Archiv für den Monat: August 2017

Rotkäppchen (Eva-Marianne Müller) wundert sich über die Großmutter / Quelle: Deutsches Filminstitut, Frankfurt/Main

Farbdramaturgie im Filmmärchen: Rotkäppchen und der Wolf (D 1937)

Als „Rotkäppchen und der Wolf“ am 4. Dezember 1937 im Berliner Ufa-Pavillon am Nollendorfplatz uraufgeführt wird, ist die Überraschung perfekt: ein modernes Filmmärchen in Schwarzweiß und Farbe, das auch in der Gegenwart spielt. Der NS-Märchenfilm nimmt damit die Farbdramaturgie des Klassikers „Der Zauberer von Oz“ (USA 1939) vorweg.

Kinoplakat „Rotkäppchen und der Wolf“ (1937)

Kinoplakat „Rotkäppchen und der Wolf“ (1937)

Mitte der 1930er-Jahre tippt der Berliner Märchenfilm-Regisseur Fritz Genschow einen „Wunschzettel“ auf seiner Schreibmaschine. Darauf bringt er vor allem grundlegende Ideen für einen Neustart des modernen Märchenfilms zu Papier. Kurz zuvor erhält er die Zusage, für eine Adaption des Märchens „Rotkäppchen“ das Drehbuch zu schreiben und Regie zu führen. Doch dieses Mal in keinem der 8-Millimeter-Schmalfilme für das Heimkino, die er noch zwei Jahre zuvor produziert, sondern in einem 35-Millimeter-Film für die große Kinoleinwand.

Groß sind die Ideen, die auf seinem Regisseurs-„Wunschzettel“ stehen. Ganz oben ist zu lesen: „Der Märchenfilm muss farbig sein. Gebt mir einen Operateur, der die Farbtechnik und die Landschaftsfotografie beherrscht.“ Doch: Mitte der 1930er-Jahre werden deutsche Filme fast ausnahmslos in Schwarz-Weiß produziert. Zwar testen Filmkonzerne, wie Ufa und Tobis, bereits neue Farbfilmverfahren, doch die Ergebnisse auf der Kinoleinwand sind bislang alles andere als erfolgversprechend.

Rotkäppchen wird vom Auto überfahren

Dennoch hält Genschow an seiner Farbidee fest – und hat Glück: Einem Tochterunternehmen der Tobis, das seinen Film produzieren wird, gefallen seine Pläne. Dass er gerade das Märchen vom „Rotkäppchen“ adaptieren will, überrascht nicht: Bereits 1932/33 bringt er es mit seiner späteren Frau Renée Stobrawa für ein Kinderpublikum auf Berliner Theaterbühnen. Die Geschichte vom Mädchen mit einem „Käppchen von rotem Sammet“ (Grimm), das vom Wolf gefressen, aber doch noch gerettet wird, inszenieren beide in einer modernen Fassung.


Zwar wird das Märchen in einem ersten Teil wie in der Grimmschen Vorlage aufgeführt, doch danach wird die Geschichte in die Gegenwart verlegt – und zur Verkehrserziehung: Auf Rotkäppchen lauern nun die Gefahren im Straßenverkehr. Als es trotz aller Warnungen eine viel befahrene Straße überqueren will, wird es vom Auto überfahren – dem Wolf in der Großstadt. Letztlich sorgt ein Schutzpolizist (Jäger) doch noch für ein glückliches Ende. Im Drehbuch zum Film wollen Genschow/Stobrawa an dieser Zweiteilung festhalten.

Märchenwelt wird Jetztzeit gegenübergestellt

Märchen und Gegenwart sollen zu einer Symbiose verschmelzen – zu einem „Filmmärchen“ (Genschow). Das klassische, aber angestaubte Genre Märchenfilm wird damit neu definiert und erweitert. Der hermetischen, in sich geschlossenen Märchenwelt der Brüder Grimm – ohne Raum- und Zeitkoordinaten – wird die Jetztzeit gegenübergestellt. Das Übernatürliche und Wunderbare bricht in den Alltag der Märchenhelden ein. Doch Genschow will nicht „revolutionieren, sondern [nur] evolutionieren“, wie er auf seinem „Wunschzettel“ schreibt.


Deshalb geht er im Drehbuch für „Rotkäppchen und der Wolf“ wesentlich behutsamer mit dem Nebeneinander von Märchen und Gegenwart um, als noch in seiner Adaption fürs Theater. Die imaginäre und die realistische Welt stehen sich im Film nicht nur als Äquivalent gegenüber, sondern werden erzählerisch miteinander verbunden. Eine Rahmenhandlung, die in der Gegenwart spielt, bindet das Märchen vom „Rotkäppchen“ ein. Der Übergang von der Jetztzeit in die Welt des Märchens ist ein nächtlicher Traum, den ein Mädchen erlebt.

Rahmenhandlung in Schwarz-Weiß – Märchen im Zweifarbensystem

An dieser Stelle setzt Genschow den „Buntfilm“ ein: Der Traum der kleinen Liesel (Eva-Marianne Müller) in der Nacht vor ihrem sechsten Geburtstag wird in Farbe gedreht. Das Mädchen verwandelt sich im Traum selbst zum Rotkäppchen und erlebt all das, was der Märchenfigur auch widerfährt. Zuvor liest ihm die Mutter (Renée Stobrawa) als Gute-Nacht-Geschichte das Märchen vom „Rotkäppchen“ vor, um nochmals einen erzählerischen Bezug zum Traum zu spannen. Dieser Teil, der zur Rahmenhandlung gehört, ist in Schwarz-Weiß produziert.


