Ein „unehrlicher“ Beruf im Märchenfilm: Das tapfere Schneiderlein

Ein „unehrlicher“ Beruf im Märchenfilm: Das tapfere Schneiderlein

Bei den Brüdern Grimm ist das tapfere Schneiderlein ein mutiger Held. Sein Handwerk galt dagegen lange als verdächtig. Im deutschen Märchenfilm wird es rehabilitiert.

Im Märchen lernen wir nicht nur Könige und Königinnen oder Prinzen und Prinzessinnen kennen: Die „Perspektive des Märchens“ (Freund 2005, S. 99), zum Beispiel in den Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen (KHM), wird vor allem durch das einfache Volk und seine Figuren, wie Handwerker, bestimmt.

Vom tapfern Schneiderlein (1857): Illustration von Ludwig Richter / Quelle: Grimm-Bilder Wiki

Vom tapfern Schneiderlein (1857): Illustration von Ludwig Richter / Quelle: Grimm-Bilder Wiki

Unter ihnen finden sich überproportional viele Schneider: teils in weniger bekannten Geschichten wie „Der Schneider im Himmel“ (KHM 35) oder „Der Riese und der Schneider“ (KHM 183), teils in populären Stücken wie „Tischchendeckdich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack“ (KHM 36) oder in „Das tapfere Schneiderlein“ (KHM 20).

Da ist es kaum zu glauben, dass das Schneider-Handwerk in der Geschichte eigentlich zu den „verfemten Berufsstände[n]“ (Rölleke 2010) zählt: Denn der Schneider war ein beruflicher Außenseiter und sah sich oftmals mit Vorurteilen konfrontiert.

Da er Tuche unkontrolliert und unbeobachtet – also in seiner eigenen Werkstatt – zu Kleidung nähte, wurde ihm vorgeworfen, er behalte mitunter etwas für sich selbst ein. So heißt es denn auch vorwurfsvoll in einem alten Sprichwort: „Dem Schneider ist viel unter den Tisch gefallen.“

Schneider-Handwerk nur für schwächliche Männer

Das waren keine attraktiven Begleitumstände für ein schlecht bezahltes Handwerk, das zudem als „weibisch“ (Werfring 2010) abgetan wurde. Denn das Schneidern gehörte bis ins Mittelalter zur „Hausarbeit der Frauen“ (Neumann 2007, Sp. 140) – und galt gemeinhin als ein Beruf für schwächliche Männer.

Vom tapfern Schneiderlein (1857): Die Titelfigur ärgert zwei Riesen / Quelle: Grimm-Bilder Wiki

Vom tapfern Schneiderlein (1857): Die Titelfigur ärgert zwei Riesen / Quelle: Grimm-Bilder Wiki

Diese könnten aufgrund ihrer Konstitution gar kein anderes Handwerk erlernen. So ist es letztlich kein Wunder, dass Schneider – mehr als andere männliche Handwerker – damals „der Kritik und dem Spott ihrer Mitmenschen ausgesetzt“ (ebd. Sp. 141) waren.

Im Märchen finden sich diese Kritikpunkte wieder und prägen das Bild des Schneiders bei den Grimms oder bei Ludwig Bechstein. Das lässt sich bereits im Titel des Schwankmärchens „Das tapfere Schneiderlein“ (Grimm) oder „Vom tapfern Schneiderlein“ (Bechstein) ablesen.

Die Endung (Diminutiv) -lein verweist auf eine kleine Person. Zudem hat er bei den Grimms ein „zartes Haupt“, ist „leicht und behend“, aber „schwach“. Bechstein beschreibt weniger seine Konstitution als sein Wesen: „faul“, doch „gut“.

Mit Mut und Witz das halbe Königreich und die Königstochter

Sowohl bei den Grimms als auch bei Bechstein erschlägt es sieben Fliegen auf einen Streich, die sich einmal an seinem Musbrot, ein anderes Mal an seinem Apfel laben wollen. Von seiner eigenen Tapferkeit ‚überrascht’, bestickt das Schneiderlein einen Gürtel oder beschriftet ein Brustschild mit „Siebene auf einen Streich!“ und zieht in die Welt hinaus. Dort nimmt es den ‚Kampf’ mit zwei Riesen, einem Einhorn, einem Wildschwein – und einem wortbrüchigen König nebst hinterhältiger Tochter auf.

In beiden Fassungen wird aus dem „lächerlichen Aufschneider“ (van der Kooi 2010, Sp. 216) ein Held, dem die Herzen der Leserinnen und Leser zufliegen: Denn er zeigt mit Mut und Witz, dass ebenso ein Schneider das halbe Königreich und die Königstochter zur Frau bekommen kann. Wenngleich er sich dabei mit „raffinierte[m] Lug und Trug gegen Wesen und Leute durchsetzt, die auch nicht besser sind als er […]“. (Rölleke 2010)

Doch wie adaptiert der deutsche Märchenfilm das „Tapfere Schneiderlein“? Greifen Drehbuchschreiber und Drehbuchschreiberinnen auf das historische Bild dieses Berufes zurück? Oder setzen die Adaptionen neue Akzente in der Figurenzeichnung, die weit von den Brüdern Grimm und Bechstein entfernt sind?

