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Die Heimkehr des verlorenen Sohnes: Der Meisterdieb (D 2010)

Die Heimkehr des verlorenen Sohnes: Der Meisterdieb (D 2010)

Im ARD-Märchenfilm „Der Meisterdieb“ zeigt der Held nicht nur sein Können – die Adaption thematisiert vor allem erfrischend undidaktisch Eltern-Kind-Beziehungen.

Wie auch schon für „Das blaue Licht“ (2010, R: Carsten Fiebeler) wagt sich die ARD im selben Jahr mit „Der Meisterdieb“ an ein ebenso nicht so bekanntes Märchen der Brüder Grimm: Das erzählt von einem jungen Mann, der es mit einer ungewöhnlichen Berufswahl zum Meister seines Fachs gebracht hat. Er ist ein Meisterdieb.

Aber kein gewöhnlicher, sondern ein Robin Hood, der den Reichen nimmt und den Armen gibt. Als „ein reichgekleideter Herr“ (Brüder Grimm 1980, S. 389) kehrt er zu seinen bescheiden lebenden Eltern zurück, denen er Jahre zuvor davongelaufen war. Er fordert seinen Taufpaten, einen reichen Grafen, heraus und löst drei schwierige Aufgaben, die ihm dieser stellt – der Meisterdieb geht als dreifacher Sieger hervor.

Der Meisterdieb (DDR 1977): Klaus Piontek (1935–1998) spielt die Titelfigur / Quelle: MDR

Der Meisterdieb (DDR 1977): Klaus Piontek (1935–1998) spielt die Titelfigur / Quelle: MDR


Das Märchen wird 1977 vom staatlichen Filmstudio DEFA im Auftrag des Fernsehens der DDR verfilmt. Einen ersten Entwurf (Szenarium) schreiben damals Wera und Claus Küchenmeister, auf die Anfang der 1970er-Jahre auch die Idee für den TV-Märchenfilm „Der kleine und der große Klaus“ (DDR, 1971, R: Celino Bleiweiß) zurückgeht.

Ist der DEFA-Märchenfilm „Der Meisterdieb“ eine vielschichtige Komödie mit sozialkritischem Charakter, so setzt die ARD-Adaption zusätzliche Akzente: nicht nur die Beziehung zwischen dem Meisterdieb und seinen Eltern tritt in den Vordergrund, auch die Rolle des Grafen wird facettenreicher angelegt – als anfangs verständnisloser Vater einer heranwachsenden Tochter.

(K)eine Heimkehr des verlorenen Sohnes

Wenn der Meisterdieb als „Fremder“ (ebd.) in seine Heimat zurückkehrt, um seine Eltern wiederzusehen und sich ihnen zu offenbaren, erinnert das anfangs an das biblische Motiv vom verlorenen Sohn. Doch im Gegensatz zum Lukas-Evangelium, in dem der Sohn als Bettler und reuiger Sünder um Einlass ins Elternhaus findet, ist er bei den Grimms ein vornehmer Herr.

Und: Die Heimkehr des verlorenen Sohnes „im Habit des reichen Mannes“ (Drašček/Wagner 1990, Sp. 708) ist im ARD-Märchenfilm „Der Meisterdieb“ (R: Christian Theede) auch der Beginn einer Aufarbeitung der zerrütteten Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Sohn Robert (Max von Thun), der mittlerweile selbst eine eigene Familie hat.

Hoch zu Ross: Robert (Max von Thun) hat als Meisterdieb Karriere gemacht / © NDR/Susanne Dittmann

Hoch zu Ross: Robert (Max von Thun) hat als Meisterdieb Karriere gemacht / © NDR/Susanne Dittmann


Robert war – nach den Worten des Vaters Heinrich (Dietmar Mues) – klug, aber verschlagen, ein ungeratener Junge, der niemandem gehorchen wollte. Der Sohn fühlte sich von seinen Eltern und der Welt unverstanden – und lief im Streit davon. Jetzt ist er in der Heimat zurück – gibt sich aber vor seinen Eltern erst nicht zu erkennen.

Als der nichtsahnende Vater im Garten gerade einen Stamm mit einem Strohseil an einen Pfahl binden will, sagt der Alte: „Bäume muss man ziehen, solange sie jung sind.“ Robert entgegnet: „Es ist wie bei Eurem Sohn […] hättet Ihr den gezogen, wie er noch jung war, so wäre er nicht fortgelaufen; […]“.

