In das Grimm’sche Märchen von der Gänsemagd und ihrem sprechenden Pferd Falada hat sich nicht nur Heinrich Heine verliebt, sondern auch ein paar Regisseure von Märchenfilmen.
Sogar Heinrich Heine hat der Grimm’schen „Gänsemagd“ – in Wahrheit eine Königstochter, die von ihrer Kammerjungfer zur Magd degradiert wird – ein kleines lyrisches Denkmal gesetzt: In seinem „Deutschland. Ein Wintermärchen“ finden sich im Kaput XIV fünf Verse, in denen er „Von der Königstochter erzählte, / Die einsam auf der Heide saß / Und die goldenen Haare strählte“ (Heine 1964, S. 216). Ihr Schicksal erzählen die Brüder Grimm märchenhaft-poetisch im zweiten Band ihrer „Kinder- und Hausmärchen“, der 1815 erscheint.Poetisch auch deshalb, weil darin gereimte Sprüche dem Happyend auf die Sprünge helfen: Eine Königstochter reist zu einem fremden Königssohn, mit dem sie verheiratet werden soll. Ein sprechendes Pferd, das auf den Namen Falada (aus dem Arabischen = Omen, Prophezeiung) hört, und eine Kammerjungfer begleiten die Prinzessin. Auf der Reise zwingt die Magd die Königstochter, die Rollen zu tauschen: Die Magd wird zur Prinzessin. Die Prinzessin wird zur Magd – und muss schwören, nichts zu verraten.
Szenen für Märchenfilme an Außenschauplätzen gedreht
Der Königssohn heiratet nichtsahnend die falsche Braut. Die wahre hütet fortan als Magd Gänse. Ihrem Pferd Falada wird der Kopf abgeschlagen und übers Stadttor genagelt. Wenn morgens die Gänse unterm Tor hinausgetrieben werden, ruft die Gänsemagd: „O du Falada, da du hangest.“ Und der Kopf antwortet: „O du Jungfer Königin, da du gangest, / wenn das deine Mutter wüßte, / ihr Herz tät ihr zerspringen“ (Grimm 2001, S. 27). Eines Tages belauscht der alte König ihr Gespräch und kommt dem Geheimnis auf die Spur …Das Märchen über eine „der poetischsten Heldinnen der Grimms“ (Diederichs 1995, S. 122), deren Haare zudem aus Gold sind und Zauberkräfte besitzen, wird bisher viermal in Deutschland mit Schauspielerinnen und Schauspielern verfilmt. Die abenteuerliche Reise der beiden Mädchen ins andere Königreich oder die Szenen, in denen die Gänsemagd zusammen mit Gänsejunge Kürdchen auf der Wiese die Herde hütet, sind wohl zwei Gründe, dass das Märchen vor allem an Außenschauplätzen fürs Kino adaptiert wird und nicht nur in Studiokulissen.
Schlosspark Charlottenburg und Glienicke: Sightseeing in Agfacolor
Das findet auch Fritz Genschow. Der Berliner Regisseur dreht Szenen für seine Verfilmung von „Der Gänsemagd“ im Spätsommer 1957 in West-Berlin. Das Drehbuch hält sich an die Vorlage der Brüder Grimm, nur ein paar zusätzliche Figuren werden neu aufgenommen, um das kurze Märchen filmisch zu verlängern. Cineastischen Charme versprüht „Die Gänsemagd“ immer dann, wenn Genschow Schlösser und Parks für den Dreh nutzt, obwohl er oftmals nur die Kamera aufstellt und alles ein wenig abfotografiert wirkt. Zum Beispiel die Abreise der Prinzessin Rose Magret (Rita-Maria Nowotny) und ihrer Kammerzofe Malice (Renate Fischer-Fuller) durch das Johannitertor am Haupteingang zum Schlosspark Glienicke. Oder die Ankunft der jungen Frauen im Schlosspark Charlottenburg, in dem beide über eine Stahlbrücke, die sogenannte Hohe Brücke, reiten. Das Schloss selbst ist im Film das Zuhause des Prinzen Friedbert (Günther Hertel). Das Happyend wird im Schlosspark gefeiert. Danach geht es zur Agfacolor-Trauung vor die Dorfkirche Marienfelde.Film: „Die Gänsemagd“ (1957, R: Fritz Genschow, BRD). Ist auf VHS/DVD erschienen.
Drehort: Berlin, u. a.
