Werbeanzeige „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (D 1939) / © Jugendfilm-Verleih

Das Imperium schießt zurück: Schneewittchen und die sieben Zwerge (D 1939)

Walt Disneys „Snow White“ wurde im „Dritten Reich“ nicht gezeigt. Deshalb setzte das Propagandaministerium große Hoffnungen in einen deutschen „Schneewittchen“-Film – mit mäßigem Erfolg.

Als am 21. Dezember 1937 der erste abendfüllende Zeichentrick-Farbenfilm „Snow White and the Seven Dwarfs“ in Hollywood seine Kinopremiere feierte, war das Publikum hin und weg. Und auch die Filmkritiker applaudierten.

Bis zu 750 Künstler waren drei Jahre lang an der Produktion beteiligt. Darunter 32 Hauptzeichner, 102 Assistenzzeichner, 25 Hintergrundmaler und 158 meist junge Frauen, die die Zeichnungen im Akkord mit Tusche auf Zelluloid übertrugen und kolorierten. Ein Mammutprojekt, das Zeit und Geld verschlang – aber am Ende mit einem Happy End belohnt wurde.

Denn die Geschichte über die böse Königin, das schöne Schneewittchen und sieben drollige Zwerge entwickelte sich in den US-Kinos zum Kassenschlager – und trat bald darauf seinen Siegeszug um die Welt an.

Snow White and the Seven Dwarfs: Bis heute der Zeichentrick-Klassiker par excellence / © Disney. All rights reserved.

Snow White and the Seven Dwarfs: Bis heute der Zeichentrick-Klassiker par excellence / © Disney. All rights reserved.

„Snow White“ soll in deutsche Kinos kommen

In Deutschland verfolgt man besonders aufmerksam den künstlerischen und vor allem kommerziellen Erfolg von „Snow White“. Allerdings kann die nationalsozialistische Filmindustrie dem wenig entgegensetzen. Zwar entsteht in den Jahren 1935/36 die vierteilige Zeichentrick-Reihe „Deutscher Märchenkranz“, aber die catoonesken Kurz-Stummfilme in Schwarz-weiß rufen keine Begeisterungsstürme hervor.

Auch deshalb weist 1938 das von Joseph Goebbels geleitete Propagandaministerium an, den Disney-Film für einen Kinostart in Deutschland anzukaufen. Obwohl gleich mehrere deutsche Firmen, wie die Universum Film AG (Ufa), mit den US-Amerikanern verhandeln und sich hohe Gewinne aus dem Verleih erhoffen, gerät das Vorhaben ins Stocken.

Der Grund: Spätestens seit der Sudetenkrise und den Novemberpogromen ist die Stimmung gegen Nazi-Deutschland vollends gekippt. Disney wäre es unmöglich gewesen, einen Verleih seines Zeichentrickfilms vor seinen Landsleuten zu rechtfertigen. Schlussendlich werden die Verhandlungen Anfang 1939 ergebnislos abgebrochen.

Schauspieler statt Zeichentrickfiguren

Das Aus für Disneys „Snow White“ ist der verspätete Startschuss für einen eigenen deutschen „Schneewittchen“-Film – allerdings mit Schauspielern statt Zeichentrickfiguren. Verspätet deshalb, weil das Drehbuch bereits seit März 1938 vorlag, aber der Drehbeginn wegen der „Snow-White“-Verhandlungen vom Propagandaministerium immer wieder zurückgestellt wurde. Der Kinostart war ursprünglich für September 1938 geplant.

Werbung „Der verlorene Schuh“ / © Ufa

Werbung „Der verlorene Schuh“ / © Ufa

Dass das deutsche „Schneewittchen“ als Realfilm inszeniert wird, erscheint noch aus einem anderen Grund logisch. Denn der deutsche Märchenfilm schaut bereits auf eine über 20-jährige Tradition zurück. Die begann in den 1910er-Jahren mit Filmen wie „Rübezahls Hochzeit“ (1916) von Paul Wegener und setzte sich später mit „Der verlorene Schuh“ (1923) – eine „Aschenputtel“-Adaption von Ludwig Berger – fort.

