Als Regisseur Alexander Rou „Die schöne Wassilissa“ (1939) dreht, ist er noch ein Neuling – und setzt doch schon Maßstäbe für den sowjetischen Märchenfilm. Darin schlüpft der Schauspieler Georgi Milljar erstmals in die Rolle der bösen Hexe Baba-Jaga. Am 29. September 2017 erscheint der Klassiker in deutscher Sprache auf DVD in HD-Neuabtastung.
Sonnendurchflutete Birkenwälder, farbenfrohe russische Folklore oder die Hexe Baba-Jaga in ihrer auf Hühnerbeinen stehenden Hütte: Sowjetische Märchenfilme prägen ihren ganz eigenen unverwechselbaren Stil – und das macht sie so besonders. Der Zuschauer taucht in eine Welt ein, die sich von deutschen oder tschechoslowakischen Märchenadaptionen nicht nur in den Figuren, sondern eben auch in der „Eigenart des Kostüms, der Alltagsdetails, der heimatlichen Landschaft“ (Paramonowa) unterscheidet.Einer der frühesten und zugleich bezauberndsten ist der sowjetische Märchenfilm „Die schöne Wassilissa“ (Wassilissa Prekrasnaja) von 1939: Der damals 33-jährige und noch unbekannte Alexander A. Rou darf Regie führen. Ein Jahr zuvor hat der Film-Neuling erstmals ein Märchen für die Kinoleinwand adaptiert: „Der Zauberfisch“ (Po schtschutschemu weleniu) muss sich im Vorfeld aber viel Kritik anhören. Rous Idee, reale Tiere im Film mit menschlicher Stimme sprechen zu lassen, erntet nur Kopfschütteln.
Drehbuch geht auf russische Volksmärchen und Heldensagen zurück
Der Vorwurf: Das Geheimnisvolle im Märchen würde in einer allzu realistischen Inszenierung verloren gehen. Rou setzt sich durch. „Der Zauberfisch“ wird ein Erfolg. Für „Die schöne Wassilissa“ greift der Regisseur nicht auf das gleichnamige russische Volksmärchen zurück – was der Titel vorzugeben scheint: Erzählt wird hier die Geschichte einer Kaufmannstochter, die von ihrer Stiefmutter drangsaliert wird, aber mit Hilfe einer kleinen Puppe schier unlösbare Aufgaben meistert und am Ende den Zaren heiratet.
Nein, Rou schöpft vielmehr aus dem Fundus der russischen Volksmärchen, die im 19. Jahrhundert von Alexander N. Afanasjew, dem „russischen Grimm“ (Čistov), gesammelt werden. Oder er flechtet Motive aus russischen Heldenepen ein, wie „Ilja Muromez“, dem sagenhaften tapferen Nationalhelden. Auffällig ist, dass Rou keinen absoluten Herrscher, weder einen Zaren noch einen Fürsten, in die Filmhandlung integriert, obwohl dieser einen Stammplatz in russischen Sagen und Märchen einnimmt. Absicht oder Zufall?
Bauernhof statt Zarenhof in „Die schöne Wassilissa“
Vielleicht scheuen die Autoren damals die Darstellung eines Herrschers und eine mögliche Konfrontation mit Sowjet-Funktionären. Die könnten in der Figur abstruse Parallelen zu Stalin ziehen, dem gefürchteten Allein-Herrscher in der Sowjetunion. Anstelle des Zarenhofs als Handlungsort entscheiden sich die Filmemacher deshalb für den neutralen Bauernhof. Doch ehe das eigentliche Märchen auf der Leinwand beginnt, versucht Rou auch die eigentümliche Erzählstruktur dieses Genres filmisch umzusetzen:
So wie die Eingangs- und Schlussformeln des russischen Märchens „In einem gewissen Zarentume, in einem gewissen Reiche lebte einmal …“ oder „Seitdem lebten sie gemeinsam glücklich und zufrieden.“ Rou lässt das Märchen von drei steinalten weißbärtigen Männern anmoderieren, die Gusli – ein altrussisches Saiteninstrument – spielen und dazu im Chor singen. Damit bedient der Regisseur nicht nur traditionelles Kulturgut, er adaptiert mit der Idee auch noch einmal bildlich den „klassischen Märchenerzähler“.
Drei-Brüder-Märchen mit Komik in der Figurenzeichnung
Rou wird ähnliche Filmeröffnungen später in anderen Märchenadaptionen nutzen, auch wenn anstelle der alten Männer eine Großmutter bunt bemalte Fensterladen öffnet und ihre Geschichte beginnt. Und diese ist auch im Märchenfilm „Die schöne Wassilissa“ schnell erzählt: Ein greiser Bauer will seine zwei ältesten Söhne verheiraten und lässt beide ihre Bogen spannen. Dort wo die Pfeile niederfallen, sollen sie ihre Bräute finden. Doch auch der Jüngste, Iwanuschka, den seine Brüder nur den Dummen nennen, schießt einen Pfeil ab.
