Der ARD-Märchenfilm erzählt die Geschichte eines jungen Paares, das sich gegen böse Mächte behauptet. Dabei ist es Goethe zu verdanken, dass das Märchen überhaupt entstand.
Ausgerechnet Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) soll seinen Studienfreund Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) ermuntert haben, einen autobiografischen Roman zu schreiben. Jung-Stilling, heute nahezu vergessen, war seinerzeit ein populärer Selfmademan mit allerlei Interessen. Nicht nur, dass er sich vom einfachen Schneidersohn zum Professor für Finanz- sowie Staatswissenschaften hocharbeitete. Er hatte auch ein Talent zum Erzählen.Der erste Band seiner Lebensgeschichte „He[i]nrich Stillings Jugend“ (1777) wäre wohl nie so bekannt geworden, wenn sie nicht auch ein veritables Märchen enthalten hätte. Heinrich berichtet, wie ihm bei einem Waldspaziergang seine Tante die Geschichte von „Jorinde und Joringel“ erzählt. Von der „anrührenden Liebesgeschichte“ (Uther 1993, Sp. 633) hören Jahre später auch die Brüder Grimm – und nehmen das Märchen 1812 nahezu wortwörtlich in die Erstausgabe ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ auf.
Worum geht es in dem Märchen?
Das Liebespaar Jorinde und Joringel verirrt sich in einem Wald und gerät in die Fänge einer Zauberin, die jeden bannt, der sich zu nah an ihr Schloss wagt. Sie verwandelt Jorinde in eine Nachtigall und prophezeit Joringel, dass er seine Geliebte niemals wiedersehen wird.
Später träumt er von einer Zauberblume, mit deren Hilfe er in das Schloss eindringt und alles entzaubert, was er mit ihr berührt. Tatsächlich findet er die Blume und erlebt all das, was ihm im Traum vorausgesagt wurde. Er entzaubert aber nicht nur Jorinde, sondern auch tausende Mädchen, welche die Hexe als Vögel in Käfigen gefangen hielt.
„Jorinde und Joringel“ viermal verfilmt
Dass die „feine, romantische Erzählung“ (Scherf 1982, S. 219) bisher nur viermal in Deutschland verfilmt wird – als Scherenschnittfilm (D, 1920, R: Toni Raboldt), Puppentrickfilm (DDR, 1958, R: Jan Johannes Hempel) und Schauspielerfilm („Der Nachtigallenwald“, DDR, 1969, R: Harry Erlich; 1986, R: Wolfgang Hübner) – mag auch daran liegen, dass die Vorlage so gar nicht in das klassische Grimm’sche Märchenmuster passen will.
So finden sich unter den Figuren weder mutige Prinzen noch böse Stiefmütter. Und auch die grausame Bestrafung böser Charaktere bleibt letztlich aus. In „Jorinde und Joringel“ steht ganz klar eine Liebesbeziehung im Vordergrund. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Zudem konzentriert sich das Märchen auf Motive, wie „Verwünschungen und Verzauberungen, durch die der Mensch seine Identität verliert“ (Freund 2005, S. 94).
ARD-Märchenfilm für „Sechs auf einen Streich“
Hierauf setzt auch die letzte Verfilmung des Märchens in der Regie von Bodo Fürneisen. In der ARD-Adaption von 2011, für die „Sechs-auf-einen-Streich“-Reihe produziert, wird nicht nur das Figurenensemble erweitert, sondern auch die Zauberblume mit gegensätzlichen magischen Kräften ausgestattet: Sie bringt Glück und Unglück zugleich.
Der Bruch mit der einseitigen positiven Bedeutung der Blume als „Helfer oder Schlüssel zum Glück“ (Meinel 1979, Sp. 484) geht einher mit einer ebenso ausdifferenzierten Zeichnung der Charaktere im Märchenfilm, die beispielsweise – wie im DEFA-Märchenfilm von 1986 – das Verhalten der bösen Figuren hinterfragt. So werden in der ARD-Verfilmung die wahren Motive der Zauberin (Katja Flint) erkennbar.