- Schlosspark Glienicke, Königstraße 36, 14109 Berlin: Johannitertor, auch Greifentor
- Schlosspark Charlottenburg, Spandauer Damm 20–24, 14059 Berlin: Hohe Brücke, auch: Schlossbrücke; vorderer Teil des Barockgartens
- Schloss Charlottenburg (Rückseite zum Park)
- Villa Monheim, Inselstraße 5, 14129 Berlin: Szenen aus „Dornröschen“ (1955, R: Fritz Genschow) werden auch für die Hochzeit in „Die Gänsemagd“ verwendet
- Dorfkirche Marienfelde, Alt-Marienfelde, 12277 Berlin: Westturm, Eingangsportal
Hamburg-Wandsbek/Studio Hamburg: Märchenwelt entsteht im Atelier
In den 1970er-Jahren entsteht im Auftrag des Schweizer Fernsehens für die deutsche und rätoromanische Schweiz (SF DRS) eine Reihe von TV-Märchenfilmen. Daran ist auch die deutsche Ullstein AV Produktions- und Vertriebs GmbH mit Sitz in Berlin beteiligt. Gedreht wird in den Ateliers von Studio Hamburg, das zum Norddeutschen Rundfunk (NDR) gehört. Die Koproduktionen werden von Rudolf Jugert in Szene setzt. Der Regisseur beginnt bereits in den 1940er-Jahren an der Seite von Helmut Käutner als Assistent und steigt später zu einem der produktivsten westdeutschen Spielleiter auf.
Ab 1971 verfilmt er sieben Grimm’sche Märchen. Die Qualität einiger dieser Filme erinnert heute ein wenig an B-Movies, d. h. zweitklassigen Filmen, die mit wenig Geld gedreht sind. In „Die Gänsemagd“ fällt zudem auf, dass der Film zwischen Märchen- und Erotik-Genre pendelt, wenn die Prinzessin (Alena Penz) in einer Nacktszene zu sehen ist. Die Schauspielerin startet später folgerichtig eine Karriere als Erotik-Filmstar. Es scheint, dass Jugert neue Möglichkeiten des Märchenfilms ausloten möchte, die sich jenseits von kindertümlichen Verfilmungen der 1950er- und 1960er-Jahre bewegen. Gerade das macht seine Märchenproduktionen ungewöhnlich anders.
Film: „Die Gänsemagd“ (1971, R: Rudolf Jugert, BRD/CH). Ist auf VHS erschienen.
Drehort: Studio Hamburg GmbH, Jenfelder Allee 80, 22039 Hamburg
Burg Falkenstein/Harz und Burg Schönfels: Zurück ins Mittelalter (Teil 1)
Anders als in der 1971er-Verfilmung, die mit ihren Rokoko-Kostümen ans 18. Jahrhundert erinnert, setzt die DEFA in ihrer Adaption „Die Geschichte von der Gänseprinzessin und ihrem treuen Pferd Falada“ von 1988 aufs Spätmittelalter: Gleich am Beginn des Märchenfilms erzählt eine weibliche Off-Stimme von einer „Burg über dem Tal“ in der ein König und eine Königin lebten … Zu sehen ist die imposante Burg Falkenstein im Harz. Dort residiert Prinzessin Aurinia (Dana Morávková) mit ihrer Mutter (Regina Beyer) und Liesa (Michaela Kuklová) – Aurinias beste Freundin und spätere Gegenspielerin. Liesa ist hier keine Kammerjungfer, sondern die Tochter eines im Krieg getöteten feindlichen Fürsten, der einst grundlos das Land von Aurinias Vater angriff. Obwohl sie wohlbehütet mit der Prinzessin aufwächst, fühlt sich Liesa im Vergleich zu Aurinia zurückgesetzt … Drehbuchautorin Angelika Mihan versucht mit der Vorgeschichte, die Gründe für Liesas miesen Charakter zu liefern. Was nur bedingt funktioniert, denn das heißt im Umkehrschluss: Böse Menschen (Liesas Vater) setzen auch böse Kinder (Liesa) in die Welt. Schade, denn abgesehen davon steckt der Film voller guter Ideen und liefert märchenhafte Bilder – auch von der sächsischen Burg Schönfels.Im Frühjahr/Sommer 1988 berichtet die Presse von den Dreharbeiten auf Schönfels, „die unter zehn Burgen in der DDR den Vorzug erhielt“. Ein Grund: „‚Da war auch viel Sympathie im Spiel für die Schönfelser Bürger, die ihre Burg so gut erhalten haben’, kommentierte der Regisseur [Konrad Petzold]“ (Frohmader 1988, S. 4). Laut der Zeitungsmeldung sollen 200 Kameraeinstellungen, demnach ein Drittel des Märchenfilms, auf der im 13. Jahrhundert entstandenen Anlage gedreht worden sein. Dabei spielten ebenso die gut 50 Gänse „ihren Part mit Bravour“. Insgesamt waren „120 Komparsen aus den Dörfern und Städten ringsum“ (ebd.) an den Dreharbeiten beteiligt.