Was hier wie die russische Variante eines schlichten Drei-Brüder-Märchens klingt und in seinem Beginn auf „Die Froschprinzessin“ (Zarewna Ljaguschka) zurückgeht, setzt Rou filmsprachlich gekonnt mit Komik in der äußeren Erscheinung um – eines seiner Markenzeichen. Sind die beiden älteren, faulen Brüder groß und dürr (Agafon: Lew Potjomkin) sowie klein und dick (Anton: Nikita Kondratjew), so vereint der Jüngste, Iwan (Sergej Stoljarow), bereits alle äußeren Klischees eines russischen Märchenhelden: groß, blond, stark und fleißig.
Adel und Bürgertum werden satirisch zugespitzt dargestellt
Obwohl Schlichtheit in Sprache und Spiel den Märchenfilm prägen, so gewinnt er doch immer wieder an überzeichneten komischen Figuren und Situationen. Zum Beispiel als die Pfeile der älteren Bauernsöhne in den Häusern einer Adels- bzw. einer Kaufmannstochter landen – auch wenn die (ideologischen) Pfeile hier übers Ziel hinausschießen. Adel und Bürgertum wirken 1939 in einem Arbeiter- und Bauernstaat wie der UdSSR „überholt“, auch deshalb werden deren Vertreter im Märchenfilm satirisch zugespitzt dargestellt:
Die spindeldürre Adelstochter Beljandrjasa Petrowna (Lidia Sukharevskaja) mit langer spitzer Nase, Gesichtswarze und spitzkantiger Kopfhaube ist hochmütig und selbstverliebt. Die dicke Kaufmannstochter Malanja Sawwischna (Irina Sarubina) denkt dagegen nur ans Essen. Das Wort Arbeit kennen beide nicht. Als sich die Frauen mit Pfeil und Mitgift auf den Weg zu ihren Freiern machen, geraten beide zudem aneinander und beschimpfen sich, weil keine den Weg für die andere freimachen will. Adel und Bürgertum im Zickenkrieg.
Wassilissa muss drei Jahre lang als Kröte im Sumpf leben
Abseits dieser ideologischen Verbesserungen setzt der Film auf Drehorte, die nicht nur Staffage sind. Mithilfe der realen Natur – Birkenwälder mit Seen, Bauerndörfer mit ärmlichen Hütten, Felder mit goldgelbem Getreide – werden die einzelnen Figuren im Märchenfilm subtil bildlich charakterisiert und voneinander unterschieden. So auch als Naturbursche Iwanuschka seinen Pfeil mitten im Wald in einem märchenhaften Sumpfteich entdeckt – im Maul einer Kröte, die mittels Trick in einer überdimensionalen Seerose lebt.
Gewiss, sie ist die schöne Wassilissa (Walentina Sorogoschskaja), verhext von einem Drachen, weil sie nicht seine Frau werden wollte. Ihr Schicksal: Sie muss drei Jahre als Kröte in einem Sumpf leben. Als Iwanuschka die Kröte mit nach Hause nimmt, wirft sie ihre Froschhaut ab und verwandelt sich in ihre menschliche Gestalt. Beide verlieben sich. Doch das gemeinsame Glück währt nur kurz: Weil die Froschhaut aus Eifersucht von der Adels- und Kaufmannstochter verbrannt wird, kann sich Wassilissa nicht mehr zurückverwandeln.
Echte Bären helfen Iwanuschka vorm Ertrinken
Der Drache holt sie in sein Reich zurück. Iwanuschka macht sich auf eine Suchwanderung, um sie zu finden. Das Drehbuch stellt ihm hier nicht nur menschliche Helfer, zum Beispiel einen Schmied, sondern auch hilfreiche Tiere zur Seite. Sie greifen unmittelbar in die Handlung ein und geben „ihr im Sinne des Helden eine glückliche Wendung“ (Freund). So auch als Iwanuschka in einen reißenden Strom stürzt und eine Bärenmutter mir ihren zwei Jungen sein Leben rettet. Zuvor hatte er das Leben dieser Bärenmutter im Kampf verschont.
Obwohl diese Tierhelfer oft im russischen Märchen vorkommen, schafft es der sowjetische Märchenfilm, dass das Zusammenspiel mit den menschlichen Figuren ästhetisch funktioniert, auch wenn Iwanuschka in einer Szene mit einem Schauspieler im Bärenkostüm kämpft. Eine von mehreren Prüfungen, die die Baba-Jaga dem tapferen Helden auferlegt: Die Baba-Jaga als Pendant zur deutschen Hexe spielt eben auch im russischen Märchen meist „die Rolle der gefährlichen Gegenspielerin“ (Schneider).
Baba-Jagas Gesicht mit Wasserstoffperoxid verbrannt
Hier ist sie die rechte Hand des Drachenkönigs und wird erstmalig von Georgi Milljar gespielt, der auch in späteren Rou-Verfilmungen die Rolle der Baba-Jaga übernimmt. Es heißt, dass sich Milljar für „Die schöne Wassilissa“ extra „seine Haare und Augenbrauen abrasieren [musste], mehrfach wurde ihm unabsichtlich das Gesicht mit Wasserstoffperoxid verbrannt“ (Handel/Krouk). Im Film brilliert er dafür mit teuflisch gutem Schauspiel und hält Wassilissa im Reich des Drachen gefangen, damit sie ihn heiratet.
