Wasser und heiße Fladen wachsen auf einer Linde. Dennoch fehlt in beiden Märchenvarianten eine durchgehende Handlung. Bechstein und die Grimms beschreiben allein dieses Wunderland. Auch der Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben zählt in seinem Kinderlied „Vom Schlaraffenlande“ nur die Vorzüge dieses Ortes auf. Das hindert Drehbuchautoren später aber nicht daran, diese Geschichte filmadäquat auszufabulieren. Sie erkennen schon früh das Potenzial und vor allem die versteckte Moralsatire: eine Warnung vor Luxus und Wohlleben, die Körper und Geist träge machen.
Als bekannteste deutsche Verfilmungen gelten „Hans Trutz im Schlaraffenland“ (1917, Regie: Paul Wegener, D) und „Aufruhr im Schlaraffenland“ (1957, Regie: Otto Meyer, BRD). Eine politisch-kritische Sicht wagt 1990 der westdeutsche Regisseur Michael Verhoeven in „Schlaraffenland“: Der TV-Film erzählt davon, dass viele DDR-Bürger 1989/90 in der BRD vor allem den „Goldenen Westen“ sehen und später darin kläglich mit ihren Träumen und Wünschen scheitern. Dieses letzte Filmbeispiel, das vor einem Vierteljahrhundert entsteht, findet sich im Übrigen nicht ganz zufällig in dieser Aufzählung.
Schlaraffenland-Märchenfilm spielt im frühen 19. Jahrhundert
Auch die Neuverfilmung „Das Märchen vom Schlaraffenland“, 2015/16 für die ARD-Reihe „Auf einen Streich“ produziert, zitiert leise und im märchenhaften Gewand ehemalige Ost-West-Befindlichkeiten, die dem einen oder anderen Zuschauer bekannt vorkommen sollten. Diese historischen Verweise gehören zu den vielen möglichen Lesarten dieses überraschend mehrdeutigen, und deshalb gelungenen, ARD-Märchenfilms. Dabei erzählen die beiden Drehbuchschreiber Anja Kömmerling und Thomas Brinx ihre Schlaraffenland-Geschichte im 19. Jahrhundert – die Zeit des frühen Biedermeier, aber auch der sozialen Verwerfungen.
Darin lebt Paul (Björn Ingmar Böske) in bitterer Armut mit Eltern und Schwester Magda (Maria Matschke), die krank ist und unbedingt Medizin braucht. Doch – woher nehmen, wenn das Geld hinten und vorne nicht reicht? Da berichtet der verlogene Gaukler Meister Feuerstein (Wolfgang Michael) vom Schlaraffenland, in dem Gold und Silber an Bäumen wächst, obwohl er insgeheim selbst nicht daran glaubt. Paul macht sich trotzdem auf den Weg zu diesem wundersamen Ort, um Magda mit dem Geld zu helfen … Das Autoren-Duo Kömmerling/Brinx setzt hierbei auf ein klassisches Märchenmotiv, das in den Vorlagen noch nicht vorkommt: die sogenannte Mangel-Erfahrung, die auf die typische soziale Problematik im Märchen hinweist.
Hauptfigur Paul muss sich bewähren, bevor er ans Ziel kommt
Gleichzeitig gelingt es, das Motiv des Überflusses und der Faulenzerei als Erzählmotor – vorerst – im Hintergrund zu belassen: Paul macht sich nur auf den Weg ins Schlaraffenland, um seiner Schwester helfen, aber nicht, um sich satt essen zu wollen. Dieses in erster Linie Helfen um des Helfens willen zeigt altruistische Wesenszüge in Pauls selbstlosem Charakter und macht ihn für den Zuschauer sympathisch. Dass er später dennoch dem dekadenten Leben im Schlaraffenland verfällt, liegt an der dramaturgischen Bearbeitung des Märchens, in dem nun Konflikte und Entwicklungen stattfinden.
