Um das italienisch-französische Filmmärchen „Cenerentola ’80“ ranken sich bis heute Mythen. Denn die Aschenputtel-Adaption wird sowohl im Osten als auch im Westen synchronisiert – allerdings recht verschieden. Das Label capelight vereint jetzt DDR- und BRD-Fassungen in einer Sammler-Edition. Ein Vergleich gibt Antworten auf offene Fragen.
Als am 3. Januar 1986 der Musikfilm „Cinderella ’80“ erstmals im DDR-Fernsehen gezeigt wird, scheint es so, als hätte der Arbeiter-und-Bauern-Staat dem Westfernsehen diesmal ein Schnippchen geschlagen. Der Grund: Erst ein Jahr später, im Februar/März 1987, strahlt die ARD die italienisch-französische Koproduktion aus – als vierteilige Mini-Serie unter dem Titel „Cinderella ’87“. Das Filmmärchen über die Tochter eines italoamerikanischen Pizzabäckers, die sich in Rom in einen italienischen Prinzen verliebt, verzückt gleichermaßen in Ost und West die Zuschauer.
Da fast alle DDR-Bürger Mitte der 1980er-Jahre Westfernsehen empfangen können, schauen sich viele Ostdeutsche den Mehrteiler in der ARD noch einmal an. Ihnen fällt auf, dass die westdeutsche Fassung mit 180 Minuten nicht nur um 70 Minuten länger ist als die DDR-Spielfilmversion. Auch die Synchronisation unterscheidet sich von der Serie. Kein Wunder, denn das 1983 entstandene Original „Cenerentola ’80“ wird in Ost und West komplett neu geschnitten und mit eigenen Dialogfassungen versehen – die auch etwas über beide deutsche Staaten verraten.
Arabella und Cinderella: Susanne Uhlen spricht beide Rollen
In der DDR ist dafür das DEFA-Studio für Synchronisation verantwortlich. Der volkseigene Betrieb synchronisiert zwischen 1952 und 1989 über 7.000 Spielfilme bzw. Fernsehserien. Darunter zählen auch 1.770 Filme aus dem sogenannten nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW), zu dem die „Cinderella ’80“-Produktionsländer Italien und Frankreich gehören. In der BRD übernimmt der damalige Süddeutsche Rundfunk (SDR) die Synchronisation. Für die Sprechrolle der Hauptdarstellerin Cindy Cardone (Bonnie Bianco) wird die Schauspielerin Susanne Uhlen engagiert.Uhlen hatte ihre Stimme bereits einer anderen Märchenfigur geliehen: Arabella (Jana Nagyová) aus „Die Märchenbraut“ (ČSSR 1979-1981, „Die schöne Arabella und der Zauberer“). Auch Ekkehardt Belle, die deutsche Synchronstimme des männlichen Hauptdarstellers Mizio (Pierre Cosso) in „Cinderella ’87“, war in dieser tschechoslowakischen Fernsehserie zu hören: Er sprach die Rolle des Prinzen Willibald (Oldřich Vízner). Obwohl ebenso für „Die Märchenbraut“ eine DDR- als auch eine BRD-Sprachfassung existiert, sind die Unterschiede in „Cinderella“ ’80 und ’87 weitaus größer.
Worin besteht die Kunst der Synchronisation im Spielfilm?
Das macht ein grundlegendes Dilemma deutlich: Wie nah sind Synchronfassungen überhaupt am Original? Werden Dialoge aus politischen oder kommerziellen Gründen mehr oder weniger subtil geändert? Und was passiert mit den original Filmfiguren, wenn ihnen der Synchronautor andere Worte in den Mund legt? Für den Medienwissenschaftler Thomas Bräutigam besteht „[d]ie Kunst der Synchronisation […] darin, einerseits die Umgangssprache des Originals in ein flüssiges und obendrein ‚mundgerechtes‘ Deutsch zu verwandeln, das beim Publikum nicht als Übersetzung auffällt und andererseits die Intentionen der Originalfassung nicht zu verraten.“
Ein hehres Ziel, das auch für die Synchronfassungen von „Cinderella ’80/’87“ in Ost und West erreicht werden sollte. Beiden Versionen kommt zugute, dass die italienisch-französische Koproduktion vor allem ein Pop-Musical ist. Das heißt auch, dass der Musikanteil höher, der Dialoganteil geringer ist. Dennoch ist das gesprochene Wort nicht unwichtig; es kann Filmfiguren charakterisieren und diese dem Zuschauer emotional näherbringen oder auf Distanz halten. Der Zuschauer kann Filmfiguren deshalb anhimmeln und lieben oder ablehnen und hassen.
Wenig „English for you“: DDR-Stimmen sprechen fast kein Englisch
Dabei spielen kulturelle und politische Faktoren eine Rolle, die die Synchronisation eines Originalfilms beeinflussen und Figuren in der Wahrnehmung des Zuschauers verändern können. Zwar sprechen die DDR und die BRD dieselbe Sprache, dennoch unterscheidet sich in den 1980er-Jahren der Anteil des Englischen, zum Beispiel an den Schulen. In der DDR ist erste Fremdsprache Russisch. Dagegen ist Englischunterricht „fakultativ“, das bedeutet: Jeder kann die Sprache ab der siebenten Klasse lernen, muss aber nicht. In der BRD ist Englisch Pflichtfach.
