Die zertanzten Schuhe (D 2011): Die Kunst des Dialogs im Märchenfilm

Die zertanzten Schuhe (D 2011): Die Kunst des Dialogs im Märchenfilm

Das ARD-Märchen erzählt eigentlich eine Geschichte von zwölf Prinzessinnen. Eigentlich. Denn das Besondere an der Verfilmung ist, welch kunstreiche Sprache sie allen Märchenfiguren verleiht.

„Tanz ist Bewegung – Bewegung ist Leben.“ Was wie ein Titel für ein Tanzpädagogik-Seminar klingt, ist auch die Grundidee eines Grimmschen Märchens, das 2011 für die ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ verfilmt wird: „Die zertanzten Schuhe“.

Darin flüchten sich zwölf Königstöchter trotz väterlichen Verbots jede Nacht in eine Unterwelt, tanzen dort mit jungen Königssöhnen – und verschleißen ihre Schuhe: Der Tanz als Ventil wider eines höfischen Alltags, in dem Teenie-Prinzessinnen der Spaß am Leben verboten wird.

Windmaschine im Märchen: Die Prinzessinnen werden ein wenig klischeehaft inszeniert / © ARD/MDR/Nik Konietzny

Windmaschine im Märchen: Die Prinzessinnen werden ein wenig klischeehaft inszeniert / © ARD/MDR/Nik Konietzny


Schuld daran ist ihr Vater, König Karl (Dieter Hallervorden): verbittert, aber auch bedauernswert, weil er über den Tod seiner Frau einfach nicht hinwegkommt.

Im Gegensatz zur gleichnamigen Vorlage der Brüder Grimm, 1815 erstmals in den „Kinder- und Hausmärchen“ veröffentlicht, und in der ein König ebenso bemerkt, dass seine Töchter ein Geheimnis vor ihm haben, taucht der Märchenfilm tiefer in die zwischenmenschlichen und familiären Probleme ein – und wirkt damit zeitgemäßer und moderner.

Farben im Märchenfilm als Symbole

Szenenbild (Kai Varduhn) und Kostüme (Elke Ringwelski) unterstützen das Drehbuch: Die Farbe Schwarz – als Zeichen der Trauer und des Todes – dominiert deshalb in der Kleidung des Königs. So trägt er im Märchenfilm nicht den typisch purpurroten, sondern einen schwarzen Hermelin- oder Königsmantel.

Die Räume im Schloss, in denen er sich aufhält, sind oftmals dunkel und müssen mit Fackeln oder Kerzen beleuchtet werden – auch tagsüber. Zudem hängen meterlange schwarze Trauerflore an den Schlossmauern.

Farbsymbol: König Karl trägt Schwarz – das auch seinen Gemütszustand reflektiert / © ARD/MDR/Nik Konietzny

Farbsymbol: König Karl trägt Schwarz – das auch seinen Gemütszustand reflektiert / © ARD/MDR/Nik Konietzny


Im Kontrast dazu die zwölf Königstöchter in hellen Kleidern – die auch ihre Lebensfreude symbolisieren. Die Unterwelt, in die sie sich mittels eines Zauberspiegels flüchten, ist zwar eine „verbotene Welt“ (Köhler-Zülch 2007), doch weist sie „keine Attribute des Todes oder der Hölle“ auf.

Ganz im Gegenteil: Hier überwiegt die Farbe Weiß als Zeichen für Reinheit und Unschuld, auch wenn diese Unterwelt und ihre Figuren – mittels Weichzeichner, Windmaschine und Slow-Motion-Körperbewegungen – ein wenig märchenklischeehaft wirken.

Eitler Hofmeister, lustiger Puppenspieler

Hält das Drehbuch am Grimm’schen Figurenensemble mit König und zwölf Prinzessinnen fest – wobei weniger Königstöchter besser gewesen wären, um ihnen mehr Raum für Individualität zu geben –, so nimmt es zusätzlich einen Hofmeister (Andreas Schmidt) in die Filmhandlung auf. Dieser machthungrige und gleichzeitig komische Gegenspieler möchte selbst König werden – vorher aber noch die älteste Prinzessin (Inez Björg David) namens Amanda heiraten.

Coming-of-Age-Story: Prinzessin (Inez Björg David) und Puppenspieler (Carlo Ljubek) / © ARD/MDR/Nik Konietzny

Coming-of-Age-Story: Prinzessin (Inez Björg David) und Puppenspieler (Carlo Ljubek) / © ARD/MDR/Nik Konietzny


In der Figur des Protagonisten geht Autorin Gabriele Kreis neue Wege: Zwar kommt auch hier ein „armer Soldat“ (Grimm) seines Weges und erfährt von den zertanzten Schuhen, doch hat dieser noch eine andere Berufung: Anton (Carlo Ljubek) ist ebenso Puppenspieler und meint „[Das ist] besser als Soldat. Die Menschen freuen sich, wenn ich komm.“ Pazifismus im Märchen – klug, aber unaufdringlich verpackt.

