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Wenn ein Märchenfilm zum Experiment wird: Hans im Glück (D 1936)

Wenn ein Märchenfilm zum Experiment wird: Hans im Glück (D 1936)

Die Filmarchitekten Robert Herlth und Walter Röhrig arbeiten in „Hans im Glück“ – frei nach dem Grimm’schen Märchen – mit Traumvisionen, kleinen Insekten und Alten Meistern.

Werbung „Der verlorene Schuh“ / © Ufa

Werbung „Der verlorene Schuh“ / © Ufa

Als am 5. Dezember 1923 „Der verlorene Schuh“ (R: Ludwig Berger) in den Kinos startet, ahnt niemand, dass mit der prächtig fotografierten Verfilmung des „Aschenputtel“-Stoffes eine der vorerst letzten aufwändigen Märchenadaptionen uraufgeführt wird.

Der stumme Märchenfilm, der sich an ein erwachsenes Kinopublikum richtet, hat Mitte der 1920er-Jahre seinen Zenit überschritten. Märchen sind längst keine abendfüllenden Kassenschlager mehr und werden nun vor allem für Kinder auf der Leinwand adaptiert – mit begrenzten finanziellen Mitteln in oftmals unterdurchschnittlicher Qualität.

Zur selben Zeit schreiben zwei deutsche Filmarchitekten an einem Drehbuch für einen neuen märchenhaften Spielfilm – nicht für Kinder, sondern für Erwachsene. Die beiden Künstler heißen Robert Herlth (1893–1962) und Walter Röhrig (1892–1945) und sind die ‚ungekrönten Könige’ des deutschen Filmexpressionismus.

Der müde Tod (D 1921): Eine junge Frau (Lil Dagover) will darin ihren Geliebten retten / Quelle: Deutsche Kinemathek

Der müde Tod (D 1921): Eine junge Frau (Lil Dagover) will darin ihren Geliebten retten / Quelle: Deutsche Kinemathek


Hat Herlth mit Bauten für „Der müde Tod“ (D, 1921, R: Fritz Lang) Filmgeschichte geschrieben, so setzt Röhrig mit Kulissen für „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (D, 1920, R: Robert Wiene) Maßstäbe. Ende der 1920er-Jahre planen beide einen ästhetischen Neustart des Genres Märchenfilm in Deutschland.

„Hans im Glück“ will vor allem auf Bildsprache setzen

Dafür haben sich Herlth/Röhrig das Grimm’sche Märchen „Hans im Glück“ ausgesucht. Die Geschichte um den „glücklich Entsagende[n]“ (Freund 2005, S. 165), der einen Klumpen Gold erst gegen ein Pferd, dann eine Kuh, ein Schwein, eine Gans und zuletzt einen wertlosen Wetzstein tauscht, soll aber völlig neu für die Leinwand umgesetzt werden.

Beide wollen der Flächenhaftigkeit, die alle Märchenfiguren kennzeichnet, geistige und seelische Tiefe gegenüberstellen. Da sich Ende der 1920er-Jahre der Tonfilm durchsetzt, kann das auch mit sinnhaften Dialogen der Märchencharaktere erreicht werden.

Hans im Glück (D 1936): Die Titelfigur (Erwin Linder) mit Kuh vor imposanter Stadtkulisse / © Icestorm

Hans im Glück (D 1936): Die Titelfigur (Erwin Linder) mit Kuh vor imposanter Stadtkulisse / © Icestorm


Doch Herlth/Röhrig sind von der Stummfilm-Ära der Weimarer Republik geprägt, in der zuvorderst das Bild die ‚Sprache’ des Films ist. Deshalb wollen sie die innere Befindlichkeit der Figuren vor allem bildlich umsetzen – und billigen sowohl dem gesprochenen Wort als auch der Filmhandlung nur eine untergeordnete Funktion zu.

Symbolische Montagen, in denen Einstellungen erst mit dem Kontext in ihrer Bedeutung festgelegt werden, sollen sich durch den gesamten Film ziehen. Film wird Kunst – wie zur Zeit des Weimarer Stummfilm-Kinos. Aber: Funktioniert das Mitte der 1930er-Jahre noch?

Kunstgeschichte im Märchenfilm – mit Albrecht Dürer

Über sechs Jahre feilen die beiden Filmarchitekten am Drehbuch für ihren märchenhaften Avantgarde-Film. Im Juli 1935 beginnen endlich die Dreharbeiten, nachdem das Manuskript mehrmals von der Universum-Film AG (Ufa) abgelehnt wurde. Begründung: hohes Flop-Risiko.

