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Läuterung im Märchenfilm: Des Kaisers neue Kleider (D 2010)

Läuterung im Märchenfilm: Des Kaisers neue Kleider (D 2010)

In der ARD-Adaption des Märchens von Hans Christian Andersen zeigt sich ein unberechenbarer Kaiser überraschend einsichtig – und das ganz ohne Revolution.

Als Hans Christian Andersen im April 1837 eines seiner ersten Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ veröffentlicht, erkennt der Leser bereits hier die „feine, kritische Ironie“ (Freund 2005, S. 73) des dänischen Dichters.

In der Geschichte von einem Kaiser, „der hübsche neue Kleider so über die Maßen liebte, daß er all sein Geld dafür ausgab“ (Andersen 2012, S. 108) und auf zwei Betrüger hereinfällt, mahnt Andersen nicht nur eine kritische Reflexion von Meinungen und Standpunkten an. Vielmehr stellt er auch Feigheit und fehlenden Mut der Beteiligten bloß, sich ehrlich der Realität zu stellen.

„Aber er hat ja gar nichts an!“

Dabei macht Andersen einen kleinen, aber wichtigen Unterschied: Die Kritik bezieht sich auf den menschlichen Umgang im Allgemeinen, weniger gegen den Herrscher selbst. Zwar wird der selbstverliebte Kaiser der Lächerlichkeit preisgegeben, als erst ein kleines Kind und zuletzt das ganze Volk ruft: „Aber er hat ja gar nichts an!“ (ebd. S. 113).

Des Kaisers neue Kleider: Vilhelm Petersen und Lorenz Frølich illustrieren das Märchen / Quelle: Winkler-Verlag

Des Kaisers neue Kleider: Vilhelm Petersen und Lorenz Frølich illustrieren das Märchen / Quelle: Winkler-Verlag


Doch der aus bettelarmen Verhältnissen kommende Andersen hat der Monarchie viel zu verdanken: So finanziert der dänische König Friedrich VI. nicht nur seine Ausbildung, sondern überweist dem Dichter ab 1837 jährlich 400 Reichstaler – offene Kritik verbietet sich deswegen.

Der Herrscher im Volks- und Kunstmärchen

Dabei gehen Kunstmärchen, zu denen auch Andersens Geschichten gehören, durchaus kritischer mit Königen und Kaisern um als Volksmärchen: Der „familiär-provinzielle“ Charakter des Herrschers im Volksmärchen weicht einem kritischen Umgang mit den Machthabern.

Im Kunstmärchen erfahren Könige und Kaiser oftmals nur noch Anerkennung, wenn sie „soziales Mitgefühl“ (Freund 2005, S. 97) erkennen lassen: Die ARD-Adaption „Des Kaisers neue Kleider“ von 2010 greift das auf, wenn der Herrscher am Ende einsieht, dass sein Regierungsstil das Land in Not und Armut stürzt.

Sozialkritische Generalüberholung

Der Märchenfilm in der Regie des Finnen Hannu Salonen („Tatort“, „Polizeiruf 110“) entfernt sich damit zwar von Andersens Grundintention, doch ist der Schritt notwendig, um ein paar erzählerische Schwächen der Vorlage Film adäquat auszufabulieren.

Autor David Ungureit, der kurz zuvor bereits für die ARD-Adaptionen „Die Bremer Stadtmusikanten“ (2009, R: Dirk Regel), „Tischlein deck dich“ (2008) und „Rumpelstilzchen“ (2009, beide R: Ulrich König) die Drehbücher schrieb, verpasst der Verfilmung eine sozialkritische Generalüberholung – welche die Vorlage intelligent ergänzt, aber nicht komplett umschreibt.

Kaiser Friedhelm ist weder böse noch gut

So verweist bereits der Name des Prunk süchtigen Kaisers (gespielt von Matthias Brandt) auf einen doch guten Charakter: Er hört auf den Namen Friedhelm, der sich aus den althochdeutschen Wörtern „fridu“ (= Frieden, Sicherheit) und „helm“ (= Helm, Schutz) zusammensetzt – und positive Assoziationen weckt.

Mit dieser Namenswahl wird die Figur des Kaisers als sogenannter „offen konzipierter Typ“ (Faulstich 2013) in die Handlung eingeführt, die während des Films ihren Charakter und ihre Einstellung ändert: Sie ist weder eindeutig böse noch eindeutig gut, sondern nur widersprüchlich in ihrem Verhalten.

