Das ARD-Märchen „Die drei Königskinder“ erzählt die Geschichte von drei ausgesetzten Babys überaus spannend – mit Zeitsprüngen, Rückblenden und Zwischentitel. Doch wie verständlich ist das für ein Publikum unter sechs Jahren?
Jeder kennt die Brüder Grimm, Ludwig Bechstein oder Wilhelm Hauff. Sie gehören zu den bekanntesten deutschen Märchensammlern und -dichtern – auch weil ihre Geschichten immer wieder verfilmt wurden und werden. Im Schatten dieser großen Namen hatten und haben es andere Erzähler mit ihren Märchen dagegen weitaus schwerer, damals wie heute gelesen oder sogar adaptiert zu werden. Mehr noch: Einige sind in unserer Zeit fast vergessen.
Dazu zählte bislang auch Johann Wilhelm Wolf (1817–1855). Der in Köln geborene sollte auf Wunsch des Vaters eigentlich Kaufmann werden. Doch interessierte er sich schon früh für Sagen und Märchen und sammelte diese fleißig. Unter dem Motto „Wer mit rechtem Ernst suchen will[,] der findet bald“ (Wolf 2016, S. 5) wanderte er Ende der 1840er-Jahre mit seinem Schwager, einem in Darmstadt stationierten Oberleutnant, durch den Odenwald.
„Deutsche Hausmärchen“ (1851) von Johann Wilhelm Wolf
Hier in dem südwestdeutschen Mittelgebirge zwischen dem Neckar im Süden, dem Main im Osten und der Oberrheinischen Tiefebene im Westen befragten die beiden systematisch dorthin verlegte Soldaten aus der Kompanie des Schwagers. Daneben zog es Wolf in die Bergstraße, die sich am Westrand des Odenwalds befindet, und trug ebenda Geschichten zusammen, die ihm Handwerker und fahrende Leute erzählten.
Die aufgeschriebenen Märchen veröffentlichte Wolf erstmalig 1851 unter dem Titel „Deutsche Hausmärchen“. Genau 165 Jahre später werden sie wiederentdeckt und erscheinen in „Die Andere Bibliothek“, einer bibliophilen Buchreihe, unter dem Titel „Verschollene Märchen. Gesammelt von Johann Wilhelm Wolf in Manier der Brüder Grimm“ (2016).Das Besondere: Ein Großteil der Geschichten erzählt – wen wundert’s – von Soldaten und ihren Träumen, Sehnsüchten und Schicksalen. Da ist oft vom heimlichen Desertieren, lustigen Trinkgelagen und schönen Prinzessinnen zu lesen. Als sich die ARD im Jahr 2019 für ein Wolf’sches Märchen entscheidet, sucht sich der Fernsehsender allerdings eine Geschichte ohne Soldaten, dafür mit royalem Nachwuchs aus: „Die drei Königskinder“.
Wovon handelt das Märchen „Die drei Königskinder“?
Darin heiratet ein Königssohn eine einfache Bauerntochter namens Marie – gegen den Willen seiner bösen Mutter. Sie macht der jungen Königin das Leben schwer und setzt deren Neugeborene an einem Fluss aus. Die drei Babys – ein Junge und zwei Mädchen – werden aber von einem Müllerpaar gerettet und in der Mühle aufgezogen.
Jahre später erfährt die böse Königin, dass die Geschwister noch leben und stiftet die drei von ihrer königlichen Herkunft Nichtsahnenden an, drei Wunderdinge zu finden: den Zweig vom Baum mit goldenen Früchten, den sprechenden Vogel und das springende Wasser. Das gelingt erst der jüngsten Schwester. Am Ende ist die fünfköpfige Königsfamilie wieder glücklich vereint und die böse Königinmutter landet im Kerker.
