Archiv für den Monat: Februar 2017

Szenenfotos aus „Der Froschkönig“ (2008, v. l. n. r.), „Die Gänsemagd“ (2009) und „König Drosselbart“ (2008)

Wie die Filmmusik im ARD-Märchen Geschichten miterzählt

Nicht nur Kamera, Ausstattung oder Farbe prägen das Märchenfilm-Erlebnis des Zuschauers, sondern auch die Musik. Enjott Schneider komponiert für vier ARD-Märchen die Filmmusik, drei der Soundtracks veröffentlicht er auf CD. Grund genug einmal hineinzuhören, um zu erfahren, wie der Komponist mit der Musik die Geschichten miterzählt.

„Wer über Filmmusik schreibt, muss […] vorweg klar machen, dass, was er treibt, mit Wissenschaft nicht viel zu tun hat“, meint der Schweizer Musikwissenschaftler Hansjörg Pauli (1931–2007) Anfang der 1980er-Jahre – und hat damals nicht ganz unrecht. Dass sich das mittlerweile geändert hat, zeigt ein Blick in die wissenschaftliche, gut aufgestellte Filmmusikforschung. Hier rückt vor allem die Wirkung von Filmmusik in den Mittelpunkt. Dabei möchten Theorien beantworten, welche Funktionen der Soundtrack in der Filmhandlung übernehmen kann oder inwiefern Filmmusik die Wahrnehmung des Zuschauers beeinflusst.

Für das Genre Märchenfilm finden diese Fragen bisher nur am Rande Beachtung, wissentlich, dass auch in diesem Filmgenre die Musik eine nicht unwichtige Rolle spielt. Dennoch gilt die Märchen-Filmmusik als stereotyp, d. h. es ist meist ein ähnlicher, oftmals historischer Musikstil zu hören, der den Zuschauer bereits einstimmt und bestimmte Erwartungen weckt. Dass es neben dieser Annahme durchaus Möglichkeiten gibt, filmmusikalisch zu experimentieren und neue Akzente zu setzen, zeigt mitunter auch die Musik zu den bislang über 40 ARD-Märchenfilmen, die seit 2008 für die Reihe „Auf einen Streich“ entstehen.

Vier Filmmusik-Komponisten teilen sich die Hälfte der ARD-Märchen

Für jeweils sechs Verfilmungen komponieren Peter W. Schmitt (u. a. „Hans im Glück“, „Vom Fischer und seiner Frau“) und das Gespann Michael Klaukien/Andreas Lonardoni (u. a. „Die Salzprinzessin“, „Sechse kommen durch die ganze Welt“) den Soundtrack. Der Musiker, Komponist und Produzent Rainer Oleak schreibt für fünf ARD-Märchen die Filmmusik (u. a. „Der Prinz im Bärenfell“). Allen vier ist gemeinsam, dass sie vorwiegend in anderen Filmgenres zu Hause sind: Hat sich Schmitt auf Musik für Dokus spezialisiert, so sind Klaukien/Lonardoni hauptsächlich im Krimi-Fach zuhause. Oleak produziert größtenteils Künstler aus Rock und Pop.

Doku, Krimi, Rock und Pop? Was so gar nicht ins stereotype Märchenbild passen will, ist meist die Regel. Einerseits haben Filmkomponisten zwar ihre Lieblingsgenres, sind andererseits aber auch ziemlich flexibel, oder besser gesagt: sollten breit aufgestellt sein, um auf dem Markt bestehen zu können. Dass sich die Bandbreite der Komponisten mitunter positiv auf die Märchen-Filmmusik auswirkt, beweisen einige der Soundtracks von Schmitt, Klaukien/Lonardoni, Oleak – und Enjott Schneider (u. a. „Schlafes Bruder“, „23 – Nichts ist so wie es scheint“), der von 2008 bis 2010 für vier ARD-Märchen die Filmmusik schreibt.

Welche Beziehung besteht zwischen Filmmusik und Bildinhalt?

Der Filmkomponist und Musikwissenschaftler, der als Norbert Jürgen Schneider (die Aussprache der Anfangsbuchstaben seiner Vornamen ergeben „Enjott“) geboren wird, beschäftigt sich schon Ende der 1980er-Jahre mit möglichen Beziehungen zwischen Filmmusik und Bildinhalten. Eine seiner ersten Theorien geht davon aus, dass – vereinfacht formuliert – Filmmusik und Bild entweder völlig abhängig oder völlig unabhängig voneinander sind. Das heißt einerseits, wenn eine Königstochter vor Kummer weint und diese Einstellung von trauriger Musik begleitet wird, stimmen Filmmusik und Handlung völlig überein.