In der Delta-Film-GmbH finden Herlth/Röhrig eine Produktionsfirma, die sich an eine Verfilmung heranwagt – vor allem aber aus NS-ideologischen Gründen. Denn bei ihr stehen Filme im Mittelpunkt, die „in ihrer künstlerischen und volksnahen Gestaltung das Wesen deutschen Denkens aufzeigen sollen“ ([o. A.] 19351). Dazu gehört zum Beispiel der antisowjetische NS-Propagandafilm – und heutige Verbotsfilm – „Friesennot“ (D, 1935, R: Peter Hagen).

Und eben auch „Hans im Glück“, da die vielen geplanten Natur- und Landschaftsaufnahmen das vorindustrielle, bäuerliche Leben glorifizieren und im Sinne einer Blut-und-Boden-Ideologie ihren Beitrag für die NS-Ideologie leisten. Herlth/Röhrig, die in „Hans im Glück“ auch Regie führen dürfen, sehen darüber hinweg und beginnen mit den Dreharbeiten.

Kunstgeschichte: Albrecht Dürers „Das große Rasenstück“ (l.) und seine Entsprechung im Märchenfilm / © Icestorm

Kunstgeschichte: Albrecht Dürers „Das große Rasenstück“ (l.) und seine Entsprechung im Märchenfilm / © Icestorm


Schon in der ersten Einstellung des Films legen die beiden Regisseure das eigentlich zeitlose Märchen historisch exakt fest – mit Hilfe eines Stück Rasens. Doch die im Studio mit der Kamera aufgenommene Szenerie zeigt keine gewöhnliche grüne Wiese, sondern nimmt bildlich Bezug auf Albrecht Dürers (1471–1528) Naturstudie „Das große Rasenstück“.

Mit dem um 1503 entstandenen Aquarell des Renaissancemalers reflektieren Herlth/Röhrig gleichnishaft nicht nur den Ort (Natur), sondern auch einen genauen Zeitpunkt der Filmhandlung – die Dürer-Zeit Anfang des 16. Jahrhunderts. Kunstgeschichte im Märchenfilm.

Dürer-Zeit in Filmbauten und Kostümen

Diese historische Festlegung lässt sich auch an den Schauplätzen für die aufwändigen Außendreharbeiten festmachen: So wird beispielsweise in dem mittelfränkischen Ort Rothenburg ob der Tauber gedreht, der als Prototyp einer mittelalterlichen deutschen Stadt gilt – und gleicher-maßen historisch konkret und märchenhaft überhöht auf der Leinwand wirkt. So entsteht eine Szene an der Stadtbefestigung, in der im Hintergrund das Spitaltor zu sehen ist.

Hans im Glück (D 1936): Die Stadtbefestigung (vorn) von Rothenburg ob der Tauber mit Spitaltor (hinten) / © Icestorm

Hans im Glück (D 1936): Die Stadtbefestigung (vorn) von Rothenburg ob der Tauber mit Spitaltor (hinten) / © Icestorm


Rothenburg ob der Tauber: Der Drehort im 21. Jahrhundert / Quelle: Tilman2007, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons

Rothenburg ob der Tauber: Der Drehort im 21. Jahrhundert / Quelle: Tilman2007, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons


Zudem werden für Massenszenen auf dem weitläufigen Filmgelände von Neu-Babelsberg nahe Berlin ganze Häuserzeilen, ein Marktplatz und ein 21 Meter hohes Ständehaus nachgebaut, die bis ins kleinste Detail architektonisch die Dürer-Zeit widerspiegeln.
Hans im Glück (D 1936): Jahrmarktszenen werden detailgetreu auf dem Filmgelände inszeniert / © Icestorm

Hans im Glück (D 1936): Jahrmarktszenen werden detailgetreu auf dem Filmgelände inszeniert / © Icestorm


Neben den Bauten soll auch die Kleidung der Figuren das 15. und 16. Jahrhundert exakt abbilden. Herlth/Röhrig finden in Arno Richter (1907–1979) einen Kostümbildner, mit dem sie bereits in „Faust“ (D, 1926, R: Friedrich Wilhelm Murnau) zusammengearbeitet haben.
Hans im Glück (D 1936): Die Titelfigur (Erwin Linder) mit Gans beim Scherenschleifer (l.) / © Icestorm

Hans im Glück (D 1936): Die Titelfigur (Erwin Linder) mit Gans beim Scherenschleifer (l.) / © Icestorm


Richters Kostüme für „Hans im Glück“ orientieren sich vor allem an der Renaissance: Männer tragen Wams, eine enge Jacke, mit großen, bauschigen Ärmeln. Landsknechte, zu Fuß kämpfende Söldner, fallen mit breitkrempigen und mit Federn und Wollbüschen geschmückten Kopfbedeckungen (Barett) auf. Und Frauen stecken in geschnürten Miedern und weiten Faltenröcken.