Dabei zeigt die Causa Berger noch etwas anderes: Der jüdische Drehbuchschreiber und Regisseur emigrierte 1935 aus Deutschland. Er steht wie viele andere für den kreativen Aderlass, der den deutschen Film nach 1933 prägt. Und der sich auch auf das Märchen-Genre auswirkt.

Märchen sind „unstreitig eine deutsche Angelegenheit“

Seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten sind bislang fünf neue Schauspieler-Märchenfilme aus deutscher Produktion in den Kinos gestartet. Sie richten sich vor allem an Kinder zwischen vier und acht Jahren, können aber nicht an das künstlerische Niveau aus den 1920er-Jahren anknüpfen.

Dennoch setzen die NS-Filmfunktionäre große Hoffnungen in den „Schneewittchen“-Film, um Disneys „Snow White“ zu übertrumpfen. Der vermeintliche Vorteil: Märchen seien „doch unstreitig eine deutsche Angelegenheit“. Man denke an die Brüder Grimm. Allein deshalb sollte das Vorhaben gelingen.

„Echte Liliputaner“ spielen die sieben Zwerge

Im Frühjahr 1939 beginnen die Dreharbeiten in Berlin. Die Studioproduktion entsteht ohne Außenaufnahmen. Carl Heinz Wolff sitzt auf dem Regiestuhl. Er kommt aus dem seichten Unterhaltungsfach und ist mit Filmen wie „Heideschulmeister Uwe Karsten“ (1933) und „Verlieb dich nicht am Bodensee“ (1936) eher im Heimatfilm-Genre zu Hause.

Das Drehbuch steuert Hubert Schonger bei. Eigentlich ist der gebürtige Schwabe ein Kulturfilmer und macht Natur-Dokus. Bislang hat er noch kein Manuskript für einen Märchenfilm verfasst. Aber: Ihm gehört die kleine Produktionsfirma, die „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ herstellt.

Münchhausen: Marianne Simson spielt im Ufa-Film von 1943 die körperlose Mondfrau / Quelle: Murnau-Stiftung/DIF

Münchhausen: Marianne Simson spielt im Ufa-Film von 1943 die körperlose Mondfrau / Quelle: Murnau-Stiftung/DIF


Die Rolle der Titelheldin Schneewittchen übernimmt die damals unbekannte, erst 19-jährige Marianne Simson. Vier Jahre später wird sie an der Seite von Hans Albers im Fantasy-Klassiker „Münchhausen“ (D 1943) eine Nebenrolle spielen. In „Schneewittchen“ ist ihr Gegenpart, die böse Königin, Elisabeth Wendt. Für die Zwerge, so die damalige Presse, werden „echte Liliputaner“ ausgewählt. Der älteste soll 76 Jahre sein.

„Schneewittchen“: Prädikat „volksbildend“

Am 7. Juli 1939 berichtet die Film-Tageszeitung „Film-Kurier“ prominent auf Seite eins, dass die Aufnahmen für den „Schneewittchen“-Film beendet sind. Bis zum deutschen Kinostart im Oktober vergehen allerdings nochmals drei Monate.

In dieser Zeit wird das Märchen akribisch von der Film-Prüfstelle begutachtet. Die staatliche Zensurbehörde mit Sitz in Berlin entscheidet darüber, ob Filme im Deutschen Reich aufgeführt werden dürfen und ob sie ein Prädikat erhalten. Für „Schneewittchen“ läuft es gut: Der knapp 80-minütige Märchenfilm erhält die Zulassung und bekommt das Prädikat „volksbildend“.