Das entsteht ausschließlich im Moskauer Sojusdetfilm-Studio, „das 1936 speziell für Kinderfilme aus der Taufe gehoben worden war“ (Schenk). Wird der erste Teil des Films vorwiegend in der schlichten Schönheit der realen Natur gedreht, so werden im zweiten Teil der furchteinflößende Zauberwald der Hexe Baba-Jaga und der monumentale Palast des Drachenkönigs im Atelier nachgebaut. Hier wird mit beeindruckenden dekorativen Filmbauten überzeugt, in denen Märchenwunder mittels einfacher Tricks umgesetzt werden.
Iwanuschka wird zur russischen Heldengestalt stilisiert
Auch wenn die Kamera (Iwan Gortschilin) in „Die schöne Wassilissa“ noch recht unbeholfen agiert – wenig geschwenkt wird, sondern Schauspieler und Handlung eher fotografiert bzw. fokussiert –, lässt sie trotzdem im Zusammenspiel mit Ausstattung und Trickaufnahmen eine echte Märchen-Atmosphäre aufkommen. Diese kippt allerdings am Ende ins Heroisch-Patriotische, als Iwanuschka das Reich des Drachenkönigs erreicht und er den Kampf mit dem dreiköpfigen fliegenden Ungetüm aufnimmt, das auch noch sprechen kann.
Zuvor hat er – wieder mit Hilfe der Tiere – einen Schlüssel erlangt, der in ein Schloss passt und ihn zu einem Schwert führt, mit dem er den Drachen besiegen kann. Aus dem Bauernsohn wird äußerlich mit Rüstung, Helm, Schild und Schwert ein Ilja Muromez, eine russische Heldengestalt – vergleichbar mit dem deutschen Siegfried der Nibelungen-Sage. Während Iwanuschka dem Feuer, Wasser und Wind speienden Drachen die Köpfe abschlägt, hat sich Wassilissa aus den Fängen der Baba-Jaga befreit und steckt sie in den Kochtopf.
„Die schöne Wassilissa“ konkurriert mit „Die steinerne Blume“
Auch wenn der dreiköpfige Drache noch plump und unbeweglich wirkt, auch wenn dieser allzu pathetisch durch Iwanuschka mit dem Schwert im Kampf besiegt wird, und auch wenn am Ende dadurch das Märchen dem Heldenepos den Vortritt lässt, so besticht „Die schöne Wassilissa“ nicht zuletzt mit poetischen Bildern, originellen Trickaufnahmen, einprägsamer Filmmusik (Leonid Polovinkin) oder faszinierenden Tierszenen. Regisseur Alexander Rou setzt damit bereits in der Frühphase des sowjetischen Märchenfilms beachtliche Maßstäbe.
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MEHR ZUM THEMA
Das Märchen vom sowjetischen Aschenbrödel: Soluschka (UdSSR 1947)
Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit
Menschen, Puppen, Irritationen: Das goldene Schlüsselchen (UdSSR 1939)
In Deutschland wird „Die schöne Wassilissa“ kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, 1946, von der Berliner Tobis-Filmkunst in der Regie von Volker J. Becker synchronisiert. Obwohl der Märchenfilm in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR in den Kinos gezeigt wird, verbinden wir heute nicht „Die schöne Wassilissa“, sondern eine andere Adaption als den sowjetischen Klassiker des Genres: „Die steinerne Blume“ von Alexander Ptuschko (1946), „der erste sowjetische Farbfilm im Dreischichtenverfahren“ (Simons).
Film: „Die schöne Wassilissa“ (1939, R: Alexander A. Rou). Ist 2008 auf DVD (Restaurierte digital überarbeitete Originalfassung mit deutschen Untertiteln) erschienen. Erscheint am 29.9.2017 auf DVD (Restaurierte digital überarbeitete Originalfassung in deutscher Sprache, HD-Neuabtastung).
Literatur:
- Cistov, Kirill V.: Rußland, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 11. New York/Berlin, 2004
- Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005
- Handel, Christian/Olga Krouk: Es war einmal. Märchen-Filme im Kino und im Fernsehen, in: Abenteuer & Phantastik, Nr. 09/2009
- Paromonowa, Kira K.: Wie schön sind diese Märchen!, in: Berger, Eberhard/Joachim Giera (Hrsg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin, 1990
- Schenk, Ralf: Der Hirsch mit dem Goldenen Geweih, in: SUPERillu, Nr. 41/2008
- Schneider, Martin (Hrsg.): Russische Zaubermärchen. Aus der Sammlung Alexander Afanasjews. Russisch/Deutsch. Stuttgart, 2003
- Simons, Rotraudt: Die steinerne Blume, in: Berger, Eberhard/Joachim Giera (Hrsg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin, 1990
Headerfoto: Die böse Hexe Baba-Jaga (Georgi Milljar) hält die schöne Wassilissa (Walentina Sorogoschskaja) gefangen / Quelle: Diamant