Nussknacker (Sven Gielnik, l.) und Mausekönig (Joel Basman) / © MDR/RB/Christian Schulz

Nussknacker und Mausekönig (D 2015): Traum & Wirklichkeit

Fast 200 Jahre nachdem E. T. A. Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“ erscheint, verfilmt die ARD das durchgeknallte Kunstmärchen für ihre Reihe „Auf einen Streich“. Aber ach! Herausgekommen ist eine brave Coming-of-Age-Geschichte – mit einem harmlosen Mausekönig. Daran kann auch Schlagerbarde Guildo Horn als Butler wenig ändern.

Titelblatt mit Holzstich von Bertall (1845)

Titelblatt mit Holzstich von Bertall (1845)

Märchen gibt es viele, doch wenige erzählen Geschichten, die sich am Weihnachtsabend zutragen: Neben Hans Christian Andersens „Der Tannenbaum“ oder Charles Dickens‘ Geistererzählung „A Christmas Carol“ zählt dazu auch E. T. A. Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“. Die Geschichte erscheint im Dezember 1816 im ersten Band seiner „Kindermärchen“ – und ist nebenbei auch „die erste literarische Schilderung einer Berliner Weihnachtsfeier mit einem Lichterbaum“ (Günzel).

Doch das ist nicht der Grund, weshalb Hoffmanns frühes Werk „Nussknacker und Mausekönig“ bis heute zu seinen bekanntesten zählt. Sicher, der russische Komponist Peter Iljitsch Tschaikowski hat mit seiner Ballettmusik „Der Nussknacker“ (1892) sowie der noch bekannteren „Nussknacker-Suite“ einen Großteil dazu beigetragen. Und auch die französische Übersetzung des Märchens („Histoire d’un cassenoisette“, 1845) von Alexandre Dumas mit Holzstichen seines Landmanns Bertall haben die Popularität befeuert.

Siebenköpfiger Mausekönig gegen hölzernen Nussknacker

Dennoch sind alle drei – Tschaikowski, Dumas und Bertall – inspiriert von E. T. A. Hoffmanns Vorlage, die „in skurriler Weise […] Alltag und Phantasiewelt“ (Freund) vermischt: Darin erlebt die siebenjährige Marie, Tochter des Medizinalrats Stahlbaum, in der Heiligen Nacht einen Kampf zwischen Spielzeugfiguren, darunter ein hölzerner Nussknacker, mit einem Heer von Mäusen. Die Schlacht endet vorerst unentschieden. Trotzdem will ein siebenköpfiger Mausekönig unbedingt den Nussknacker in seine Gewalt bringen.

Zuckrige Miniaturwelt: Marie (Mala Emde) und ihr Bruder Fritz (Leonard Seyd) staunen / © MDR/RB/Christian Schulz

Zuckrige Miniaturwelt: Marie (Mala Emde) und ihr Bruder Fritz (Leonard Seyd) staunen / © MDR/RB/Christian Schulz


Den Grund erfährt Marie am darauffolgenden Tag von ihrem schrulligen Patenonkel Droßelmeier. Er erzählt ihr „Das Märchen von der harten Nuss“ und auch, dass der Nussknacker in Wahrheit ein schöner junger Mann ist, der von der Mutter des Mausekönigs verwünscht wurde. Zum Glück siegt der Nussknacker über das böse Nagetier und nimmt Marie mit auf eine Reise ins Puppenreich. Am Ende wird ihr der Nussknacker – jetzt in Menschengestalt – als junger Neffe ihres Patenonkels vorgestellt.

Kunstmärchen von E. T. A. Hoffmann bisher nur selten verfilmt

Nicht nur der ständige Wechsel von Wirklichkeit und Fantasie in „Nussknacker und Mausekönig“, auch die darin erzählte Binnengeschichte zeigen ganz konkret Hoffmanns „komplex artistisches Märchenschaffen“ (Vitt-Maucher). Vielleicht wurden in Deutschland deshalb seine sieben Kunstmärchen bisher wenig verfilmt. Eine der Ausnahmen ist hier „Zauber um Zinnober“ (1983, DDR), das auf sein ironisches Märchen „Klein Zaches genannt Zinnober“ (1819) zurückgeht. Und ebenso „Nussknacker und Mausekönig“:

