Auch die Märchen aus Tausendundeiner Nacht stecken voller politischer Fettnäpfchen. Dennoch sollen die Verfilmungen möglichst keine Angriffsfläche für Diskriminierung und Rassismus bieten, wie Disneys „Aladdin“ einmal mehr zeigt.
Sie zählen zu den wohl bekanntesten orientalischen Märchenfiguren: Aladdin, Sindbad und Ali Baba. Ihre Abenteuer stehen in den „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ – die seit den Anfängen der Kinematografie auch eine Fundgrube für Filmemacher sind.
Gerade „Aladdin und die Wunderlampe“, so der Titel des 269. Märchens aus 1001 Nacht, bietet eigentlich alles, was zu einem guten Filmplot gehört: Es ist die klassische Aufsteigergeschichte eines sympathischen Taugenichts, der sich natürlich in ein (unerreichbares) Mädchen verliebt.
Eine geheimnisvolle Öllampe, die Wünsche erfüllt
Dabei verweist schon die Bedeutung seines Namens Alâ ad-Din – „Gipfel der Religion“ – auf seinen phänomenalen Aufstieg: Dank einer wundersamen Öllampe wird er nicht nur steinreich, sondern bekommt zudem die schöne Sultanstochter Badr al-Budûr („der Vollmond der Vollmonde“) zur Frau. Der Gipfel des Glücks, der Macht und der Liebe.
Dass Aladdin dafür nicht viel tun muss, hält die Filmemacher bis heute nicht davon ab, jenes Märchen für die Kinoleinwand zu adaptieren. Hier fasziniert vor allem die sagenhafte Wunderlampe. Wenn man an ihr reibt, erscheint ein Geist (Dschinnî), der alle Wünsche erfüllt. Der wahrgewordene Traum eines jeden Trickspezialisten.
Von „Der Dieb von Bagdad“ bis Disneys „Aladdin“
So finden sich Versatzstücke von „Aladdin und die Wunderlampe“ bereits in den Fantasy-Klassikern „Der Dieb von Bagdad“ von 1924 (USA) und 1940 (GB/USA). Erinnert in der ersten (Stumm-)Filmversion der in den Tag hinein lebende Held Ahmed (Douglas Fairbanks) an Aladdin, so hat in der 16 Jahre später produzierten Farbversion der Dschinn (Rex Ingram) seinen großen Auftritt.
Obwohl sich der sowjetische Märchenfilm „Aladins Wunderlampe“ von 1966 weitaus enger an die Literaturvorlage lehnt und beim DDR-Publikum Kultstatus erreichte, ist es eher die US-amerikanische Disney-Verfilmung „Aladdin“ (1992), die das Bild des Helden bis heute prägt.
Hip-Hop-Videos, Lagerfeld-Zopf, Madonna-Attitüde
Dennoch unkte schon damals die Taz und ließ kein gutes Haar am Orient der Disney-Studios, in dem „nichts mehr richtig märchenhaft“ sei, „stattdessen wimmelt es von Popzitaten.
Die Palastwachen des Sultans posen als fleischige Bodyguards aus Hip-Hop-Videos, sein Zauberer bei Hofe, Dschafar, trägt einen Lagerfeld-Zopf, und die ebenso kindfrauliche wie selbstbewusste Prinzessin Jasmin schmollt noch launenhafter als Madonna – „like a virgin, touched for the very first time“.
Zudem agiere die Titelfigur „in einer Mischung aus Tom Cruise und Elvis in seinen frühen Scheich-Filmen“ und Aladdins Helferfigur, der Flaschengeist Dschinni, „verwandele sich je nach Gemütslage in Männlein, Weiblein oder beides. Das Geschlecht spielt austauschbare Rollen“ (Hahn/Giesen 2001, S. 18).
Allein in Deutschland störte das aber rund 6,3 Millionen Kinozuschauer nicht im Geringsten. Mehr noch: Das Animations-Spektakel musste sich in den Jahrescharts für 1993 nur Steven Spielbergs „Jurassic Park“ (1993) geschlagen geben. Das allerdings mit deutlichem Abstand (9,4 Millionen Besucher).
„Aladdin und die Wunderlampe“ hält Fettnäpfchen bereit
Kein Wunder also, dass Disney mit „Aladdin“ – nach „Die Schöne und das Biest“ (USA 2017), „Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ (USA 2016), „Cinderella“ (USA 2015) und „Maleficent – Die dunkle Fee“ (USA 2014) – erneut einen animierten Märchenklassiker als Realfilm in den Kinos startet.
Wie schon im Drehbuch für die 1992er-Version wurde die ursprüngliche Geschichte von „Aladdin und die Wunderlampe“ fürs 21. Jahrhundert nochmals einer Revision unterzogen. Der Grund: Das Märchen ist nicht nur ein wenig langatmig, es hält auch ein paar Fettnäpfchen bereit, die heute diskriminierend, politisch unkorrekt und mitunter sogar antisemitisch sind.