Trotzdem ist das Prestige des Englischen besonders bei jungen Menschen in Ost und West enorm. Jeder will Mitte der 1980er-Jahre „cool“ sein. Die DDR sieht diese Entwicklung im eigenen Land kritisch, auch weil Englisch mit dem „Westen“ assoziiert wird. So verwundert es nicht, dass in der deutschen DEFA-Synchronfassung „Cinderella ’80“ wenige Anglizismen und englischsprachige Sätze vorkommen. Zwar kann es sein, dass bereits das italienisch-französische Original diese Richtung vorgibt, aber es fällt auf, dass die BRD-Version das Englische zelebriert.
BRD-Fassung mit US-Englisch, aber ohne italienische Flüche
Allerdings wirkt das nicht aufgesetzt, weil die Handlung zu einem Viertel im New Yorker Stadtteil Brooklyn spielt. Zudem sind ein Teil der Figuren US-Amerikaner mit italienischen Wurzeln, darunter die 18-jährige Cindy. Sie studiert an einer Kunsthochschule Gesang und Tanz. Dumm nur, dass sie von ihrer Stiefmutter Muriel (Kendal Kaldwell) und ihren Töchtern Carol (Edi Angelillo) und Liz (Leonie Forliti) drangsaliert wird. Nur ihr Vater, der Pizzabäcker Harry (Vittorio Caprioli), hält zu Cindy. Zusammen mit Stiefmutter und Stiefschwestern fliegt sie nach Rom.
In der westdeutschen Fassung kokettieren dort die vier Frauen damit, dass sie „Amerikanerinnen“ sind. Der etwas überspannten Stiefmutter wird besonders viel Englisch in den Mund gelegt („Get out!“, „I’m sorry!“, „Take it easy!“, „Oh, my God!“, „Thank you very much!“). Zudem fällt Cindy mit Kraftausdrücken auf („Son of a Bitch“) oder ihr wird ein „Joint“ angeboten. Die DDR-Version verzichtet auf so etwas. Sie hebt die Nationalität einer anderen Figur hervor und möchte damit authentisch wirken: Als sich der italienische Prinz Mizio, der inkognito die Welt umreist, auf dem New Yorker Flughafen mit einem Zigarettenautomaten anlegt, flucht er – auf Italienisch.
Cindy (Bonnie Bianco) und Mizio (Pierre Cosso) singen „Stay“
In der BRD-Sprachfassung ist er nur auf Deutsch genervt. In diesem Moment lernt Cindy „den Gammler“ (O-Ton West: Stiefmutter Muriel) Mizio kennen, der auch nach Rom fliegen will. Sie weiß nicht, dass es ein Prinz ist und freundet sich mit ihm an. In der Ewigen Stadt verlieben sich beide. Dort komponiert Mizio für Cindy einen Song. Als sie wissen möchte, wie das Lied heißt, entspinnt sich folgender Kurzdialog zwischen den beiden:
O-Ton OstCindy: „Wie willst du es nennen?“ – Mizio: „Ich werde es nennen […] Bleib.“
O-Ton West
Cindy: „Und wie nennst du es?“ – Mizio: „Ich nenne es … Stay … Bleib.“
Offenbar will die DDR-Fassung partout nicht den englischsprachigen Originaltitel „Stay“ nennen und übersetzt diesen nur ins Deutsche, obwohl der Song im Film zu hören ist. Zudem veröffentlicht das DDR-Plattenlabel AMIGA wenige Monate nach der Erstausstrahlung von „Cinderella ’80“ eine Quartett-Single von Hauptdarstellerin Bonnie Bianco. Unter den vier Titeln ist auch „Stay“, das Duett mit Mizio (Pierre Cosso), das beide im Film singen. Als die ARD am 8. März 1987 die letzte Folge ihrer vierteiligen Serie „Cinderella ’87“ sendet, ahnt der Sender noch nicht, dass er einen Nummer-eins-Hit spielt.
Duett führt vier Wochen die westdeutschen Single-Charts an
Am 9. März steigt die Ballade auf Platz elf der westdeutschen Media-Control-Charts ein. Nur eine Woche später stürmt der Song an die Spitze – und bleibt dort vier Wochen. Auch in den Jahres-Charts 1987 zählt „Stay“ zu den Top-Ten-Singles (Platz: 9). Obwohl Sprache und eben auch Filmmusik den Zuschauer emotional in das Geschehen ziehen und Figuren charakterisieren, sind es vor allem der Schnitt und die Montage der Einstellungen, die für die Geschichte im Kopf des Zuschauers verantwortlich sind. Eine Frage stellt sich hier für „Cinderella ’80/’87“ besonders:
Wie wirken sich die unterschiedlich langen Versionen in Ost und West auf die Figuren aus? Klar ist, dass die 180-minütige Fassung mehr Facetten einer Filmfigur zeigen kann als eine um 70 Minuten kürzere Version. Trotzdem müssen die fehlenden Szenen nicht unbedingt zu jenen gehören, die wichtige Eigenschaften einer Figur offenbaren. In der DDR-Synchronfassung, wie auch in der BRD-Version, zeigt sich am Beginn allerdings das Gegenteil: Cindys Vater erhält einen Anruf von seinem Anwalt: Irgendjemand hat Cindy in New York angezeigt.