Beate Hanspach, ehemalige Dramaturgin des DDR-Fernsehens, weist schon vor gut dreißig Jahren auf etwas hin, das auch heute noch für den Erfolg eines Märchenfilms wesentlich ist: „Die Figuren [im DDR-Märchenfilm] werden in zusätzliche Entscheidungs- und Bewährungssituationen gestellt, um sie stärker zu differenzieren und die Motivation ihres Handelns zu vertiefen.“ (Brandt/Ried) Ähnlich arbeitet jetzt das Autoren-Duo Kömmerling/Brinx im „Märchen vom Schlaraffenland“, wie sich an der Heldenfigur zeigt. Nicht von ungefähr muss Paul erst drei Fragen des „sehenden Blinden“ (Hans Diehl) beantworten, um ins Wunderland zu gelangen.
Farbdramaturgie und Montage/Schnitt zeigen Unterschiede auf
Die Idee findet sich schon bei Bechstein („Wer […] den Weg nicht weiß, der frage einen Blinden“), ist aber im Märchenfilm interessant weitererzählt. Dennoch verlässt sich die Adaption nicht nur auf Einfälle der Vorlage, wenn sich Paul zum Beispiel durch Grießbrei essen muss, um endlich ins Schlaraffenland zu kommen. Der Märchenfilm weist mit Hilfe filmischer Mittel, wie Farben und Montage, immer wieder auf die krassen Gegensätze von Wirklichkeit und Schlaraffenland hin. So folgt der Einstellung, in der sich Paul durch den Grießbrei-Berg isst, eine Szene, die seine Familie beim kargen Abendbrot zeigt (Schnitt: Carmen Vieten).
Zudem machen Farbkontraste die Unterschiede zwischen den zwei Welten deutlich: Herrschen in der Wirklichkeit graue Farbtöne vor, die glanzlos wirken, so ist das Schlaraffenland voller quietschbunter Bonbonfarben, die an „Alice in Wunderland“ erinnern. Paul ist überwältigt von diesem Ort des Überflusses und kann sein Glück gar nicht fassen. Er erzählt dem Mädchen Pralina (Klara Deutschmann), dass er „von drüben“, also von „hinter der Mauer“ kommt. Anders als Paul fehlt es der jungen Frau im Schlaraffenland zeitlebens an nichts. Obwohl sie beide so verschieden sind, freunden sie sich an und verlieben sich.
Ost-West-Satire als eine mögliche Lesart des Märchenfilms
Mit Pauls Beschreibungen, wie „von drüben“ oder „hinter der Mauer“, erinnert der Märchenfilm auf der sprachlichen Ebene an frühere Bezeichnungen von Ost- und Westdeutschen für den jeweiligen anderen Staat: DDR oder BRD. Gleichzeitig verweist die Adaption damit auf einen außerhalb der Märchenfilmwelt liegenden, historischen Kontext: die Wendezeit 1989/90, in denen die meisten Ostdeutschen den vierzig Jahre lang unerreichbar scheinenden Westen endlich betreten dürfen – und schier überwältigt sind. Man kann augenzwinkernd einige Szenen vom „Märchen im Schlaraffenland“ so deuten, man muss es aber nicht.
Unstrittig ist aber, dass die beiden Ebenen – Wirklichkeit und Wunderland – gegenübergestellt werden, sich gegenseitig kommentieren und bisweilen auch entlarven. Diese satirische Richtung zeigt sich auch in der „Übertreibung bestimmter Charakteristiken einer Figur oder Gesellschaftsschicht“ (Brunner/Meyer), zum Beispiel den Schlaraffenland-Bewohnern, wie Pralinas Vater (Uwe Ochsenknecht), der aufs „Törtchen essen“, demnach Konsumieren, reduziert wird. Aber auch an Paul, der sich von der schönen neuen Welt einlullen lässt und jetzt Marzipan heißt.
Erotische Freizügigkeiten: Ménage à quatre im Pool
Gewiss, dieses Schlaraffenland ist auch zu verführerisch mit seinen Annehmlichkeiten, die filmisch fabelhaft inszeniert werden (Kamera: Dominik Schunk). Auch wenn sich das Szenenbild die eine oder andere Idee von US-amerikanischen Fantasyfilmen zum Vorbild nimmt, so hebt sich das „Märchen vom Schlaraffenland“ deutlich von anderen ARD-Märchenfilmen ab. Die Möglichkeiten der Computeranimation werden sinnvoll genutzt: Ein Gebäude in Form eines überdimensionalen Zylinders beherbergt zum Beispiel einen Spiegel, der genau die Kleidung zaubert, die man sich wünscht.