Film: „Die Geschichte von der Gänseprinzessin und ihrem treuen Pferd Falada“ (1988, R: Konrad Petzold, DDR). Ist auf VHS/DVD erschienen.
Drehorte:
- Burg Falkenstein, 06543 Falkenstein/ Harz OT Pansfelde
- Burg Schönfels, Burgstraße 34, 08115 Lichtentanne
Burg Kronberg/Taunus und Burg Ronneburg: Zurück ins Mittelalter (Teil 2)
Offenbar hat Regisseurin Sibylle Tafel die DDR-Verfilmung von „Die Gänsemagd“ so gut gefallen, dass auch sie das Setting ins Spätmittelalter verlegt. Gedreht wird dieses Mal aber auf der Burg Kronberg im Taunus und der Ronneburg bei Hanau. Das Drehbuch für den ARD-Märchenfilm schreiben Anja Kömmerling und Thomas Brinx. Beide haben sich auch überlegt, dass Prinzessin Elisabeth (Karoline Herfurth) nicht zufällig an irgendeinen fremden Prinzen versprochen wird – wie es noch bei den Grimms im Märchenbuch steht. Nein, die Heirat der beiden Königskinder wird schon von den beiden Vätern arrangiert. Und die Motive der bösen Zofe Magdalena (Susanne Bormann)? Die liegen in einem traumatischen Kindheitserlebnis, das sie Jahre zuvor als kleines armes Mädchen erfährt. Später rächt sich Magdalena, mittlerweile zur Zofe aufgestiegen, als sie mit Prinzessin Elisabeth zu Prinz Leopold (Florian Lukas) reitet. Der Weg führt beide auch durch den Büdinger Forst: eine romantische Wald-Landschaft im Südosten Hessens. Der Psycho-Trip kann beginnen …Film: „Die Gänsemagd“ (2009, R: Sibylle Tafel, BRD). Ist auf DVD erschienen.
Drehorte:
- Burg Kronberg, Schlossstraße 10/12, 61476 Kronberg
- Burg Ronneburg, 63549 Ronneburg
- Büdinger Wald, Wetterau- und Main-Kinzig-Kreis, Hessen
DEFA-Studio für Trickfilme: Figurensilhouetten im Scherenschnitt
Neben dem Realfilm mit Schauspielerinnen und Schauspielern wird „Die Gänsemagd“ in Deutschland auch vom Animationsfach adaptiert. Zwar sind die ‚Drehorte’ nur die Studios der einzelnen Filmproduktionsgesellschaften, dennoch sollen sie hier kurz erwähnt werden – auch weil sich populäre Trickfilmer der Geschichte annehmen, zum Beispiel: Horst J. Tappert. Der 2006 verstorbene Regisseur und Szenograph setzt das Märchen im Jahr 1986 in den Räumen des VEB DEFA-Studio für Trickfilme in Dresden um.
Er animiert „Die Gänsemagd“ als elfminütigen Silhouettenfilm. Nach „Aschenputtel“ (1983, UA: 09.03.1984) und „Hans mein Igel“ (1985, UA: 29.08.1986) ist es das dritte Märchen, das er mit dieser Trickart gestaltet. Wie zuvor fertigt wieder seine Mitarbeiterin Rosi Bundesmann die flachen Figurensilhouetten im Scherenschnitt (Psaligraphie) an. Tappert, der lieber plastische Puppen bastelt, gibt offenbar aber wieder „mittels Zeichnungen haargenau vor, wie die Figuren auszusehen hatten und wo sich die Gelenke befinden sollten“ (Tews 2006, S. 40).Tappert, der auch das Drehbuch verfasst, erzählt den Beginn des Märchens ein wenig anders: Hier schickt ein König sein Pferd Fallada mit einer Krone zu seiner Braut – es ist also nicht das Pferd der Brautmutter. Unterwegs stiehlt die Begleiterin die Krone. Danach fabuliert er allerdings weiter wie bei den Grimms: Die falsche Prinzessin tötet das Pferd und gibt sich als Verlobte aus (vgl. Schenk/Herrmann 2003). Erst ein Junge, mit dem die Braut die Gänse hütet, gibt dem König einen Tipp. Am 21. August 1987 läuft „Die Gänsemagd“ in den DDR-Kinos an.
Film: „Die Gänsemagd“ (1987, R: Horst J. Tappert, DDR). Ist nicht auf DVD erschienen.