Der ARD-Märchenfilm „Die drei Königskinder“
Das dicht und straff erzählte Märchen eignet sich zwar eher für einen 90-minütigen Märchenfilm. Dennoch versucht das Autorinnenduo Barbara Miersch und Silja Clemens, die ereignisreiche Handlung im kompakten 60-minütigen ARD-Format „Sechs auf einen Streich“ unterzubringen – inklusive verschiedener Handlungsebenen und -orte.
Das mag nicht nur manche Drehbuchschreiberin vor eine schwierige Aufgabe stellen, sondern auch Kleinkinder beim Zuschauen überfordern. Vor allem dann, wenn der Märchenfilm „Die drei Königskinder“ ab 0 beziehungsweise ohne Altersbeschränkung freigegeben ist.
FSK ab 0 freigegeben/Freigegeben ohne Altersbeschränkung
Schon die durchaus atmosphärisch gelungene, aber doch etwas unheimliche Eingangssequenz (Kamera: Patrick Popow) macht das Dilemma deutlich: In einer Vollmondnacht stiehlt die in einem roten Umhang gewandete, böse dreinschauende Königin Eliza (gut gespielt von der Wiener „Tatort“-Kommissarin Adele Neuhauser) ein Baby aus einer Wiege.
Sie übergibt das Kind dem Hofdiener Corbinian (Rüdiger Vogler) mit den Worten „Ertränke es!“. Der bringt es nicht übers Herz und setzt das Baby in einem Weidenkorb im Fluss aus. Am Morgen wird das schreiende, aber unversehrt gebliebene Kind flussabwärts vom Gärtnerehepaar Emmi (Sonsee Neu) und Hans (Adam Bousdoukos) entdeckt, das es – wie seine anderen beiden Findelkinder Theo und Fritz – liebevoll bei sich aufnimmt und ihm den Namen Lotte gibt. Dann erscheint der Zwischentitel „12 Jahre später“… Laut der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), die das Alterskennzeichen für „Die drei Königskinder“ festgelegt hat, können allerdings „schon dunkle Szenarien, schnelle Schnittfolgen oder eine laute und bedrohliche Geräuschkulisse“ (FSK) Ängste bei Kleinkindern hervorrufen. Zwar wirkt die mehrfach ausgezeichnete Filmmusik von Mathias Rehfeldt sehr positiv dagegen, dennoch mag Kleinkinder gerade diese Sequenz ein wenig irritieren und ratlos zurücklassen. Dazu kommt, dass die meisten Kinder bis zum Alter von sechs Jahren den Zwischentitel gar nicht lesen können.
Zeitsprung und Rückblenden im ARD-Märchenfilm
Im Unterschied zur linearen Erzählweise der Märchenvorlage, in der die Ereignisse in einer zeitlichen Richtung ablaufen, setzt der ARD-Märchenfilm nach diesem Zeitsprung („12 Jahre später“) zudem auf viele Rückblenden, also ein „Filmsegment, das Ereignisse zeigt, die zeitlich vor der Handlungsgegenwart liegen“ (Lahde 2022). Freilich kann das mit dem Anspruch eines ‚modernen’, klugen Erzählkonzepts begründet werden. Dennoch ist auch hier zu hinterfragen, wie verständlich solch multilineares Erzählen für das jüngste Publikum am Ende ist.
Im Unterschied zur komplizierten Dramaturgie (Wie wird die Geschichte erzählt?) unterstützt die Inszenierung (Szenenbild: Oliver Munck, Ausstattung: Kerstin Nicklisch, Ingo Schlegel) das Filmerlebnis in bewährter, klarer Weise – und erlaubt sich hier und dort Reminiszenzen an vergangene Kunstepochen. Wenn der König Alexander (Florian Stetten) gedankenversunken im Wald auf einem Baumstamm sitzt und zufällig Lotte (Hedda Erlebach) trifft – beide wissen zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass sie Vater und Tochter sind –, dann erinnert das an Gemälde des frühen 19. Jahrhunderts.