Rahmenhandlung im ARD-Märchenfilm
Die Drehbuchschreiber Olaf Winkler und Nicolas Jacob beginnen ihre Adaption mit einer Rahmenhandlung: An einem Sommertag, an dem das gleißende Licht der Sonne durch die Blätter der Bäume fällt, zeigt ein alter Mann auf ein Herz. Es ist in eine Baumrinde eingeritzt. Und in dem Herz stehen die Initialen JO + JO: Jorinde + Joringel. Der alte Mann ist Joringel …
Mit dem Herz-Symbol wird schon in den ersten Einstellungen das Liebes-Motiv in den Mittelpunkt gerückt – im Gegensatz zum Beginn der Vorlage („Es war einmal ein Schloss mitten in einem großen dicken Wald“), die anfangs „alle Beigaben einer Schauergeschichte“ (Uther ebd.) enthält.
„Schwarzes Schaf“ in einer Adoptivfamilie
In einer Rückblende erfährt das TV-Publikum, was es mit dem alten Mann, dem Herzen und den Initialen auf sich hat: Der junge Joringel (Jonas Nay) lebt als Knecht und Schafhirte bei einer vierköpfigen Familie, die ein Wirtshaus betreibt. Zu der gehört auch das Mädchen Jorinde (Llewelly Reichmann).
Beide sind ineinander verliebt – und haben deshalb ihre Initialen in die Baumrinde geritzt. Doch Jorindes Vater (Veit Stübner) hält wenig von Joringel. Für ihn ist er nur ein verspielter Taugenichts, der gern aus Jux auf einem schwarzen Schaf reitet, um seiner Jorinde ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern. Dabei wird auf das sprichwörtliche „schwarze Schaf“ der Familie angespielt.
Adoptivvater verbietet eine Hochzeit
Denn Joringel, dessen Eltern gestorben sind, verhält sich in seiner Adoptivfamilie sympathisch unangepasst – der ‚Außenseiter’ ruft immer wieder den Unwillen des Adoptivvaters hervor. Als Joringel ihn bittet, seine Tochter heiraten zu dürfen, verbietet er die Hochzeit der beiden.
Das Liebespaar flieht. Allerdings nehmen beide den Weg durch den Zauberwald, den die Menschen meiden, weil dort eine Zauberin ihr Unwesen treiben soll. In Gestalt einer Nachteule beobachtet sie die beiden bereits – bis sie in ihrer menschlichen Erscheinung als Zauberin das Mädchen Jorinde in eine Nachtigall verwandelt und Joringel im Wald allein zurücklässt.
Grimm’sche Hexe wird zur attraktiven Anti-Fee
Die noch bei den Grimms „alte krumme Frau (…) gelb und mager: große rote Augen, krumme Nase, die mit der Spitze ans Kinn reichte“ hat sich in ihrem Erscheinungsbild in eine attraktive Anti-Fee gewandelt (Kostüme: Dorothée Kriener): Rotes Haar und ein kühl-berechnendes Auftreten vervollkommnen ihre „dämonisch[e] Ausstrahlungskraft“ (Uther ebd.) besser als das Grimm’sche Figurenbild.
Da sie im Äußeren einer guten Fee, im Inneren aber einer bösen Hexe gleicht, bildet sie in der Adaption in ein und derselben Person ein „dualistisches Weltverständnis“ (Freund 2005, S. 105) ab – das sie umso gefährlicher erscheinen lässt. Dagegen orientieren sich die Motive für ihr Verhalten wieder am zentralen Motiv des Märchenfilms: die Liebe.
Zauberin wurde selbst von großer Liebe verlassen
Oder vielmehr an unerfüllter Liebe. Denn die Zauberin ist von der Liebe enttäuscht, weil sie einst von einem Ritter (Uwe Kokisch) wegen einer magischen Blume verlassen wurde – die ihm Macht und Reichtum sichert. Jetzt, viele Jahre später, sind beide verbittert und nicht mehr als zwei gebrochene Existenzen.
Der Ritter ist zum Raubritter degeneriert, der – mit Hilfe der Zauberblume – das Land in Angst und Schrecken versetzt und auf einer Burg haust. Und die Zauberin ist von Eifersucht und Neid innerlich zerfressen und hält hunderte von Mädchen in ihrem Schloss gefangen, die angeblich von ihren Männern verlassen wurden – so wie sie selbst vor vielen Jahren von ihrem Ritter.
Joringel muss drei Prüfungen bestehen
Doch das ‚Frauenhaus’, in dem die Mädchen aus Weidenzweigen Körbe flechten, ist kein Ort des Schutzes, sondern ein Gefängnis – das die Mädchen von ihren Liebsten trennt. So wie Jorinde von Joringel. Er erfährt, dass er sie mit Hilfe der Zauberblume retten kann, weil die Blume den Bannkreis des Schlosses durchbricht.