Farbdramaturgie: Wenn der Mausekönig (Joel Basman) auftritt, erscheint alles blau-grün / © MDR/RB/Christian Schulz

Farbdramaturgie: Wenn der Mausekönig (Joel Basman) auftritt, erscheint alles blau-grün / © MDR/RB/Christian Schulz


1964 verfilmt Heinz Liesendahl das Kindermärchen für den Süddeutschen Rundfunk (SDR) als Ballettfilm („Der Nussknacker“). 2004 startet ein deutscher Zeichentrickfilm in den Kinos, in dem Michael Johnson und Tatjana Ilyina die Regie übernehmen. 2015 entscheidet die ARD, das komplexe Hoffmannsche Märchen als 60-minütigen Film für die Reihe „Auf einen Streich“ zu adaptieren. Die Drehbuchautoren Thomas Brück und Tiina Takkula versuchen, das „mutwillig-pittoreske Fantasiestück“ (Günzel) in ein TV-Format bringen.

Kindermärchen wird zum Teenager-Märchenfilm

Dafür setzen beide auf eine Coming-of-Age-Geschichte, in der sich Marie (gespielt von der damals 19-jährigen Mala Emde) vom puppenspielenden und schleifchentragenden Mädchen zu einer jungen Frau entwickelt, die die erste Liebe entdeckt. Das Kindermärchen wird zum Teenager-Märchenfilm. Schade, denn „Nussknacker und Mausekönig“ hätte auch konsequent als Kinderfilm inszeniert werden können, in dem 10-Jährige die Hauptrolle spielen. Dass das funktionieren kann, zeigen ARD-Märchenfilme wie „Sterntaler“ (2011) oder „Rotkäppchen“ (2012).

Kostümsprache: Am Anfang trägt Marie (Mala Emde) noch mädchenhafte Schleifen / © MDR/RB/Christian Schulz

Kostümsprache: Am Anfang trägt Marie (Mala Emde) noch mädchenhafte Schleifen / © MDR/RB/Christian Schulz


Gewiss, Marie wird der kleine Bruder Fritz (Leonard Seyd) an die Seite gestellt, doch dienen Nebenfiguren, auch wenn sie von Kindern gespielt werden, meist nur „der Kontrastierung und Beschreibung der Hauptfigur“ (Mikos). Sieht man von der Rollenbesetzung einmal ab, so straffen Brück/Takkula die Story und verbinden Ideen der Vorlage – die bei Hoffmann manchmal ein wenig faserig erscheinen – zu einem logischen Ganzen. Kongenial ist, wie „Das Märchen von der harten Nuss“ eingebunden wird.

Gute Silhouetten-Animation, fade Mausekönig-Auftritte

Die Geschichte erzählt Maries Patenonkel Anselmus Drosselmeier (Anatole Taubman). Dabei werfen die Kerzenlichter einer Weihnachtspyramide, an deren Flügel Silhouetten-Vignetten befestigt sind, Schatten an die Wand. Das erzählte Märchen wird somit als Silhouettenspiel gezeigt. Wenngleich es nur in Maries Fantasie entsteht und im Film animiert ist, so erinnert es an das Sebnitzer Schattenspiel. Und: Das Setting von „Nussknacker und Mausekönig“ wird an den Anfang des 20. Jahrhunderts verlegt – jene Zeit, in der diese Volkskunst populär ist.

Schattenspiel: Onkel Drosselmeier (Anatole Taubman, l.) erzählt der Familie ein Märchen / © MDR/RB/Christian Schulz

Schattenspiel: Onkel Drosselmeier (Anatole Taubman, l.) erzählt der Familie ein Märchen / © MDR/RB/Christian Schulz


Mit dieser Idee bringt Regisseur Frank Stoye ein wenig Zauber und Fantasie in die stellenweise etwas fade Verfilmung. Das gilt besonders für die Auftritte des Mausekönigs (Joel Basman). Leider legt ihm das Drehbuch weder skurrile noch groteske Worte in den Mund, wenn er Marie unter Druck setzt, ihren Nussknacker (Sven Gielnik) herauszugeben. Zudem wirkt seine Kostümierung einfallslos; nichts erinnert an eine Maus. Allein die Farbdramaturgie – alles erscheint in kaltem blau-grünem Licht, wenn er auftritt – reicht nicht aus.