Schneewittchen und die sieben Zwerge: Marianne Simson umringt von „echten Liliputanern“ / © Schongerfilm

Schneewittchen und die sieben Zwerge: Marianne Simson umringt von „echten Liliputanern“ / © Schongerfilm


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Am 1. Oktober 1939 startet der Film deutschlandweit in den Kinos: Düsseldorf, Berlin, Hamburg, Köln, München, Frankfurt, Breslau, Dresden oder Nürnberg sind nur einige der Aufführungsorte. Im Januar 1940 läuft „Schneewittchen“ in der sogenannten Ostmark an.

Hersteller „haben Geschmack walten lassen“

Die gleichgeschaltete deutsche Filmfachpresse, gelenkt vom Propagandaministerium, gibt sich wohlwollend in ihrer Kritik: Der „Film-Kurier“ findet, dass der Märchenfilm für Kinder „ein guter Erfolg“ ist. Die „Deutsche Filmzeitung“ lobt: Die Hersteller „haben Geschmack walten lassen.“ Und die „Lichtbild-Bühne“ meint, dass die Darsteller „sehr nett“ ihre Möglichkeiten nutzen.

Schneewittchen und die sieben Zwerge: Die kleinen Männer trauern am Sarg der Königstochter / © Schongerfilm

Schneewittchen und die sieben Zwerge: Die kleinen Männer trauern am Sarg der Königstochter / © Schongerfilm


Dennoch: So richtig überzeugt, gar enthusiastisch, klingt das nicht. Das liegt nicht nur daran, dass der deutsche „Schneewittchen“-Film in Schwarz-weiß gedreht ist – im Gegensatz zum farbenfrohen Disney-Film. Es sind auch die Dialoge, die sich zwar eng an das Märchenbuch halten, aber im Film flach und hölzern klingen. Zudem muss die böse Königin zur Strafe am Ende in glühenden Pantoffeln tanzen. Harter Tobak für zarte Kinderseelen.

Hatte Disney seine „Schneewittchen“-Version noch entgruselt – die böse Königin versucht nur einmal, Schneewittchen zu töten – so bleiben im deutschen Realfilm alle Grausamkeiten erhalten. Mehr noch: Die seelischen werden gar verstärkt. So leidet Schneewittchen schon als Kind unter dem Psychoterror seiner Stiefmutter.

„Tick-tack, Tick-tack“ statt „Heigh-Ho, Heigh-Ho“

Filmplakat „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ / © Jugendfilm-Verleih

Filmplakat „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ / © Jugendfilm-Verleih

Besser funktionieren einige Ideen, die sich die Filmemacher von Disney abgeguckt haben – was offiziell natürlich verschwiegen wird. Singen die Zwerge bei Disney „Heigh-Ho, Heigh-Ho“, so trällern die kleinen Männer im deutschen Pendant „Tick-tack, Tick-tack“ zu einer ähnlich mitreißenden Melodie. Komponiert hat die Filmmusik Norbert Schultze, der zuvor Soldatenlieder („Lili Marleen“) und später Propagandalieder („Bomben auf Engelland“) vertont.

Dass harmlose Märchenfilme ihre Entstehungszeit reflektieren, zeigt auch der deutsche „Schneewittchen“-Film: So muss der Vater (Walter Kynast) der Titelheldin in den Krieg ziehen. Das steht zwar nicht im Grimm’schen Märchen, aber es spannt einen Bogen zu den Alltagserfahrungen des damaligen Publikums – und schwört das Volk auf Kampf und Wehrbereitschaft ein: Denn der Märchenfilm startet in den Kinos genau vier Wochen nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen.

Am 24. Oktober 1950 erstmals in Westdeutschland im Kino

Dass er bis Kriegsende im Deutschen Reich – aber auch in besetzten Gebieten wie den Niederlanden – immer wieder aufgeführt wird, zeigt einmal mehr, dass er für die Nationalsozialisten zu den wichtigsten ihrer knapp zwanzig Märchenfilme zählt.