Genschow profitiert davon, dass sein Märchenfilm bei einer Tochterfirma der Tobis produziert wird. Diese testet gerade das Agfa-Biback-Verfahren, ein Zweifarbensystem, welches nicht „zu grelle Farbenharmonien“ auf die Leinwand wirft, wie er der Tageszeitung „Film-Kurier“ erzählt. Denn: Genschow möchte zwar das Märchen mit Hilfe des Buntfilms als „Unwirklichkeit“ betonen, doch sollen sich die Farben nicht verselbstständigen und „grell durcheinander flimmern“. Alles soll vielmehr harmonisch aufeinander abgestimmt sein.

Farbdramaturgie lässt mehrere Lesarten zu

Mit seiner Farbdramaturgie will Genschow bestimmte Assoziationen wecken: einerseits die „unwirkliche bunte Märchenwelt“, andererseits die „’raue‘ [H. i. O.] farblose Wirklichkeit“. Doch sind auch andere Lesarten denkbar: So ist die Märchenwelt zwar bunt, aber auch gefährlich, wenn der Wolf (ein dressierter Polizeihund) erst die Großmutter (Elisabeth Botz) und später Rotkäppchen frisst. Die Schwarz-Weiß-Gegenwart präsentiert sich zwar in hartem Kontrast, doch Harmonie, Geborgenheit und Landschaftsidylle, die sie ausstrahlt, kompensieren die Farblosigkeit.


Sicher haben die Außenaufnahmen in der Nähe von Braunlage/Harz, die eine märchenhaft-romantische Bergwelt im Sonnenlicht zeigen, noch eine propagandistische Funktion: Sie bilden eine nationalsozialistische Jetztzeit ab, die friedlich scheint. Darin trägt der Jäger, den Genschow selbst spielt, vorschriftsmäßig an seinem Hut das Hoheitsabzeichen mit Hakenkreuz und Reichsadler, aber eben nicht nur in der Rahmenhandlung (Gegenwart), in der er als Onkel Jäger in die Geschichte eingeführt wird, sondern auch im farbigen Mittelteil (Märchen) des Films.

Wenngleich beide Nazisymbole das Märchenland eher beiläufig erobern und im Hintergrund bleiben, charakterisieren sie Handlung und Figuren. Hakenkreuz und Reichsadler werden positiv besetzt, weil ihr Träger (Jäger) Rotkäppchen und Großmutter aus dem Wolfsbauch rettet.

„Der Zauberer von Oz“ (USA 1939) mit ähnlicher Farbdramaturgie

Als die Adaption am 4. Dezember 1937 im Ufa-Pavillon am Berliner Nollendorfplatz uraufgeführt wird, rückt freilich ein anderer Aspekt in den Vordergrund: Nur zwei Jahre nach der Premiere des ersten deutschen Märchentonfilms („Der gestiefelte Kater“, R: Alf Zengerling) folgt der erste deutsche farbige Märchenfilm – und wird von der NS-Film-Prüfstelle mit dem Prädikat „volksbildend“ belohnt. Kein Prädikat, aber einen „Oscar“ für die beste Filmmusik, erhält 1939 in Los Angeles ein US-amerikanisches Fantasy-Musical, das auf dieselbe Farbdramaturgie setzt.


Denn auch in „Der Zauberer von Oz“ (1939, R: Victor Fleming) wird der farbige Traum des Mädchens Dorothy (Judy Garland) von einer in schwarz-weiß gedrehten Handlung umrahmt, die in der US-amerikanischen Gegenwart der 1930er-Jahre spielt. Das „erste Farbmusical“ und „umwerfende visuelle Kinowunder“ (Marschall) wird in Deutschland allerdings erst am 19. April 1951 unter dem Titel „Das zauberhafte Land“ in den westdeutschen Kinos gezeigt. Zu diesem Zeitpunkt ist „Rotkäppchen und der Wolf“ längst von der alliierten Militärzensur ins Archiv verbannt.

Film: „Rotkäppchen und der Wolf“ (1937, R: Fritz Genschow, Renée Stobrawa, D).

Drehort: u. a. 38700 Braunlage/Harz

Der 40-minütige Film kann im Bundesarchiv-Filmarchiv (Berlin) zu Forschungszwecken gesichtet werden. Die Rechte für Kino- und TV-Aufführungen hält Medienproduktion und Vertrieb Genschow (Berlin).

Literatur:

  • Brüder Grimm: Rotkäppchen, in: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 1, S. 156–160.
  • Genschow, Fritz: Wunschzettel des Regisseurs, in: Nachlass Fritz Genschow, 1.2.4 Diverse Unterlagen mit Filmbezug. Deutsches Filminstitut, Frankfurt/Main.
  • Marschall, Susanne: Farbe im Kino. Marburg, 2005

    • Headerfoto: Rotkäppchen (Eva-Marianne Müller) wundert sich über die Großmutter / Quelle: Deutsches Filminstitut, Frankfurt/Main

      Dieser Beitrag wurde am 31. Oktober 2022 aktualisiert.