Das blaue Licht (2010): Der letzte ARD-Märchenfilm, für den Enjott Schneider die Musik schreibt / © HR/Felix Holland

Das blaue Licht (2010): Der letzte ARD-Märchenfilm, für den Enjott Schneider die Musik schreibt / © HR/Felix Holland


Das bedeutet andererseits, wenn eine Königstochter vor Kummer weint und diese Einstellung aber von lustiger Musik begleitet wird, dass Filmmusik und Handlung nicht übereinstimmen bzw. die Filmmusik hier klar der Handlung widerspricht. Ein Grund kann sein, dass die Musik den Charakter oder das Verhalten der Königstochter kommentiert, die vielleicht zuvor hochmütig einem guten Prinzen den Laufpass gegeben hat und nun den bösen Prinzen heiraten muss, den sie wiederum nicht leiden kann. Die Filmmusik kommentiert die Handlung bzw. macht sich über das selbstverschuldete Schicksal der Königstochter lustig.

Das Beispiel zeigt, dass Musik im Märchenfilm ganz unterschiedlich eingesetzt werden kann, z. B. um Stimmungen von Figuren widerzuspiegeln. Grund genug in drei Märchenfilm-Soundtracks, für die Enjott Schneider die Musik geschrieben hat, einmal genauer hineinzuhören – ganz nach seinem eigenem Motto: „Filmmusik war seit jeher Sache der Praxis“ (Schneider).

König Drosselbart (2008): Renaissance-Flöte mit Kinderchor

Nicht nur Ausstattung, Kostüm und Maske auch die Filmmusik gibt manchmal einen Hinweis über Zeit und Ort, in denen der Märchenfilm spielt. Historische Zupfinstrumente, wie Laute, und Blasinstrumente, wie Schalmei, Flöte oder Krummhorn, sind in „König Drosselbart“ zu hören. Sie zeigen damit musikalisch die Geschehenszeit an: das 15. und 16. Jahrhundert, die Renaissance. Das Märchen erzählt von der hochmütigen Prinzessin Isabella von Geranien (Jasmin Schwiers), die sich über einen ihrer Heiratskandidaten, Prinz Richard von Begonien (Ken Duken), lustig macht: „ei […], der hat ein Kinn wie die Drossel einen Schnabel“ (Grimm).

König Drosselbart (2008): Der Bettler (Ken Duken) und die Prinzessin (Jasmin Schwiers) / © HR/J. Krause-Burberg

König Drosselbart (2008): Der Bettler (Ken Duken) und die Prinzessin (Jasmin Schwiers) / © HR/J. Krause-Burberg


Zur Strafe muss sie einen Bettler heiraten, der kein anderer als der abgewiesene Freier ist, und in dessen Haus arbeiten. Darüber ist die Prinzessin unglücklich. Als sie einmal weint, wird ihre Stimmung von traurigen Violinen mit tiefem Klangcharakter begleitet. Die Musik macht damit einerseits Isabellas Gefühle deutlich, andererseits bringt sie den Zuschauer dazu, Mitgefühl zu zeigen. Hier übernimmt die Filmmusik eine „persuasive Funktion“ (Bullerjahn) und will bestimmte Sympathien wecken (engl. persuade = überzeugen). Der Kinderchor der Münchner Dommusik schafft das am Ende ganz ohne Überredungskunst mit seinem „König-Drosselbart-Lied“.

Film: „König Drosselbart“ (2008, Regie: Sybille Tafel, BRD). Ist auf DVD erschienen.
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Der Froschkönig (2008): Instrumentenklischee vs. Opern-Arie

Leichte Klaviermusik durchzieht den „Froschkönig“. Auch hier zeigt die Filmmusik die Geschehenszeit an: Es ist das ausgehende 18. und das beginnende 19. Jahrhundert, die Epoche der Romantik. Dennoch nutzt der Soundtrack auch Instrumentenklischees, die mit bestimmten Figuren verbunden werden: Im Märchen soll Prinzessin Sophie (Sidonie von Krosigk) einen reichen Prinzen heiraten, weil das Land ihres Vaters vor dem Bankrott steht. Die Ankunft der königlichen Heiratskandidaten in ihren Kutschen wird mit Trompeten in hohen Registern flankiert – ein Instrument, das in der Geschichte immer die Spitze der Standeshierarchie ankündigte.