Fremder afrikanischer Zauberer und jüdischer Kaufmann
Disney hatte bereits 1992 die Vorlage geglättet, vor allem was das Figurenensemble betraf. Ist im Original der Gegenspieler von Aladdin ein fremder Zauberer aus Afrika, „ein Maghrebiner“ (Bürgel/Chenou 1995, S. 23) – falsch und verlogen –, so macht in dem Zeichentrickfilm nur der Großwesir Dschafar („Fluss des Wissens“) das Leben von Aladdin schwer.
Ein Wesir tritt schon in der Vorlage auf, allerdings ohne die Wunderlampe zu kennen. Hier setzt er nur alles daran, seinen Sohn mit der Sultanstochter Badr al-Budûr zu vermählen und deren Heirat mit Aladdin zu verhindern. Vergeblich.
Auch ein jüdischer Kaufmann („schlimmer als ein Satan“, ebd. S. 36), der Aladdin übers Ohr haut (er kauft ihm goldene Teller für einen Spottpreis ab), kommt im Animationsfilm nicht mehr vor. Eine Textstelle in der Vorlage reflektiert zugleich eine kulturelle Auf- (Islam) und Abwertung (Judentum) in der Entstehungszeit der „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ – und verrät auch etwas darüber, wann diese Märchen aufgeschrieben oder übersetzt wurden.
Amerikanisch-arabische Organisation protestierte
So erzählt ein muslimischer Juwelier, das Abbild „eines aufrichtigen und frommen Mannes, der Gott fürchtete“ (ebd. S. 38), dem jungen Aladdin:
„Du weißt aber nicht, mein Kind, daß die Juden das Gut der Muslime, die den einigen Gott, den Erhabenen, anbeten, für sich erlaubt halten und sie stets begaunern, zumal dieser verruchter Jude, mit dem du zu schaffen hast und in dessen Hände du gefallen bist.“ (ebd.)
Trotzdem hagelte es 1992 viel Kritik. Das American-Arab Anti-Discrimination Committee (ADC) protestierte, dass der Zeichentrick-Aladdin darüber singt, dass er aus einem barbarischen Land kommt, „where they cut off your ear, if they don’t like your face“ (dt.: wo sie dir das Ohr abschneiden, wenn sie dein Gesicht nicht mögen, vgl. Wingfield/Karaman 1995/2009).
Welt aus 1001 Nacht: fremd, exotisch, anders
Zwar wurde diese Liedzeile nachträglich für die Video-Version geändert: „it’s flat and immense, and the heat is intense“ (dt.: es ist flach und groß, und die Hitze heftig). Dennoch findet die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Ingrid Tomkowiak, dass „[i]n der einen wie der anderen Version […] die arabische Welt allerdings gleich von Beginn an als fremd und exotisch – als anders“ charakterisiert wird (Tomkowiak 2017, S. 133).
Vor diesem Hintergrund bastelten die Drehbuchschreiber John August und Vanessa Taylor ein neues Realfilm-Manuskript für „Aladdin“, das diesmal wenig, oder besser noch, überhaupt keine Angriffsfläche für politische Unkorrektheit oder Diskriminierung bieten, aber witzig, bunt und fantasievoll sein sollte.
Im Fantasyfach sind beide zuhause, wenngleich im düsteren: August schrieb das Drehbuch für die Tim-Burton-Filme „Charlie und die Schokoladenfabrik“ (USA 2005) und „Frankenweenie“ (USA 2012). Taylor wurde für ihr Drehbuch von „Shape of Water – Das Flüstern des Wassers“ (USA 2017) mit einem Oscar ausgezeichnet und produzierte zuvor zwanzig Episoden der US-Serie „Game of Thrones“ (USA 2012–2013).
Ohne Grausamkeit, Tod und Barbarei
Trotzdem ist die neue Realverfilmung „Aladdin“ (2019) alles andere als düster. Das liegt nicht nur an der farbenfrohen Inszenierung von Regisseur Guy Ritchie. Alles was nur den leisesten Anschein von Grausamkeit, Tod und Barbarei wecken könnte, wird vermieden. Vielmehr präsentiert sich der Handlungsort, die fiktive morgenländische Stadt Agrabah, grell-bunt, seicht – und vor allem überraschend multi-ethnisch.
So spielen der kanadisch-ägyptische Mena Massoud (Aladdin), die britisch-indische Naomi Scott (Prinzessin Jasmin) oder der tunesisch-niederländische Schauspieler Marwan Kenzari (Dschafar) die Hauptrollen. Andauernde Debatten der letzten Jahre um kulturelle Diversität – von „Oscars-so-white“ bis „Whitewashing“ – tragen offenbar Früchte.
Hundert weiße Komparsen braun geschminkt?