Prunksucht hat drastische soziale Folgen

Er gibt viel Geld für neue Kleider aus – und vergisst dabei die Verantwortung gegenüber seinem Volk. Heißt es bei Andersen noch: „Er machte sich nichts aus seinen Soldaten, machte sich nur etwas aus Theater oder Spazierfahrten im Walde, weil er dann seine neuen Kleider zeigen konnte“ (Andersen 2012, S. 108), so hat seine Sucht nach prächtigen Roben im Film drastische Folgen und wird sozialkritisch zugespitzt.

Seine Untertanen müssen hungern, weil alle Steuern in die Produktion von Stoffen investiert werden. Friedhelm als Miniaturausgabe eines absolutistischen Herrschers interessiert das nicht.

Jakob will Kaiser mit Mut und Witz vorführen

Da kommt der junge Jakob (Sergej Moya) zufällig in die Stadt, in der Kaiser Friedhelm residiert. Er trifft die Näherin Maja (Alissa Jung) mit ihrer zehnjährigen Schwester Greta (Audrey von Scheele) und hört erstmals vom Lebensstil des Kaisers – und den Folgen für das einfache Volk.

Mutiges Trio: Jakob (Sergej Moya), Greta (Audrey von Scheele), Maja (Alissa Jung) / © WDR/Frank Schirrmeister

Mutiges Trio: Jakob (Sergej Moya), Greta (Audrey von Scheele), Maja (Alissa Jung) / © WDR/Frank Schirrmeister


Jakob beschließt, daran etwas zu ändern – zusammen mit den beiden Schwestern. Im Hinblick auf das Figurenensemble geht die Adaption hier neue Wege, denn bei Andersen sind es „zwei Betrüger“ (ebd. S. 108), die sich als Weber ausgeben und die Prunksucht des Kaisers für ihren Plan nutzen.

Bessere Verteilung des Wohlstands

In der Vorlage wollen sich die zwei Gauner nur selbst bereichern, als sie vorgeben einen Stoff für Kleider zu weben, die „für jeden Menschen unsichtbar blieben, der nicht für sein Amt tauge oder auch ungebührlich dumm sei“ (ebd.)

Berühmter Drehort: Greta (Audrey von Scheele) und Maja (Alissa Jung) im Neuen Palais / © WDR/Frank Schirrmeister

Berühmter Drehort: Greta (Audrey von Scheele) und Maja (Alissa Jung) im Neuen Palais / © WDR/Frank Schirrmeister


Im Märchenfilm steht aber nicht die materielle Bereicherung von Jacob, Maja und Greta im Vordergrund, sondern die Umerziehung des Kaisers und bessere Verteilung des Wohlstands. Dabei figurieren die drei ‚ehrlichen Betrüger’ auch als sympathische Identifikationsfiguren fürs Publikum, als sie vorgeben, ein einmaliges Gewand zu schneidern.

Psychologie der Farbwahrnehmung

Der naive Kaiser ist entzückt und ahnt nichts von Jakobs wahren Absichten. Um im Film eine charakterliche Entwicklung des Kaisers zum Guten zu ermöglichen, wird ihm mit der Figur der Hofschneiderin Adele (Catherine Flemming) ein negativer Charakter zur Seite gestellt – die auch zur Gegenspielerin von Jakob, Maja und Greta aufgebaut wird.

Hofschneiderin: Das Schwarz verweist auf ihren bösen Charakter (Catherine Flemming) / © WDR/Frank Schirrmeister

Hofschneiderin: Das Schwarz verweist auf ihren bösen Charakter (Catherine Flemming) / © WDR/Frank Schirrmeister


Die Hofschneiderin – in Schwarz gekleidet, das in der Psychologie der Farbwahrnehmung auch mit Macht und Bosheit assoziiert wird – profitiert von der Prunksucht des Kaisers und sieht ihre Stellung in Gefahr.

‚Kultur des Mundhaltens’ regiert im Kaiserreich

Mit der Hofschneiderin wird deutlich, dass nicht der Kaiser allein, sondern der gesamte Hofstaat mit Dienern, Beamten und Ministern für den Zustand des Landes verantwortlich sind und diesen mittragen – teils aus eigenem Sicherheitsdenken, teils aus Angst vor den Folgen.

Denn unliebsame Kritiker steckt der ebenso unberechenbare Kaiser Friedhelm gern in den Kerker. Diese ‚Kultur des Mundhaltens’ könnte durch den kaiserlichen Berater und Finanzminister aufgebrochen werden: Heinrich (Manfred Böck) traut sich, dem Kaiser zu widersprechen.

Verstand und Klugheit

Doch Friedhelm lässt Heinrichs Kritik abprallen und verweist auf seine Repräsentationspflicht als Kaiser – die er nur mit neuen Kleidern befriedigt sieht. Gleichzeitig vertraut der Herrscher aber seinem Minister und spricht ihm Verstand und Klugheit zu.