Im Rückblick zieht der deutsche „Schneewittchen“-Film dennoch den Kürzeren: Als Disneys „Snow White and the Seven Dwarfs“ nach dem Krieg erstmals in Westdeutschland uraufgeführt wird – am 24. Oktober 1950 in Köln –, ist das Publikum hellauf begeistert. Auch 13 Jahre nach seiner US-Premiere hatte der farbenfrohe Zeichentrickfilm nichts von seiner Genialität eingebüßt. Ende gut, alles gut. Genau wie im Märchen.

Dank für die Unterstützung bei der Recherche an Rommy Albers (EYE Film Instituut Nederland, Amsterdam) und Paolo Caneppele (Österreichisches Filmmuseum, Wien).

Der Film „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (D 1939) kann im Bundesarchiv-Filmarchiv (Berlin) zu Forschungszwecken gesichtet werden. Die Rechte für Kino- und TV-Aufführungen hält Schongerfilm (Inning am Ammersee).

Filme:

  • „Snow White and the Seven Dwarfs“ (USA, 1937, Regie: David Hand). Auf DVD/Blu-ray erschienen.
  • „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (D, 1939, Regie: Carl Heinz Wolff). Noch nicht erschienen.

Verwendete Quellen:

  • Hahn, Ronald M./Jansen, Volker/Stresau, Norbert: Schneewittchen und die sieben Zwerge (USA 1937). In: Dies.: Lexikon des Fantasy-Films. 650 Filme von 1900 bis 1986. München, 1986, S. 433–436.
  • Henseleit, Felix: Schneewittchen und die sieben Zwerge. Hubert Schonger-Film im Ufa-Pavillon. In: Lichtbild-Bühne 32 (1939), Nr. 235, 9.10.1939, [o. S.].
  • Laqua, Carsten: Wie Micky unter die Nazis fiel. Walt Disney und Deutschland. Reinek b. Hamburg, 1992, S. 88–99.
  • Martini, Irmgard: Schneewittchen und die sieben Zwerge. In: Deutsche Filmzeitung 18 (1939), Nr. 43, 22.10.1939, S. 3.
  • Schlesinger, Ron (Hrsg.): Schneewittchen und die sieben Zwerge. In. Ders.: Rotkäppchen im Dritten Reich. Die deutsche Märchenfilmproduktion zwischen 1933 und 1945. Ein Überblick. Berlin, 2014, S. 45–51.
  • Schuhmacher, Hans: Märchenfilme eine deutsche Angelegenheit. Zu den Aufnahmen von „Schneeweißchen und Rosenrot“. In: Film-Kurier 20 (1938), Nr. 150, 30.6.1938, S. 5.
  • Schuhmacher, Hans: Schneewittchen und die sieben Zwerge. Ufa-Pavillon. In: Film-Kurier 21 (1939), Nr. 236, 10.10.1939, [o. S.].
  • Storm, J. P./Dreßler, M.: Im Reiche der Micky Maus. Walt Disney in Deutschland 1927–1945. Eine Dokumentation zur Ausstellung im Filmmuseum Potsdam. Berlin, 1991, S. 105–133.
  • [o. A.]: Deutsche Märchenfilme. In: Film-Kurier 20 (1938), Nr. 74, 29.3.1938, S. 1.
  • [o. A.]: Schneewittchen-Film beendet. In: Film-Kurier 21 (1939), Nr. 155, 7.7.1939, S. 1.
  • [o. A.]: Schneewittchen und die sieben Zwerge. In: Paimann’s Filmlisten 25 (1940), Nr. 1239, 5.1.1940, [o. S.].

DVD-Cover / © Walt Disney

DVD-Cover / © Walt Disney


Schneewittchen und die sieben Zwerge (USA 1937)
Regie: David D. Hand
Reihe: Disney Classics 1
Fassung: Deutsch (Dolby Digital 5.1)
Format: Dolby, PAL
Länge: 80 Minuten
Alterseinstufung: Freigegeben ohne Altersbeschränkung
Label: Walt Disney (VÖ: 9.11.2017)


Headerfoto: Werbeanzeige „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (D 1939) / © Jugendfilm-Verleih

Dieser Beitrag wurde am 1. Februar 2020 aktualisiert.

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