Gleichzeitig sucht der Märchenfilm immer wieder auch eine erzählerische Rückkopplung zu den Vorlagen vom „Schlaraffenland“. Das schließt richtigerweise auch „[s]exuelle Freizügigkeiten“ (Richter) ein, wobei diese behutsam für ein Kinderpublikum eingebunden werden. So lässt es sich Paul mit Camembert (Florian Wünsche) und Nougatine (Jennifer T. Lotsi) sowie Äpfelchen (Paula Grasshoff) im Pool gut gehen. Dabei wird Camembert – nach den Archetypen des US-amerikanischen Drehbuchschreibers Christopher Vogler – als „Schatten“ aufgebaut, der die „Helden“ Paul und Pralina als Gegner herausfordert und somit die Handlung vorantreibt.
Happy End mit Überraschung und gerechtem Urteil
Das Ende des Märchenfilms wartet mit einer Überraschung auf, denn Paul darf aus dem Schlaraffenland weder Gold noch Silber mitnehmen, um Medizin für seine Schwester zu kaufen. In der Wirklichkeit schaffen er und Pralina es dennoch, den verlogenen Meister Feuerstein zu überlisten. Denn: Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein! Danach wirkt die Welt weniger grau als vorher und die Sonne scheint. Das mag kitschig klingen, aber das Märchen bleibt sich damit treu, als „eine Welt der am Ende siegreichen poetischen Gerechtigkeit.“ (Freund)
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Das singende, klingende Bäumchen (D 2016): Chancen und Risiken
Hans im Glück (D 2016): Aus dem Leben (k)eines Taugenichts
Prinz Himmelblau und Fee Lupine (D 2016): Date mit Erdbeermarmelade
Film: „Das Märchen vom Schlaraffenland“ (2016, R: Carsten Fiebeler, BRD). Auf DVD erschienen.
Drehorte:
- Alte Brauerei, Ehemaliges Brauereigelände, 36110 Schlitz
- Funkhaus Frankfurt, Bertramstraße 8, 60320 Frankfurt
- Grüner See, 63165 Mühlheim am Main
- Kirchplatz, 36110 Schlitz
- Naturschutzgebiet Dietesheimer Steinbrüche, 63165 Mühlheim am Main
- Schanze Eschbacher Klippen, 61250 Usingen
Primärliteratur:
- Bechstein, Ludwig: Das Märchen vom Schlaraffenland, in: Sämtliche Märchen. Vollständige Ausgabe der Märchen Bechsteins nach der Ausgabe letzter Hand unter Berücksichtigung der Erstdrucke. Mit 187 Illustrationen von Ludwig Richter. Mannheim, 2011, S. 226-230.
- Brüder Grimm: Das Märchen vom Schlauraffenland, in: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 2007, Bd. 2, S. 275f.
Sekundärliteratur:
- Brunner, Philipp/Meyer, Heinz-Hermann: Satire, in: Lexikon der Filmbegriffe, zuletzt geändert: 12.10.2012, abgerufen: 29.12.2016
- Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005, S. 158.
- Hanspach, Beate: Märchen – man weiß und liebt sie. Zur Entwicklung des Märchenfilms in der DDR, in: Brandt, Gabi/Ried, Elke: Vom Zauberwald zur Traumfabrik. Dokumentation der Fachtagung des „Kinder- und Jugendfilmzentrums in der Bundesrepublik Deutschland“ zum Thema „Märchen und Film“ vom 1.-5.12.1986 (= Sonderdruck der KJK), S. 44-52.
- Richter, Dieter: Schlaraffenland, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 12, Berlin/New York, 2007, Sp. 65-73.
Weiterführende Literatur:
Richter, Dieter: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Utopie. Frankfurt am Main, 2015
Headerfoto: (v.l.n.r.) Herr Debreziner (Friedrich Liechtenstein) , Paul (Björn Ingmar Böske) und Pralina (Klara Deutschmann) im Schlaraffenland / © HR