Schlagersänger, Running Gag und Blumenwalzer im ARD-Märchenfilm

Besser funktioniert die Idee, das Groteske der Vorlage mit Komik zu verbinden, die zum Beispiel über Figuren erzeugt wird. In doppelter Hinsicht gelingt das in der Nebenfigur des Dieners Alfred: einerseits über die originelle Besetzung, wenn Schlagersänger und Enfant Terrible Guildo Horn („Piep, piep, piep, ich hab‘ Dich lieb“) die Rolle spielt, andererseits über einen Running Gag, wenn der Diener jeden Morgen lauthals das Familienoberhaupt „Herr Stahlbaum!“ ruft, weil er schon wieder eine böse Überraschung im Wohnzimmer des Medizinalrats entdeckt.

Traumtänzer: Marie (Mala Emde) und ihr Nussknacker (Sven Gielnik) im Zuckerland / © MDR/RB/Christian Schulz

Traumtänzer: Marie (Mala Emde) und ihr Nussknacker (Sven Gielnik) im Zuckerland / © MDR/RB/Christian Schulz


Keine böse Überraschung erwartet allerdings Marie, als der Nussknacker sie am Ende in das Zuckerland führt – eine Fantasiewelt, die der zuckrigen Miniaturwelt im Wohnzimmer der Familie Stahlbaum überraschend ähnelt. Schon Hoffmann lässt mit seinem „Puppenreich“, nebst Kandiswiese, Mandel- und Rosinentor oder Limonadenstrom, besonders Kinderherzen höher schlagen. Im ARD-Märchenfilm regiert dort die Zuckerfee (Collien Ulmen-Fernandes) und bittet Marie und ihren Nussknacker zum Tanz zu Tschaikowskis „Blumenwalzer“. Конечно!

Film: „Nussknacker und Mausekönig“ (2015, R: Frank Stoye, BRD). Auf DVD erschienen.

Drehorte:

  • Schlosshotel „Zum Markgrafen“, Wallstraße 96, 06484 Quedlinburg
  • Dorint Parkhotel Bremen, Im Bürgerpark, 28209 Bremen

Literatur:

  • Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005, S. 50.
  • Günzel, Klaus: Ein Capriccio in drei Sätzen als Nachtrag zu E. T. A. Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“, in: Hoffmann, E. T. A.: Nussknacker und Mausekönig. Märchen. Mit Holzstichen von Bertall und einem Nachwort von Klaus Günzel. Berlin, 1982, S. 210f., 223.
  • Mikos, Lothar: Film- und Fernsehanalyse. 2., überarbeitete Auflage. Konstanz, 2008, S. 164.
  • Vitt-Maucher, Gisela: Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 6, Berlin/New York, 1990, Sp. 1151-1154.

  • Headerfoto: Nussknacker (Sven Gielnik, l.) und Mausekönig (Joel Basman) / © MDR/RB/Christian Schulz

Ein Gedanke zu „Nussknacker und Mausekönig (D 2015): Traum & Wirklichkeit

  1. tan

    zuförderst:
    ich habe ihre webseite zufällig entdeckt – und bin sehr angetan.
    (aus zeitgründen will ich erstmal beim nussknacker bleiben.)
    überraschend sind mir vor kurzem die lesung des textes in der audiothek sowie das ddr-(kinder)buch zugefallen.
    also nun auch nochmal den film angesehen…
    bislang hatte ich kaum kritik an selbigem zu äußern. ihrer argumentation kann ich auch überwiegend folgen, wobei mich die darstellung des mausekönigs nicht so sehr gestört hat.
    was ich seit dem ersten sehen als problematisch empfunden habe, ist die besetzung von mala emde. (das bezieht sich ausdrücklich NICHT auf person und schauspielerische leistung.) das alter ihrer figur wurde für den film schon angehoben, aber dann hätte man m.e. eine darstellerin wählen sollen, die doch noch etwas kindlich wirkt. frau emde erscheint aber mit ihren damals 19 jahren noch reifer als sie tatsächlich war, und auch wenn sie das kindhafte durchaus erspielen kann, fehlt mir die optische glaubwürdigkeit, was ich sehr bedauere.
    dennoch halte ich diesen film für einen schönen – da generationsübergreifend funktionierenden – beitrag der reihe.
    tan

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