Warum das Szenenbild an Caspar David Friedrich erinnert
Zum Beispiel an Caspar David Friedrichs (1774–1840) sinnend in die Ferne schauenden „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ (1818). Dessen Gesicht kennen wir nicht, weil er dem Betrachter den Rücken zuwendet, aber das Szenenbild reproduziert hier jene schwermütig-einsame Empfindsamkeit, die in Friedrichs Gemälden spürbar ist und im Märchenfilm mit der Traurigkeit Alexanders korrespondiert – der seine Frau Marie (Friederike Becht) und seine drei neugeborenen Kinder verloren hat.
Abgerundet wird das in dieser Szene noch mit den Kleiderfarben (Kostümbild: Bettina Marx) der beiden Figuren: Gelb (Lotte) und Blau (Alexander) stehen sich hier als Ergänzungsfarben gegenüber. Und: „Als Farbe des Lebens kontrastiert zu Gelb Blau, die Farbe des Todes“ (Marschall 2009, S. 68). Mit anderen Worten: Lotte erweckt König Alexander wieder zu neuem Leben, weil er in ihr auch seine verschwundene Frau zu erkennen glaubt und neuen Mut fasst.
Diese und andere Interpretationsangebote, hier auf das Szenen- und Kostümbild bezogen, potenzieren den Filmgenuss für ein ‚erwachsenes’ Publikum. Sie schmälern aber nicht das Filmerlebnis für ein ‚kindliches’ Publikum – wie noch das multilineare Erzählen mit Zeitsprüngen und Rückblenden –, obwohl es aufgrund seiner fehlenden (Lebens-)Erfahrungen und seines geringeren Wissensstands diese möglichen Bedeutungen noch nicht erkennen kann.
Verwandlungen, sprechende Tiere, Erlösungen
Ganz anders verhält es sich bei Verwandlungen oder sprechenden Tieren, die im Märchen für die Aufhebung der Natur- und Kausalgesetze stehen, und gerade Kinder faszinieren. Als sich die drei (Königs-)Kinder Theo (Maximilian Ehrenreich), Fritz (Caspar Kryzsch) und Lotte nacheinander auf den gefährlichen Weg zum Zauberberg machen, um den Vogel der Wahrheit nach ihren leiblichen Eltern zu fragen, nutzt der Märchenfilm die Palette digitaler Filmtricks (Visuelle Effekte: Rufin Wiesemann/Cine Chromatix).
Da entsteht am Computer ein märchenhafter „Umsteigepunkt“ (Schmitt 1993, S. 36), wenn die Kinder die unsichtbare ‚Grenze’ zum Zauberberg durchschreiten. Dort tut sich ihnen eine fantastische ‚Anderswelt’ aus, farblich ebenfalls am Computer bearbeitet. In dieser werden Menschen in Steine verwandelt und (animierte) Vögel können sprechen. Was für eine Märchenwelt!
Und: Hier schaffen es nicht etwa die älteren Brüder Theo und Fritz, sondern ihre jüngste, kluge Schwester Lotte – dank hilfreicher Tiere wie Katze und Falke –, die Prüfungen zu bestehen: den Mistelzweig vom goldenen Baum und das Wasser aus der Quelle des Lebens zu bekommen. Damit kann Lotte vom Vogel der Wahrheit (Stimme: Ronald Spiess) endlich erfahren, wie sie ihre Brüder entzaubern kann und wer ihre leiblichen Eltern sind …
Wer gehört zur Familie?
Sind in der Literaturvorlage von Wolf märchentypische Themen und Motive wie die böse Schwiegermutter (alte Königinmutter), abenteuerliche Wanderungen (Suche nach den drei Wunderdingen) oder Verlust und Trauer bestimmend, so rückt in der Verfilmung noch ein Aspekt hinzu: Wer gehört zur Familie? Sind es nur die leiblichen oder auch die Pflegeeltern? Wie gehen wir damit um, wenn plötzlich die leiblichen Eltern ‚ihre’ Kinder ‚zurückfordern’?