Sonnenbad: Diener Heinrich (Manfred Böck, r.) berät Kaiser Friedhelm (Matthias Brandt) / © WDR/Frank Schirrmeister

Sonnenbad: Diener Heinrich (Manfred Böck, r.) berät Kaiser Friedhelm (Matthias Brandt) / © WDR/Frank Schirrmeister


Aus diesem Grund schickt er ihn zu Jakob, Maja und Greta, um zu erfahren, wie das neue Gewand ausschaut – doch er sieht nichts. Aus Angst, als dumm und seines Amtes unwürdig zu gelten, ‚spielt’ Heinrich mit und beschreibt dem Kaiser – wenn auch stotternd, eines Betruges bewusst – das edle Gewand in blumigen Worten.

Alle schwärmen von den neuen Kleidern

Hier zeigt sich, dass auch er nicht in der Lage ist, etwas zu verändern. Demnach reichen „[s]ogar Verstand und gute Amtsführung […] nicht aus, um sein Amt wirklich gut zu erfüllen, wenn sie nicht von kritischer Reflexion und Selbstreflexion […] getragen werden“ (Buchinger 2000).

Tag der Wahrheit: Kaiser Friedhelm (Matthias Brandt) sieht nur leere Robenständer / © WDR/Frank Schirrmeister

Tag der Wahrheit: Kaiser Friedhelm (Matthias Brandt) sieht nur leere Robenständer / © WDR/Frank Schirrmeister


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Als Jakob dem Kaiser das neue Gewand präsentiert, fehlen nicht nur dem Hofstaat, auch dem Herrscher selbst die Worte: Da sich keiner der Anwesenden – auch der Kaiser – als dumm outen möchte, schwärmt jeder von den neuen Kleidern. Jakobs Plan scheint aufzugehen.

„Du bist nackt!“

An seinem Geburtstag führt der Kaiser in einer Parade sein neues außergewöhnliches Gewand vor – und steht nur in (unschuldig!) weißen Unterhosen vor seinen staunenden, aber erst einmal brav klatschenden Untertanen. Doch als ein Kind aus dem Volk lachend ruft: „Du bist nackt!“ kippt die feierliche Stimmung.

Bei Andersen endet das Märchen, indem der Kaiser die feierliche Prozession einfach durchsteht. Doch die versteckte Botschaft des Kunstmärchens „Des Kaisers neue Kleider“ – menschliches Handeln kritisch zu reflektieren – wird in der filmischen Adaption offen gelegt.

Kaiser Friedhelm wird überrumpelt

Dem Kaiser wird bewusst, dass sein Hofstaat nur ein Heer von Jasagern und Speichelleckern ist. Dass er durch seine repressive und auf Angst und Schrecken basierte Politik nicht ganz unschuldig daran ist, bleibt aber im Dunkeln – ein Manko in der Adaption. Vielmehr werden ihm die Folgen seiner Kleidersucht für sein notleidendes Volk noch einmal bewusst gemacht.

Jakob und Maja nutzen den Moment, um zu verkünden, dass ab sofort niemand mehr hungern muss und alle Gefangenen frei gelassen werden. Der überrumpelte Kaiser ist erst irritiert, willigt aber ein – und scheint geläutert. Hans Christian Andersen hätte sich das nicht getraut.

Film: „Des Kaisers neue Kleider“ (BRD, 2010, R: Hannu Salonen). Ist auf DVD erschienen.

Drehorte: u. a.

  • Neue Kammern, Park Sanssouci, 14469 Potsdam
  • Neues Palais, Am Neuen Palais, 14469 Potsdam
  • Schlossgarten Charlottenburg, Spandauer Damm 10–22, 14059 Berlin

Verwendete Quellen:

  • Andersen, Hans Christian: Des Kaisers neue Kleider. In: Ders.: Sämtliche Märchen. Vollständige Ausgabe. Aus dem Dänischen von Thyra Dohrenburg. Mit Illustrationen von Vilhelm Petersen und Lorenz Frølich. Mannheim, 2012, S. 108–113.
  • Buchinger, Kurt: Des Kaisers neue Kleider oder – die hohe Kunst der Beratung. In: Freie Assoziation 3 (3), 2000, Psychosozial-Verlag Gießen (abgerufen: 30.9.2021)
  • Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. 3., aktualisierte Auflage überarbeitet von Ricarda Strobel. Paderborn, 2013
  • Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005


Headerfoto: Des Kaisers neue Kleider: Schauspieler Matthias Brandt (Friedhelm der Fesche) in der Titelrolle / Foto: WDR/Frank Schirrmeister