Der Froschkönig (2008): Prinzessin Sophie (Sidonie von Krosigk) bittet den Frosch um Hilfe / © SWR/Daniel Flaschar

Der Froschkönig (2008): Prinzessin Sophie (Sidonie von Krosigk) bittet den Frosch um Hilfe / © SWR/Daniel Flaschar


Sophie erhält als Geburtstagsgeschenk eine goldene Kugel, die ihr jedoch in den Schlossteich fällt. Ein Frosch verspricht, die Kugel wieder heraufzuholen, wenn er Sophies Freund sein darf. Am Ende verwandelt sich der Frosch in einen Prinzen (Alexander Merbeth) und beide heiraten. Anders als die Hörbeispiele auf Schneiders Homepage vermuten lassen, setzt der Filmkomponist auch auf ungewöhnliche Gesangsstücke. So singt der britische Countertenor Christopher Robson zwei Arien, darunter „Ombra mai fù“. Das Trauerlied stammt aus der Oper „Xerxes“ von Georg Friedrich Händel. Seine Verwendung im „Froschkönig“ erschließt sich erst über Text und Bedeutung dieses populären Liedes. Interessant und mutig für einen ARD-Märchenfilm.

Film: „Der Froschkönig“ (2008, Regie: Franziska Buch, BRD). Ist auf DVD erschienen.
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Die Gänsemagd (2009): Ethnoflöte trifft Chormusik

Das zentrale Element in „Die Gänsemagd“ ist eine mehrstimmige Chormusik. Die hellen Stimmen der Mädchenkantorei am Münchner Dom werden dabei instrumental begleitet. Sie verleihen dem Märchenfilm gleichzeitig etwas Sphärisch-Geheimnisvolles und passen sich in das mittelalterliche Setting des 14. und 15. Jahrhunderts ein. Hier reist Prinzessin Elisabeth (Karoline Herfurth) mit ihrer Zofe Magdalena (Susanne Bormann) zu ihrer Hochzeit mit Prinz Leopold (Florian Lukas). Auf der Reise zwingt die Zofe die Prinzessin, die Rollen zu tauschen: Die Magd wird zur Prinzessin. Die Prinzessin wird zur Magd – und muss schwören, nichts zu verraten.

Die Gänsemagd (2009): Prinzessin Elisabeth (Karoline Herfurth) muss das liebe Federvieh hüten / © HR/Felix Holland

Die Gänsemagd (2009): Prinzessin Elisabeth (Karoline Herfurth) muss das liebe Federvieh hüten / © HR/Felix Holland


Das funktioniert anfangs, weil sich die beiden Königskinder Elisabeth und Leopold noch nie gesehen haben. Die Prinzessin hütet nun als Gänsemagd das Federvieh. Dabei begleitet sie ein „Gänselied“, das aber nicht das Schnattern der Tiere imitiert, sondern die Klänge einer Ethnoflöte in den Vordergrund rückt – gespielt von Sandro Friedrich. Der Solist hat mit Orchester bereits mehrere Filmmusiken live aufgeführt, wie die internationale Premiere von Howard Shores „Lord of the Rings Symphony“, oder ist auf dem Soundtrack von „Krabat“ (2008) zu hören. Das mittlere bis hohe Register der Flöte spiegelt dabei auch den guten Charakter von Elisabeth wider, die am Ende selbstverständlich Leopold heiratet.

Film: „Die Gänsemagd“ (2009, Regie: Sibylle Tafel, BRD). Ist auf DVD erschienen.
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© Alhambra Records

© Alhambra Records


Titel: „Enjott Schneider – Werke für Film und Fernsehen“ (6 CDs)
Box-Set: CD Nr. 6 mit „König Drosselbart“: 13:50 Min., „Der Froschkönig“: 13:00 Min., „Die Gänsemagd“: 13:00 Min.
Länge: 474 Minuten
Tracks: 246
Booklet: 40 Seiten mit Beschreibungen und Abbildungen
Label: Alhambra Records (VÖ: 2013)
Bestell-Nr.: A 9011

    Literatur:

    • Brüder Grimm: König Drosselbart, in: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 2007, Bd. 1, S. 264.
    • Bullerjahn, Claudia: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. Augsburg, 2001, S. 72f.
    • Pauli, Hansjörg: Filmmusik. Stummfilm. Stuttgart, 1981, S. 13.
    • Schneider, Norbert Jürgen: Handbuch Filmmusik I. Musikdramaturgie im Neuen Deutschen Film. München, 1990, S. 17.

      • Header: Szenenfotos aus „Der Froschkönig“ (2008, © SWR/Daniel Flaschar), „Die Gänsemagd“ (2009, © HR/Felix Holland) und „König Drosselbart“ (2008, © HR/J. Krause-Burberg)