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Multikulti-WG in der Käseglocke: Das Märchen von den 12 Monaten (D 2019)
Der starke Hans (D 2020): Weniger Ideologie, mehr Fantasie!
Das Märchen vom goldenen Taler (D 2020): Hans Geiz, was nun?
Im Wolf’schen Märchen sitzen am Ende die „braven Müllersleut[e]“ (Wolf 2016, S. 138) – in der Verfilmung sind es Gärtnersleute – nicht beim „große[n] Gastmahl“ (ebd. S. 139) an der Tafel neben ihren jetzt ‚königlichen’ Pflegekindern und den leiblichen Königseltern. Sie fehlen und scheinen vergessen. Im ARD-Märchenfilm des 21. Jahrhunderts ist das anders, wie die Drehbuchautorinnen Barbara Miersch und Silja Clemens betonen:
In unserer Zeit, in der fast die Hälfte aller Kinder bei einem Elternteil oder in einer Patchwork-Familie aufwächst, ist es uns wichtig zu erzählen, dass Familie mehr bedeutet als nur die Herkunftsfamilie. Auch als Lotte ihre leiblichen Eltern gefunden hat, ist klar, dass die Gärtnereltern auch weiterhin ihre Familie sind. (rbb 2019)
Und deshalb wird am Schluss gemeinsam mit allen gefeiert. Ein märchenhaftes und zugleich ‚modernes’, zeitgemäßes Ende.
Film: „Die drei Königskinder“ (BRD, 2019, R: Frank Stoye). Ist auf DVD erschienen.
Drehorte:
- Archäopark Vogelherd, Am Vogelherd 1, 89168 Niederstotzingen, OT: Stetten ob Lontal
- Bauernhaus-Museum Allgäu-Oberschwaben Wolfegg, Vogter Straße 4, 88364 Wolfegg
- Hohenzollernschloss Sigmaringen, Karl-Anton-Platz 8, 72488 Sigmaringen
- Lichtung bei Schmeien, 72488 Sigmaringen
Verwendete Quellen:
- Busch, Wilhelm: Drei Königskinder. In: Ders.: Ut ôler welt. Märchen und Sagen. München, 1910. (abgerufen: 4.5.2022)
- FSK Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft GmbH: Alterseinstufungen und FSK-Kennzeichen. (abgerufen: 4.5.2022)
- FSK Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft GmbH: Freigabebescheinigung „Die drei Königskinder“ (abgerufen: 5.5.2022)
- Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005.
- Lahde, Maurice: Rückblende. In: Das Lexikon der Filmbegriffe (zuletzt geändert: 9.2.2022, abgerufen: 5.5.2022)
- Marschall, Susanne: Farbe im Kino. Marburg, 2009.
- rbb: 4 Fragen an … Drehbuchautorinnen: Barbara Miersch und Silja Clemens. In: Märchenfilm-Archiv (vom 21.10.2019, abgerufen: 6.5.2022)
- Schmitt, Christoph: Adaptionen klassischer Märchen im Kinder- und Familienfernsehen. Eine volkskundlich-filmwissenschaftliche Dokumentation und genrespezifische Analyse der in den achtziger Jahren von den westdeutschen Fernsehanstalten gesendeten Märchenadaptionen mit einer Statistik aller Ausstrahlungen seit 1954. Frankfurt am Main, 1993.
- Wolf, Johann Wilhelm: Die drei Königskinder. In: Ders.: Verschollene Märchen. Gesammelt von Johann Wilhelm Wolf in Manier der Brüder Grimm. Berlin, 2016, S. 133–139.
Headerfoto: Die drei Königskinder (D 2019): Die Titelfiguren Lotte (Hedda Erlebach), Fritz (Casper Krzysch) und Theo (Maximilian Ehrenreich) ahnen nichts von ihrer royalen Herkunft / © SWR/Patricia Neligan