Das tapfere Schneiderlein (D 1941): „Dem Mutigen gehört die Welt“

Als im dritten Kriegsjahr 1941 „Das tapfere Schneiderlein“ erstmals als Tonfilm in die deutschen – und in die im Ausland von den Deutschen besetzten – Kinos kommt, inszeniert Drehbuchschreiber und Regisseur Hubert Schonger von Anfang an seinen Protagonisten als Identifikationsfigur. Gleichzeitig zitiert er aber zum Teil die (historisch verbürgten) Vorstellungsmuster, wenn das Schneiderlein (Hans Hessling) anfangs von der Stadtbevölkerung verspottet wird.

Das tapfere Schneiderlein (1941): Die Titelfigur wird ausgelacht und verspottet / Quelle: Stiftung Deutsche Kinemathek

Das tapfere Schneiderlein (1941): Die Titelfigur wird ausgelacht und verspottet / Quelle: Stiftung Deutsche Kinemathek


So ruft es eine Schar Kinder „Schneider, Schneider, meck, meck, meck!“ und für eine Bauersfrau (Hella Tornegg) – die ihm Mus verkauft – ist es nicht nur ein „schäbiger Ziegenbart“, sondern auch noch eine „schäbige Schneiderseele“, weil es ihre Ware für schlecht befindet. Als sich das Schneiderlein entschließt, gegen zwei Riesen zu kämpfen, die das Königreich bedrohen, trauen ihm die Bürger das nicht zu: „Spieß sie an der Nadel auf! Häng sie an dem Faden auf! Schlag sie mit der Elle!“ singen sie ironisch in einem Lied und lachen es aus.
Das tapfere Schneiderlein (1941): Die Filmhandlung spielt im Rokoko / Quelle: Stiftung Deutsche Kinemathek

Das tapfere Schneiderlein (1941): Die Filmhandlung spielt im Rokoko / Quelle: Stiftung Deutsche Kinemathek


Mitunter schimmert hier noch die Außenseitenrolle des Schneiders durch, wenn die Figur auf der Tonebene – mittels Sprache und Musik – charakterisiert wird. Doch werden solche intertextuellen Bezüge (historische Quellen) hier nicht nur wiederholt, sondern vielmehr mit einer neuen zeitgemäßen Grundintention verbunden: „Dem Mutigen gehört die Welt“, schreibt Schonger 1940 im Vorwort des Drehbuchs von „Das tapfere Schneiderlein“ – wer mag da noch an schwächliche Männer denken, die Frauenarbeit verrichten.

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): „Gegen feudale Unterdrücker“

Ganz anders in der DEFA-Verfilmung „Das tapfere Schneiderlein“ (1956) von Regisseur Helmut Spieß: Hier wird der Protagonist zum Schneidergesellen (Kurt Schmidtchen) herabgestuft und schuftet in der Werkstatt eines faulen Schneidermeister-Ehepaares (Fredy Barten, Ellen Plessow), das ihn „Knirps“ nennt und schlecht behandelt. Historische Vorstellungsmuster (Schneider als arme und schwächliche Außenseiter) werden in den Figuren des Ehepaares nicht zitiert. Im Gegenteil: Das Handwerker-Ehepaar ist gut genährt, beutet seinen Gesellen ungeniert aus – und personifiziert innerhalb einer marxistischen Klassentheorie den (bösen) Kapitalismus.

Das tapfere Schneiderlein (1956): Unorthodoxe (Fang-)Methoden / © MDR/Progress/Waltraut Pathenheimer

Das tapfere Schneiderlein (1956): Unorthodoxe (Fang-)Methoden / © MDR/Progress/Waltraut Pathenheimer


Das tapfere Schneiderlein (1956): Die Titelfigur heiratet am Ende die Magd / © MDR/Progress/Waltraut Pathenheimer

Das tapfere Schneiderlein (1956): Die Titelfigur heiratet am Ende die Magd / © MDR/Progress/Waltraut Pathenheimer


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TV-TIPP
Das tapfere Schneiderlein (1956): Sonntag, 5. Dezember 2021 (2. Advent) um 14.10 Uhr im MDR.

In der Figur des DDR-Schneiderleins finden sich die Muster wieder: klein, schwächlich, arm – und durchaus Außenseiter, wenn auch nur in den Mikrokosmen Schneiderwerkstatt und Königshof. Spott und Anfeindungen muss es von den Angehörigen seiner sozialen (= werktätigen) Schicht nicht fürchten. Mehr noch: Nachdem das Schneiderlein die Riesen besiegt und Einhorn sowie Wildschwein gefangen hat, wird es zum „Volkshelden gegen feudale Unterdrücker“ (Richter-de Vroe 1990, S. 21) stilisiert. König, Prinzessin und Adel suchen folgerichtig das Weite.