Kunstreiche Sinnsprüche, witzige Sprichwort-Ausrutscher

Ja, es sind gerade die sinnreichen Dialoge und der scharfzüngige Schlagabtausch zwischen den Figuren, die die Verfilmung zu einem Vergnügen machen – und an dem auch ein erwachsenes Publikum seinen Spaß hat.

Wie zum Beispiel als der König durchaus interessiert den Puppenspieler Anton fragt: „Puppenspiel – ist das schwer?“ Anton antwortet lächelnd: „König ist schwerer!“ – „Und dennoch will er es werden?!“ So kunstreich können Dialoge im deutschen Märchenfilm sein.

Drehort: Die zwölf Prinzessinnen schlafen in einem Zimmer des Schlosses Friedrichsfelde / © ARD/MDR/Nik Konietzny

Drehort: Die zwölf Prinzessinnen schlafen in einem Zimmer des Schlosses Friedrichsfelde / © ARD/MDR/Nik Konietzny


Drehbuchautorin Kreis ‚spielt’ aber auch mit Sprache, wenn sie dem eitlen, aber dummen Hofmeister sogenannte Sprichwort-Ausrutscher in den Mund legt. Das sind Redewendungen, die entweder im falschen Kontext oder fröhlich durcheinander gemischt werden, zum Beispiel „Wer rostet, der rastet!“ oder „Der frühe Vogel fällt nicht weit vom Baum!“

Beides – die kunstreichen Sinnsprüche und die Sprichwort-Ausrutscher – funktionieren gut als Ausgleich zur teils etwas zu melancholischen Grundstimmung im Film.

Geheimnis als inneres Eigentum des Menschen

Anton wagt, das Rätsel um die zwölf Prinzessinnen zu lösen – vor allem als er Amanda das erste Mal sieht und sich in sie verliebt. Wie im Grimm’schen Märchen wird ihm eine übernatürliche Helferfigur zur Seite gestellt: eine geheimnisvolle Alte (Ruth Glöss). Mit ihrer Unterstützung kann er das Geheimnis der Prinzessinnen lüften.

Apropos: Geheimnis. Im Gegensatz zur Märchenvorlage, in der der Soldat die Prinzessinnen verrät, schützt Puppenspieler Anton die Zwölf und meint zum König: „Sagt ich es Euch, wären Eure Töchter unglücklich!“

Geheimnis funktioniert hier als etwas, mit dem man sich der elterlichen Kontrolle entziehen kann. Im Märchenfilm wird diese kindliche ‚Schutzhülle’ vom väterlichen König respektiert: Er möchte in erster Linie, dass seine Töchter glücklich sind und fordert das Geheimnis nicht ein. Geheimnis als inneres Eigentum des Menschen.

Und wenn sie noch leben …

Doch „Die zertanzten Schuhe“ ist zugleich als märchenhafte Coming-of-Age-Geschichte lesbar, in der die älteste Tochter Amanda – bisher ohne Freund, weil es in der Unterwelt nur elf Prinzen gibt – lernt zu akzeptieren, dass sich Prinzessinnen auch in Puppenspieler verlieben (dürfen).

Schön, aber blass: Jede Nacht tanzen diese Prinzen in der Unterwelt mit den Prinzessinnen / © ARD/MDR/Nik Konietzny

Schön, aber blass: Jede Nacht tanzen diese Prinzen in der Unterwelt mit den Prinzessinnen / © ARD/MDR/Nik Konietzny


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Als in der Schlussszene die elf Prinzen aus der Unterwelt in die Oberwelt katapultiert werden und mit den elf Prinzessinnen tanzen, hat auch dieser Märchenfilm sein Happy End. Oder, wie der Hofmeister sagt: „Und wenn sie noch leben, sind sie wahrscheinlich nicht gestorben.“

Film: „Die zertanzten Schuhe“ (2011, R: Wolfgang Eißler, BRD). Ist auf DVD erschienen.

Drehorte:

  • Burg Querfurt, 06268 Querfurt
  • Kirschplantagen, Süßer See, 06317 Seegebiet Mansfelder Land
  • Rudelsburg, Am Burgberg 33, 06628 Naumburg OT Saaleck
  • Schloss Friedrichsfelde, Am Tierpark 125, 10319 Berlin

Literatur:

  • Brüder Grimm: Die zertanzten Schuhe. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 2, S. 217–221.
  • Köhler-Zülch, Ines: Schuhe: Die zertanzten S. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 12. New York/Berlin, 2007, Sp. 221–227.


Headerfoto: König Karl (Dieter Hallervorden) ist verweifelt: Seine zwölf Töchter haben Geheimnisse vor ihm – jeden Morgen sind ihre Schuhe zertanzt / © ARD/MDR/Nik Konietzny

Dieser Beitrag wurde am 5. April 2020 aktualisiert.

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