Filmschnitt in Ost und West: emanzipierte Cindy, fechtender Mizio
Der Zuschauer erfährt den Grund vorerst nicht. Dennoch urteilt er über die Figur und fragt sich: Was hat Cindy angestellt? In der DDR-Version bleibt die Frage – wohl aus Gründen der Spielfilmlänge – unbeantwortet. In der BRD-Sprachfassung erfährt der Zuschauer viel später von Cindy selbst, dass sie einem „dämlichen Polizisten eine gescheuert“ hat, weil der sie „betatscht hat“. Der Polizist hat sie daraufhin angezeigt. Mit diesem Wissen wird der Zuschauer die Anzeige gegen Cindy ganz anders beurteilen, sie als emanzipierte Frau sehen, die sich zur Wehr setzt.
Auch Mizios Charakter erscheint mit Hilfe zusätzlicher Szenen facettenreicher: In der DDR-Version wird der Prinz als unabhängiger junger Mann dargestellt, der auf Adel und Establishment pfeift. Die BRD-Fassung zeigt den Fürstensohn widersprüchlicher: Zum Zeitvertreib fechtet er im Palast seiner Eltern mit seiner Mutter und pumpt sie um 12 Millionen Lira an. Nicht bloß das Fechten verweist auf seine adlige Herkunft (nur die Aristokratie hatte das historische Privileg, eine Waffe zu tragen), auch der Geldtransfer lässt Mizio in einem anderen Licht erscheinen.
Ist „Cinderella ’80/’87“ nur eine herzzerreißende Schmonzette?
Für den Zuschauer der westdeutschen Version ist er demnach ein junger Adelsspross, der die Vorzüge seiner Klasse nutzt, um zum Beispiel Instrumente für seine Musikband zu kaufen. Die zwei Beispiele machen deutlich, dass bestimmte Filmszenen durchaus das Potential haben, Filmfiguren mehrdimensionaler zu konstruieren. Das spricht für das Pop-Märchen „Cinderella ’80/’87“, dem sonst vorgeworfen wird, nur eine „[h]erzzerreißende Schmonzette [zu sein], die Aschenputtel in die 80er-Jahre verlegte.“ (Fernsehlexikon)
Literatur:
- Bräutigam, Thomas: Dialoge für Deutsche. In: Kolloquium 2004. Filmsynchronisation. Synchron-Nation Deutschland vom 18. bis 19. Juni 2004. Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin
- Reufsteck, Michael/Niggemeier, Stefan: Das Fernsehlexikon: Alles über 7000 Sendungen von Ally McBeal bis zur ZDF-Hitparade. München, 2005
„Cinderella ’80“ im DDR-TV (Quelle: Fernsehprogramm-Seiten von DDR-Tageszeitungen)
- Freitag, 03.01.1986 (20.55 bis 22.45 Uhr, DDR I)
- Montag, 06.10.1986 (20 Uhr, DDR I, „Film Ihrer Wahl“: In der Wunschsendung können Fernsehzuschauer aus fünf Vorschlägen ihren Favoriten wählen, darunter „Cinderella ’80“. Es ist nicht bekannt, ob der Film den ersten oder zweiten Platz (Sendetermin Freitag, 10.10.1986, 21.30 Uhr, DDR I) belegt hat.
- Mittwoch, 24.08.1988 (20 bis 21.50 Uhr, DDR I)
„Cinderella ’87“ im BRD-TV (Erstausstrahlung, Quelle: Zweitausendeins-Filmlexikon)
- Sonntag, 15.02.1987 (45 Minuten, ARD)
- Sonntag, 22.02.1987 (45 Minuten, ARD)
- Sonntag, 01.03.1987 (45 Minuten, ARD)
- Sonntag, 08.03.1987 (45 Minuten, ARD)
„Cinderella ’80“ im DDR-Kino: Erstaufführung unbekannt
„Cinderella ’87“ im BRD-Kino: kein Verleih
Cinderella ’80/’87 (I/F 1983)
Ultimate Collector’s Edition (5 DVDs)
Regie: Roberto Malenotti
Fassungen: DDR, BRD, Italienische Originalfassungen mit DDR- bzw. BRD-Untertiteln
Länge: ca. 510 Minuten
Label: capelight (VÖ: 27.11.2015)
Headerfoto: Bonnie Bianco als Cindy Cardone und Pierre Cosso als Mizio Gherardeschi in „Cinderella ’80/’87“ / © capelight
Dieser Beitrag wurde am 11. Februar 2020 aktualisiert.