Eltern des Meisterdiebs helfen ihrem Sohn

Die Drehbuchautoren Leonie und Dieter Bongartz nutzen dieses schon in der Grimm’schen Fassung enthaltene Zwiegespräch von Vater und Sohn über Erziehung, Freiheit und Disziplin: Doch in der Verfilmung ist es auch der Motor für die weitere Handlung.

Finden die Eltern in der Literaturvorlage erst wieder am Ende eine kurze Erwähnung, so will Robert in der Adaption vor allem deren Anerkennung erreichen – um die „Wunde in seinem Herzen“ zu heilen. Ist anfangs Unverständnis über den ‚Beruf’ des Sohnes zu spüren, so wandelt sich dieses bald in Unterstützung.

Prüfungen: Graf Gustav (Armin Rhode) stellt Robert (Max von Thun) drei Aufgaben / © NDR/Susanne Dittmann

Prüfungen: Graf Gustav (Armin Rhode) stellt Robert (Max von Thun) drei Aufgaben / © NDR/Susanne Dittmann


Denn die drei Aufgaben, die ihm Graf Gustav (Armin Rhode) stellt, bewältigt er auch mit der Hilfe von Mutter (Gitta Schweighöfer) und Vater. Als Robert sich erstmals als Meisterdieb beweisen und dafür das gut bewachte Leibpferd des Grafen stehlen soll, ist es die Mutter Svea, die ihm ein Fässchen mit süßem Wein beschafft.

Diesem mischt er einen Schlaftrunk bei, sodass er den bald schnarchenden Wachen das Pferd stehlen kann. Für die zweite Aufgabe, in der er dem gräflichen Ehepaar nachts unbemerkt das Bettlaken und zudem den Trauring der Gräfin Greta (Ann-Kathrin Kramer) entwenden soll, ist es wieder die Mutter, die ihn unterstützt: Sie kocht ihm rote Grütze.

„Du bist, der du bist – und das ist gut so!“

Diese braucht Robert, um Graf Gustav seinen ‚Tod’ vorzutäuschen. Als der ihn nachts, bei dem Versuch mit einer Leiter in das gräfliche Schlafzimmer zu gelangen, ‚erschießt’, ist es die rote Grütze der Mutter die als ‚Blutspur’ für Authentizität sorgen soll. Der Plan geht auf. Graf Gustav fällt auf die List herein und Robert geht auch hier als Sieger hervor.

In der dritten Aufgabe, in der der Meisterdieb sowohl den Pfarrer Rafael (Fritz Roth) als auch den Küster Gabriel (Andreas Schröders) aus der Kirche stehlen soll, hilft ihm nicht nur die Mutter – sondern auch der Vater. Beide sammeln Krebse, die der Sohn zum Lösen der dritten Aufgabe braucht.

Unterstützung: Vater (Dietmar Mues) und Mutter (Gitta Schweighöfer) helfen dem Sohn / © NDR/Susanne Dittmann

Unterstützung: Vater (Dietmar Mues) und Mutter (Gitta Schweighöfer) helfen dem Sohn / © NDR/Susanne Dittmann


Vater-Sohn-Beziehung: Heinrich (Dietmar Mues) ist stolz auf Robert (Max von Thun) / © NDR/Susanne Dittmann

Vater-Sohn-Beziehung: Heinrich (Dietmar Mues) ist stolz auf Robert (Max von Thun) / © NDR/Susanne Dittmann


In der Szene, in der der Vater seinem Sohn die Krebse überbringt, spricht er ihm endlich die emotionale Anerkennung („Ich bin stolz auf dich“) aus, die sich Robert gewünscht hat. Die Versöhnung zwischen beiden, drückt sich zudem im Lob des Vaters für ihn aus:

„Du bist, der du bist – und das ist gut so!“ – auch wenn er ein Dieb ist. Daraus gestärkt kann Robert die dritte und letzte Aufgabe bewältigen: Nachts klebt er auf die Krebse kurze Wachslichter, zündet diese an und lässt sie über den Gottesacker kriechen. Er selbst verkleidet sich als Petrus, der den jüngsten Tag verkündet.

Tochter Josefine will in die Welt hinaus

Pfarrer Rafael und Küster Gabriel – deren Namen an die beiden Erzengel erinnern – sehen die Lichter auf dem Friedhof und merken, dass etwas Ungewöhnliches vor sich geht. Sie nutzen die Gunst der Stunde und bitten Petrus, recht schnell ins Himmelreich zu gelangen. Dafür klettern sie in einen Sack.