Jene Bannmeile ist im Film tricktechnisch als wabblige transparente Masse dargestellt (Visuelle Effekte: Olaf Skripczyk, Patricia Feldmann, Heinrich Maas). Die Zauberin will verhindern, dass Joringel in ihren Machtbereich gelangt und stellt Joringel vor drei Prüfungen. Die neu ins Drehbuch aufgenommenen Liebes-Tests für den jungen Mann orientieren sich nicht nur an der klassischen Zahlensymbolik des Märchens.
Liebes-Test: Treue, Reichtum, Glaube
Sie rücken auch hier das Liebes-Motiv in den Mittelpunkt: Zuerst beweist er Treue, wenn er der Verführung durch eine Gauklertochter (Leonie Renée Klein) widersteht. Er bleibt auch standhaft, als ihm Schätze und Reichtümer versprochen werden – wenn er dafür Jorinde vergisst.
Und er lässt sich nicht täuschen, als sich die Zauberin selbst in eine zweite Jorinde verwandelt und von ihm lossagt. Das hier verwendete Doppelgänger-Motiv kennt der Zuschauer zwar eher aus den romantischen Kunstmärchen E. T. A. Hoffmanns oder Hans Christian Andersens – doch gewinnt die Adaption mit solchen märchenhaften Ideen in ihrer Erzählstruktur.
Blume entfaltet gute und böse Kräfte
Joringel widersteht allen Versuchungen – und kann dem Raubritter die Zauberblume stehlen. Doch als er diese benutzt, um den Bannkreis des Schlosses zu durchbrechen, entfaltet sie nicht nur ihre positiven, sondern auch ihre negativen Kräfte: Der Bannkreis verschwindet, im selben Augenblick verliert Joringel seine Jugend und die Blume verdorrt.
Als Greis mit grauen Haaren erlöst er Jorinde auf dem Schloss der Zauberin und mit ihr alle anderen in Vögel verwandelte Mädchen – gibt Jorinde aber nicht seine wahre Identität preis. Als er wenig später wieder vor dem Baumstamm steht, in dem er das Herz mit den Initialen eingeritzt hat, schließt die Rahmenhandlung.
Zauberin und Raubritter vs. Jorinde und Joringel
Doch wahre Liebe versetzt bekanntlich Berge – oder, wie hier: lässt eine eben noch verdorrte Zauberblume wieder erblühen. Ihre blutrote Farbe ist ja auch ein Symbol „aktiver Liebe […], die Magie unschädlich werden lässt und Seelenkräfte erneuern hilft“ (Uther ebd.) – und Joringel die Jugend wiederbringt.
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Ein Wintermärchen über Nächstenliebe: Die Sterntaler (D 2011)
Gegen den blonden Strich gebürstet: Aschenputtel (D 2011)
Die zertanzten Schuhe (D 2011): Die Kunst des Dialogs im Märchenfilm
Die Zauberin und der Raubritter – das dramaturgische Gegenbeispiel zu Jorinde und Joringel – werden am Ende in Stein verwandelt. Und sind letztlich doch noch vereint, wenn auf der Schulter des Raubritters die Zauberin in ihrer Gestalt als Nachteule sitzt – gleich einem Mahnmal, dass Liebe doch stärker als Hass ist.
Film: „Jorinde und Joringel“ (BRD, 2011, Regie: Bodo Fürneisen). Ist auf DVD erschienen.
Drehorte:
- Burg Falkenstein, 06543 Falkenstein/Harz
- Burg Querfurt, 06268 Querfurt
- Gutspark Petzow, Fercher Straße, 14542 Werder (Havel) OT Petzow
- Stiftung Kloster und Kaiserpfalz Memleben, Thomas-Müntzer-Straße 48, 06642 Kaiserpfalz
Verwendete Quellen:
- Brüder Grimm: Jorinde und Joringel. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 1, S. 364–366.
- Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005
- Grimm-Bilder Wiki: Jorinde und Joringel (Illustrationen). (abgerufen: 30.3.2021)
- Meinel, Gertraud: Blume. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 2. New York/Berlin, 1979, Sp. 483–495.
- Scherf, Walter: Lexikon der Zaubermärchen. Stuttgart, 1982, S. 218f.
- Uther, Hans-Jörg: Jorinde und Joringel. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 7. New York/Berlin, 1993, Sp. 632–635.
Headerfoto: Jorinde und Joringel (2011): Llewelly Reichmann und Jonas Nay spielen die Hauptrollen / Foto: rbb/Arnim Thomaß