Hans verwandelt sich in eine Lerche

Zwar wissen Herlth/Röhrig um die Bedeutung des Schauwerts im Film, doch das würde ihren „Hans im Glück“ nicht von anderen Ausstattungsfilmen unterscheiden: Deshalb erweitern sie die Handlung des Märchens, beispielsweise um eine tiefenpsychologische Liebesgeschichte.

Als Hans (Erwin Linder) zu seiner Wanderung aufbricht, begleitet ihn – gleich einer Vision, einer Traumsequenz – das Gesicht eines Mädchens (Georgia Holl). Er erkennt sie nicht nur anfangs in einem Bauernmädchen wieder, sondern später auch an anderen Stationen seiner Fußreise.

Hans im Glück (D 1936): Georgia Holl spielt das Mädchen, in das sich Hans (Erwin Linder) verliebt / © Icestorm

Hans im Glück (D 1936): Georgia Holl spielt das Mädchen, in das sich Hans (Erwin Linder) verliebt / © Icestorm


Mit den Traumbildern verweisen Herlth/Röhrig bereits am Anfang des Films auf das Liebes- und nicht auf das materielle Glück in Form von Dukaten oder den im Tausch erhandelten Tieren. Und: Am Ende seiner Wanderung nach Hause bringt Hans seiner Mutter (Elsa Wagner) einen „Schatz“ mit – in eindeutiger Zweideutigkeit.

Traumsequenzen werden aber auch anderer Stelle eingesetzt: Als sich Hans auf eine Wiese legt, die Wolken am Himmel beobachtet und dabei an seine Mutter denkt, singt er leise das bekannte deutsche Volkslied „Wenn ich ein Vöglein wär“ – und verwandelt sich via Trick in eine Lerche.

Kamera wird am Ballon befestigt

Um die passenden Bilder aus der Vogelperspektive zu bekommen, fährt eine Kamera mit einem Ballon nach oben und fotografiert die Szenerie. Die österreichische Wochenzeitung „Mein Film“ erinnern diese Bilder „stark an den damals so gelungenen Zauberflug des ‚Faust’ aus dem gleichnamigen Film“ ([o. A.] 19352).

Das Ziel der Lerche, respektive des ‚verwandelten’ Hans, ist sein Zuhause – Haus und Garten der Mutter. Beides wird märchenhaft-fantastisch im Studio nachgebaut gleich einem „Vogelnest, schwebend über dunstiger Tiefe“, wie das erhaltene Drehbuch in lyrischen Worten verrät.

Faust – eine deutsche Volkssage (D 1926): Die jugendliche Titelfigur (Gösta Ekman, r.) mit dem bösen Mephisto (Emil Jannings) / Quelle: Deutsche Kinemathek

Faust – eine deutsche Volkssage (D 1926): Die jugendliche Titelfigur (Gösta Ekman, r.) mit dem bösen Mephisto (Emil Jannings) / Quelle: Deutsche Kinemathek


Hans im Glück (D 1936): Rechts sind Hausdächer von Rothenburg ob der Tauber erkennbar / © Iestorm

Hans im Glück (D 1936): Rechts sind Hausdächer von Rothenburg ob der Tauber erkennbar / © Iestorm


In dieser dunstigen Tiefe ist mittels Rückprojektion kongenial das Stadtbild von Rothenburg ob der Tauber aus der Vogelperspektive erkennbar, das zuvor ganz real von einem der Stadttürme aufgenommen wird. Doch nicht nur die Luft als eines der vier Elemente des Universums, auch das Wasser spielt bei der Suchwanderung der Titelfigur eine Rolle.

Laut Drehbuch lassen Herlth/Röhrig in der Sequenz, in der Hans nach seinem ersten Tauschgeschäft vom Pferd abgeworfen wird und unsanft in einem Teich landet, eine märchenhafte Unterwasserwelt entstehen. Neben schwimmenden Fischen lässt das Regie- und Autorenduo sogar Frösche umherhüpfen, die mit Hans ‚sprechen’.

Kinofassung ohne Fliege und Biene

Andere Tieraufnahmen zeigen Hans mit einer Fliege, die er – in Großaufnahme – mit dem Finger aus einem Brunnen rettet, ein anderes Mal mit einer Biene, die sich auf den Rand seines Trinkbechers setzt, sich die Flügel putzt und ab ins Licht fliegt. Im Gegensatz zur Traumsequenz des Lerchen-Fluges sind diese wie auch die Wasser- und Teichszenen Teil der realen Handlung.