Robert zieht diesen durch das Dorf, hievt ihn in einen Taubenschlag des gräflichen Anwesens und überlässt beide den „Engeln“, die „sich freuen und mit den Fittichen schlagen“. Was durchaus auch als Seitenhieb gegen die Kirche verstanden werden kann. Der Meisterdieb besteht damit auch die dritte Aufgabe, Pfarrer und Küster aus der Kirche zu stehlen – sehr zum Zorn des Grafen Gustav, der aber seine Niederlage akzeptiert.

Seitenhieb: Pfarrer Rafael (Fritz Roth, o.) und Küster Gabriel (Andreas Schröders) im Sack / © NDR/Susanne Dittmann

Seitenhieb: Pfarrer Rafael (Fritz Roth, o.) und Küster Gabriel (Andreas Schröders) im Sack / © NDR/Susanne Dittmann


Hat sich Robert mit seinen Eltern am Ende ausgesöhnt, so verändert der Meisterdieb letztlich auch den Grafen Gustav – und vor allem sein Verhältnis zu seiner heranwachsenden Tochter. Als Vater war er bisher weniger emotionaler Bezug als autoritäre Instanz – was sich in Verboten gegenüber seiner Tochter zeigte.

Josefine (Anna Hausburg) – die neu ins Drehbuch aufgenommen wird – ist ein wissensdurstiger Teenager und interessiert sich für das Neue, das Unbekannte. Im klassischen Rollenverhalten findet sie sich nicht wieder („Ich hab kein Talent für das Sticken!“). Ihr Privatlehrer Lichtenberg (Hans Peter Korff) unterstützt sie, wird aber vom Grafen entlassen.

„Du sollst lernen dürfen, was du willst!“

Josefine will aus ihrem standesgemäßen und kulturell definierten Mikrokosmos ausbrechen – und fremde Länder kennenlernen. Diese beschreibt ihr Vater allerdings als „gottlose Völker“, in denen „allen alles gehört“ und es „keinen Herrscher“ gibt. Hier ist auch er selbst und sein feudalistisches Weltbild in Gefahr. Den einzigen Ausweg sieht Josefine letztlich nur im Fortlaufen, so wie Robert als er in ihrem Alter war.

Kluger Kopf: Lichtenberg (Hans Peter Korff, r.) ist aus „Diese Drombuschs“ bekannt / © NDR/Susanne Dittmann

Kluger Kopf: Lichtenberg (Hans Peter Korff, r.) ist aus „Diese Drombuschs“ bekannt / © NDR/Susanne Dittmann


Typisch weiblich: Josefine (Anna Hausburg, r.) hat aber keinen Bock aufs Sticken / © NDR/Susanne Dittmann

Typisch weiblich: Josefine (Anna Hausburg, r.) hat aber keinen Bock aufs Sticken / © NDR/Susanne Dittmann


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So stellt Josefine aufgrund ihres Charakters eine (weibliche) Parallelfigur von Robert dar. Sein Wesen spiegelt sich gleichsam in ihrem. Auf Josefines Frage, wie sie sich in ihrer Situation verhalten soll, kann Robert dennoch keine allgemeingültige Antwort geben, gerade aus eigener schmerzlicher Erfahrung.

Dabei hat er mit seinen drei bestandenen Aufgaben weit mehr erreicht als er glaubt – auch für Josefine. Denn er hat damit ganz spielerisch die Einstellung des Grafen zu seiner Tochter verändert: „Du sollst lernen dürfen, was du willst, Josefine!“ sagt er zu ihr am Ende – ein märchenhaft optimistischer Schluss.

Filme:

  • „Der Meisterdieb“ (DDR, 1977, R: Wolfgang Hübner). Ist auf VHS/DVD erschienen.
  • „Der Meisterdieb“ (BRD, 2010, R: Christian Theede). Ist auf DVD erschienen.

Drehorte:

  • Freilichtmuseum am Kiekeberg, Am Kiekeberg 1, 21224 Rosengarten
  • Freilichtmuseum Molfsee, Hamburger Landstraße 97, 24113 Molfsee
  • Gut Wulfshagen, Wulfshagen 17, 24214 Tüttendorf
  • 23948 Klütz, OT: Steinbeck
  • 21401 Thomasburg

Verwendete Quellen:

  • Brüder Grimm: Der Meisterdieb. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 2, S. 389–397.
  • Drašček, Daniel/Wagner, Siegfried: Heimkehr des verlorenen Sohnes. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 6, Berlin/New York, 1990, Sp. 707–713.


Headerfoto: Sohn Robert (Max von Thun) kehrt zu Vater (Dietmar Mues) und Mutter (Gitta Schweighöfer) heim / Foto: NDR/Susanne Dittmann