Das tapfere Schneiderlein (BRD 2008): Keine historischen Vorstellungsmuster

Auch der ARD-Märchenfilm „Das tapfere Schneiderlein“ von Christian Theede zitiert bildlich den kleinen, schwächlichen, armen Protagonisten, der im Schneidersitz auf dem Tisch in seiner Werkstatt hockt und wie bei den Grimms „aus Leibeskräften“ näht. Doch im Gegensatz zu den anderen Adaptionen sieht sich das Schneiderlein (gespielt vom nur 1,70 Meter kleinen Kostja Ullmann) weder mit Anfeindungen eines Schneidermeister-Ehepaares konfrontiert (es ist wieder selbstständig), noch wird es von seiner Außenwelt (zum Beispiel seinem Heimatort) verspottet oder diskriminiert.

Das tapfere Schneiderlein (2008): Der mutige Held hat das wilde Einhorn gefangen / © NDR/Susanne Dittmann

Das tapfere Schneiderlein (2008): Der mutige Held hat das wilde Einhorn gefangen / © NDR/Susanne Dittmann


Das tapfere Schneiderlein (2008): Am Ende darf der Held die schöne Prinzessin heiraten / © NDR/Susanne Dittmann

Das tapfere Schneiderlein (2008): Am Ende darf der Held die schöne Prinzessin heiraten / © NDR/Susanne Dittmann


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TV-TIPP
Das tapfere Schneiderlein op Platt (2008): Samstag, 25. Dezember 2021 um 5.10 Uhr im NDR.
Das tapfere Schneiderlein (2008): Samstag, 25. Dezember 2021 um 11.15 Uhr im ERSTEN.

Das heißt auch, dass historische Vorstellungsmuster über den Schneider (verfemter Beruf) heute nur noch eine geringe Rolle spielen – offenbar, weil diese intertextuellen Bezüge auf Vorwissen zurückgreifen würden, das bei den Zuschauerinnen und Zuschauern nicht mehr vorhanden ist. Das heißt nicht, dass originelle Einfälle keinen Platz haben. So haben die Drehbuchschreiber Leonie und Dieter Bongartz ihrem tapferen Schneiderlein den Vornamen David gegeben – gleich dem tapferen Hirtenjungen David aus der Bibel, der den Riesen Goliath besiegt …

Filme:

  • „Das tapfere Schneiderlein“ (D, 1941, R: Hubert Schonger). Ist auf VHS/DVD erschienen.
  • „Das tapfere Schneiderlein“ (DDR, 1956, R: Helmut Spieß). Ist auf VHS/DVD erschienen.
  • „Das tapfere Schneiderlein“ (BRD, 2008, R: Christian Theede). Ist auf DVD erschienen.

Weitere Verfilmungen:

  • „Das tapfere Schneiderlein“ (D, 1921, R: [unbekannt]). Gilt als verschollen.
  • „Das tapfere Schneiderlein“ (DDR, 1960, R: Kurt Rabe). Ist nicht auf VHS/DVD erschienen.
  • „Die Geschichte vom tapferen Schneiderlein“ (DDR, 1968, R: Gisela Schwarz-Marell). Ist nicht auf VHS/DVD erschienen.
  • „Das tapfere Schneiderlein“ (DDR, 1981, R: Uwe-Detlev Jessen). Ist noch nicht auf VHS/DVD erschienen.
  • „Das tapfere Schneiderlein“ (auch: „Sieben auf einen Streich“, BRD/ČSSR/I/F/E, 1988, R: Dušan Trančik). Ist auf VHS/DVD erschienen.

Verwendete Quellen:

  • Bechstein, Ludwig: Vom tapfern Schneiderlein. In: Sämtliche Märchen. Vollständige Ausgabe der Märchen Bechsteins nach der Ausgabe letzter Hand unter Berücksichtigung der Erstdrucke. Mit 187 Illustrationen von Ludwig Richter. Mannheim, 2011, S. 7–15.
  • Brüder Grimm: Das tapfere Schneiderlein. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 1, S. 127–136.
  • Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005
  • Grimm-Bilder Wiki: Das tapfere Schneiderlein (Illustrationen). (abgerufen: 30.11.2021)
  • Kooi, Jurjen van der: Tapferes Schneiderlein. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 13, Berlin/New York, 2010, Sp. 210–219.
  • Neumann, Siegfried: Schneider. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 12, Berlin/New York, 2007, Sp. 140–145.
  • Richter-de Vroe, Klaus: Zwischen Wirklichkeit und Ideal. In: Berger, Eberhard/Giera, Joachim (Hrsg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin, 1990, S. 15–23.
  • Rölleke, Heinz: Außenseiter in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. In: Lox, Harlinda/Vogt, Renate (Hrsg.): Abenteuer am Abgrund. Außenseiter im Märchen. Forschungsbeiträge aus der Welt der Märchen. Krummwisch, 2010
  • Werfring, Johann: Museumsstücke. Schneider, Schneider, meck, meck meck …. In: Wiener Zeitung, Beilage: ProgrammPunkte, S. 7, 10.6.2010 (abgerufen: 30.11.2021)


Headerfoto: Das tapfere Schneiderlein (BRD 2008): Die Titelfigur (Kostja Ullmann) mit den Kriegsherren / Foto: NDR/Susanne Dittmann

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