Dennoch wollen sich diese Sequenzen in ihrer symbolischen Bedeutung nicht recht erschließen – und lassen wohl auch die Filmprüfstelle bei der ersten Sichtung am 18. Januar 1936 ein wenig ratlos zurück. Die Behörde, die darüber entscheidet, ob Filme im Deutschen Reich öffentlich aufgeführt werden dürfen oder nicht, vergibt an den Film erstaunlicherweise kein Prädikat.

Ebenso erstaunlich ist, dass bis zur Premiere am 3. Juli 1936 im Berliner Ufa-Palast am Zoo noch einmal ein halbes Jahr vergeht. In dieser Zeit wird der ursprünglich 2.413 Meter (= 88 Minuten) lange Film von Schnittmeister Rudolf Schaad (1901–1990) auf 1.672 Meter (= 61 Minuten) gekürzt und nochmal von der Filmprüfstelle begutachtet – erneut ohne ein Prädikat zu erhalten.

Unbedarfte ‚Autorenfilmer’

Schaad, der im „Dritten Reich“ sowohl an Unterhaltungs- wie auch Propaganda- und Dokumentarfilmen beteiligt ist, schneidet neben den Wasser- und Teichszenen auch die Aufnahmen mit den Insekten heraus. Diese Sequenzen sind heute nur noch mit Hilfe des erhaltenen Drehbuchs und aus damals veröffentlichten Zeitungsartikeln rekonstruierbar. Denn das 88-minütige „episch-lyrisch[e] Bilderwerk“ ([o. A.] 1936) hat sich offenbar nicht erhalten.

Hans im Glück (D 1936): Der romantisch-verträumte Held (Erwin Linder) beobachtet die Wolken / © Icestorm

Hans im Glück (D 1936): Der romantisch-verträumte Held (Erwin Linder) beobachtet die Wolken / © Icestorm


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Der fehlgeschlagene Versuch von Robert Herlth und Walter Röhrig, dem Märchenfilm-Genre mit „Hans im Glück“ neue, experimentelle Impulse zu geben, ist dennoch ein Gewinn für die deutsche Märchenfilmgeschichte. Vielleicht waren die beiden unbedarften ‚Autorenfilmer’ ihrer Zeit auch nur voraus. Um so mehr gilt es, ihre damaligen gestalterischen Ideen einzuordnen – wenngleich diese im Fahrwasser der NS-Ideologie auch immer ambivalent bleiben.

Film: „Hans im Glück. Ein heiteres Spiel im Volksliedton“ (D, 1936, R: Robert Herlth, Walter Röhrig). Im Bundesarchiv-Filmarchiv ist der Film in einer Länge von 1.612 Metern (= 59 Minuten) erhalten. Zudem ist der Film mit dem Titel „Hans macht sein Glück“ in einer Länge von 25 Minuten als DVD (2006) erschienen.

Video: Hier klicken und „Hans im Glück“ im Digitalen Lesesaal des Bundesarchivs anschauen. (zuletzt aufgerufen: 25.8.2024)

Verwendete Quellen:

  • Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005
  • Herlth, Robert/Röhrig, Walter: Hans im Glück: ein heiterer Film im Volksliedton. Drehbuch, 1935. In: Filmuniversität Potsdam-Babelsberg „Konrad Wolf“.
  • [o. A.] (19351): Delta plant Ulenspiegel-Film. In: Film-Kurier 17 (1935), Nr. 208, 6.9.1935, [o. S.].
  • [o. A.] (19352): Ein Märchen wird Film. In: Mein Film 10 (1935), Nr. 513, S. 5f.
  • [o. A.] (1936): Film-Kritik. Hans im Glück / Ufa-Palast am Zoo. In: Film-Kurier 18 (1936), Nr. 154, 4.7.1936, [o. S.].
  • Schlesinger, Ron: Kühe, Käfer, hohe Tiere. Robert Herlths und Walter Röhrigs Hans im Glück (1936) zwischen experimentellem Märchenfilm und propagandistischem ‚Großlustspiel’. In: Filmblatt 16 (Winter 2011/12), Nr. 46/47, S. 85–94.
  • Widmaier, Tobias: Wenn ich ein Vöglein wär. In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon (erstellt: 2012, abgerufen: 29.3.2022).

  • Headerfoto: Hans im Glück (D 1936): Die Titelfigur (Erwin Linder) liegt verträumt im Gras / Quelle: Icestorm