Dass die Öffentlichkeit dennoch sensibilisiert ist, zeigten Anfang 2018 zwei Berichte der britischen Zeitungen „Daily Mail“ und „Sunday Times“. Der Vorwurf: Hundert weiße Komparsen sollen für „Aladdin“ braun geschminkt worden sein. Ein Sprecher von Disney sagte laut Kino.de, dass „große Sorgfalt getroffen wurde, um die größte vielfältige Besetzung überhaupt“ (Engelhardt 2018) zu gewährleisten.
Ethnische Vielfalt sei eine Voraussetzung – auch bei der Vergabe von Komparsenrollen. Jedoch gebe es „eine Handvoll Einzelfälle“, so Disney. Dabei handelte es sich aber um Personal für Sicherheit bei Stunts und Spezialeffekten sowie für den Umgang mit Tieren. Diese Mitarbeiter wurden dunkel geschminkt, um zur restlichen Besetzung des Films zu passen, so der Sprecher.
Heimliche Hauptrolle: Dschinni aus der Wunderlampe
Will Smith, der schon einmal eine Oscar-Verleihung boykottierte, weil schwarze Schauspieler seiner Meinung nach zu Unrecht nicht nominiert wurden, spielt in „Aladdin“ die heimliche Hauptrolle: den Dschinni aus der Wunderlampe. Und das auch, weil seine Figur im Vergleich zu 1992 weiterentwickelt wurde.
In der Realverfilmung erzählt er die Geschichte von „Aladdin“ in einer Rahmenhandlung. Damit knüpfen die Filmemacher zugleich an die Struktur der literarischen „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ an. Diese erzählt ursprünglich die schöne und kluge Wesirstochter Scheherezâde dem paranoiden, grausamen Sultan Schahriyâr, um ihn bei Laune zu halten.
Emanzipierte Jasmin will selbst Thron besteigen
Dabei lassen sich Cleverness und Mut von Scheherezâde durchaus im „Aladdin“-Märchen in der Figur von Prinzessin Jasmin wiederfinden. Bleibt die Sultanstochter als Badr al-Budûr in der Vorlage allerdings noch blass und klischeehaft, so zeigt sie die 1992er-Verfilmung bereits als selbstständige junge Frau, die auf bisherige Gesetze pfeift.
Eines besagt, dass sie ausschließlich einen Prinzen heiraten darf. Jasmin will aber vor allem aus Liebe heiraten – Aladdin nämlich. Die 2019er-Realverfilmung geht dabei noch einen (feministischen) Schritt weiter: Hier will die emanzipierte Jasmin nach ihrem Vater (Navid Negahban) selbst den Thron besteigen und Sultan werden, obwohl die Gesetze das verbieten.
Das klingt nach „Amerikanisierung des Orientmärchens“ (Liptay 2004, S. 164). Oder nach einer Geschichte des Aufbruchs und der Selbstverwirklichung. Hoffentlich nicht nur im Märchen.
Film: „Aladdin“ (USA, 2019, R: Guy Ritchie). Kinostart war der 23. Mai 2019.
Drehorte:
- Longcross Studios, Chobham Ln, Longcross, Chertsey KT16 0EE, Vereinigtes Königreich
- Wadi Rum Village, Jordanien
Verwendete Quellen:
- Bürgel, Johann Christoph/Chenou, Marianne (Hrsg.): Aladdin und die Wunderlampe. Eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht. Aus dem Arabischen übersetzt von Max Henning. Stuttgart, 1995.
- Engelhardt, Andreas: „Aladdin“-Remake wird mit Rassismus-Vorwürfen konfrontiert. In: Kino.de, 9.1.2018.
- Hahn, Ronald M./Giesen, Rolf: Das neue Lexikon des Fantasy-Films. Mehr als 1300 Fantasy-Filme mit filmografischen Angaben, Produktionsdaten, Inhalt, Besetzung und Besprechungen. Unter Mitarbeit von Volker Jansen und Norbert Stresau. Berlin, 2001, S. 18f.
- InsideKino.com: Top 100 Deutschland 1993.
- Liptay, Fabienne: WunderWelten. Märchen im Film. Remscheid, 2004.
- Tomkowiak, Ingrid: Capture the Imagination – 100 Jahre Disney-Märchenanimationsfilme. In: Dettmar, Ute/Pecher, Claudia Maria/Schlesinger, Ron (Hrsg.): Märchen im Medienwechsel – Zur Geschichte und Gegenwart des Märchenfilms. Stuttgart, 2017, S. 121–141.
- Wingfield, Marvin/Karaman, Bushra: Arab Stereotypes and American Educators (1995). In: The American-Arab Anti-Discrimination Committee (ADC), 18.11.2009.
Weiterführende Literatur:
- Zouaoui-Becker, Dalila: Sex, Dschinn, Religion – 1001 Nacht gegen 114 Suren? In: Deutschlandfunk: Essay und Diskurs (22.3.2020, abgerufen: 31.8.2020).
Headerfoto: Der kanadisch-ägyptische Mena Massoud spielt Aladdin. Die Rolle des Dschinni übernimmt Will Smith / © Disney 2019