Drehort: VEB DEFA-Studio für Trickfilme, Kesselsdorfer Straße 208, 01169 Dresden
Trickompany Filmproduktion: Zurück ins Mittelalter (Teil 3)
Auch die zweite animierte „Gänsemagd“-Verfilmung ist – wie die Realfilme von 1988 und 2009 – wieder im Mittelalter angesiedelt. Dabei meint der Begriff hier wie dort weniger die Epoche zwischen dem 6. und 15. Jahrhundert, sondern vielmehr „archetypische Bilder“ mit charakteristischen Architekturelementen: Im westdeutschen Zeichentrickfilm von 1989 ist das zum Beispiel der „Anger vor dem mittelalterlichen Stadttor, wo die Gänsemagd ihr goldenes Haar flicht […]“ (FWU 1996, S. 4).
Produziert ist der elfminütige Animationsfilm vom Münchner Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU), das bis heute audiovisuelle Medien für den Schulunterricht herstellen lässt. Ende der 1980er-Jahre beauftragt das FWU die Hamburger Firma Trickcompany Michael Schaack (auch: Trickompany), „Die Gänsemagd“ zu animieren. Inhaber Schaack hatte sich bereits einen Namen gemacht, als er für die Kindersendungen „Löwenzahn“ (ZDF), „Sesamstraße“ (ARD) und „Die Sendung mit der Maus“ (ARD) Kurzfilme herstellte.
_____________________
MEHR ZUM THEMA
Märchenhafte Drehorte: Wo Aschenputtel den Schuh verliert
Märchenhafte Drehorte: Wo König Drosselbart der Prinzessin eine Lektion erteilt
Märchenhafte Drehorte: Wo die goldene Gans die Prinzessin zum Lachen bringt
Das Drehbuch für „Die Gänsemagd“ schreibt Angelika Schaack. Laut einem vierseitigen Arbeitsblatt, das die FWU für den Film herausgibt, hält sie sich dabei eng an die Vorlage. Das Institut scheint mit dem Resultat zufrieden, wenn es über die Gestaltung schreibt: „Der Zeichentrickfilm ist ruhig und stimmungsvoll gehalten. Der ruhige Rhythmus der Bildfolge läßt Gelegenheit, die detailreichen Bilder zu entschlüsseln […]“ (ebd. S. 3). In den 1990ern verlegt sich Schaack allerdings auf das Genre der Comicverfilmung und ist als Mit-Regisseur (Animation) u. a. an den „Werner“-Filmen (1990–2011) beteiligt.
Film: „Die Gänsemagd“ (1989, R: Michael Schaack, BRD). Ist nicht auf DVD erschienen.
Drehort: Trickompany Filmproduktion GmbH, Bernstorffstraße 71, 22767 Hamburg-Altona
Literatur:
- Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Bd. 2. Stuttgart, 2001, S. 24–30.
- Diederichs, Ulf: Who’s who im Märchen. Düsseldorf, 2006
- Die Gänsemagd. Ein Zeichentrickfilm nach dem Märchen der Brüder Grimm (1989, R: Michael Schaack, BRD). 16-mm-Film. Hrsg. vom Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU). Beiblatt. Grünwald/München, 1996
- Die Gänsemagd (1986, R: Horst J. Tappert, DDR). In: Filmdatenbank DEFA-Stiftung (abgerufen: 31.7.2017)
- Frohmader, Stefan: Die Gänse auf Burg Schönfels. In: Neue Zeit (44) 1988, Nr. 165, 14.7.1988, S. 4.
- Heine, Heinrich: Im Anfang war die Nachtigall. Aus Lyrik und Prosa. Berlin, 1964, S. 175–264.
- [o. A.]: Gänseprinzessin auf Schönfels. Dreharbeit zu einem DEFA-Film von Konrad Petzold. In: Neues Deutschland (43) 1988, Nr. 100, 28.4.1988, S. 6.
- Schenk, Ralf/Hermann, Jörg: Die Trick-Fabrik. DEFA-Animationsfilme 1955–1990. Hrsg. vom Deutschen Institut für Animationsfilm Dresden. Berlin, 2003
- Tews, Julia: Darstellung von Märchen im Animationsfilm (Diplomarbeit: Studiengang Animation, Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf“, Herstellungsjahr: 2006, Veröffentlichungsjahr: 2007)
Headerfoto: Karoline Herfurth als Prinzessin Elisabeth in „Die Gänsemagd“ (2009), Foto: HR/Felix Holland
Die Ehe der beiden wurde bereits auch schon in der DDR-Verfilmung von den jeweiligen Vätern arrangiert. Es ist also keine neue Idee der ARD-Drehbuchautoren. Schauen Sie sich die Filme eigentlich an, bevor sie drüber schreiben? Wohl eher nicht …