Dreiecksgeschichte: Die Königin (M. C. Schilling, M.) ist eifersüchtig auf Schneewittchen (Doris Weikow) / © Progress/Karin Blasig

Zwei ungleiche Frauen: Schneewittchen (DDR 1961)

Die Titelheldin im DEFA-Märchenfilm „Schneewittchen“ wird als bescheidene und bodenständige Prinzessin inszeniert – ganz im Unterschied zu ihrer Gegenspielerin, der bösen Königin. Daran haben auch Farben, Kostüme und Settings ihren Anteil.

Das Märchen liebt Kontraste: gut und böse, hässlich und schön, arm und reich. Bei diesen polaren Gegensätzen liegen die Eigenschaften jeweils an entgegengesetzten Enden einer Skala – und unterscheiden Figuren klar voneinander. Werden Märchen verfilmt, unterstützen auch filmische Mittel, wie Farbe, Kostüm oder Setting, die Gegensätzlichkeit der Märchenfiguren. Mehr noch: Filmische Mittel dienen der Charakterisierung der Protagonisten, lenken die Aufmerksamkeit auf bestimmte Eigenschaften.

Gruppenbild mit Dame: Schneewittchen (Doris Weikow) umringt von den sieben Zwergen / © Progress/Karin Blasig

Gruppenbild mit Dame: Schneewittchen (Doris Weikow) umringt von den sieben Zwergen / © Progress/Karin Blasig


Ein prägnantes Beispiel dafür ist die DEFA-Verfilmung „Schneewittchen“ (DDR, 1961, R: Gottfried Kolditz). In dem Märchen wird eine schöne Königstochter (Doris Weikow) von ihrer bösen Stiefmutter (Marianne Christina Schilling) mit einem vergifteten Apfel getötet. Zwar sind hier jene filmischen Mittel teils dick aufgetragen – wenn zum Beispiel die Titelfigur ein weißes Kleid trägt, um auch farblich auf der Kostümebene Reinheit und Unschuld widerzuspiegeln –, dennoch helfen sie, das Wesen von Figuren, hier: der Prinzessin, zu beschreiben. Dabei reflektieren diese filmischen Mittel gleichermaßen ein Frauenbild vom Beginn der 1960er-Jahre.

Spitzkantiger Kopfputz als Sinnbild für bösen Charakter

Da das Setting des Märchenfilms ins 14./15. Jahrhundert verlegt wird – in den Übergang von Spätgotik zur Renaissance – nutzt die Kostümbildnerin Elli-Charlotte Löffler typische Modeaccessoires dieser Epoche, um das Wesen der beiden gegensätzlichen Frauen in der Kleidung bildlich umzusetzen. Das funktioniert beispielsweise mit dem spitzkantigen Kopfputz der bösen Königin: Die kegelförmige Haube, ein sogenannter Hennin, von dem ein Schleier fällt, kann als Sinnbild für ihren eitlen und hochmütigen Charakter stehen.

Mode-Metapher: Die Königin (Marianne Christina Schilling) trägt eine spitzkantige Haube / © Progress/Karin Blasig

Mode-Metapher: Die Königin (Marianne Christina Schilling) trägt eine spitzkantige Haube / © Progress/Karin Blasig


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Schneewittchen trägt dagegen keine Kopfbedeckung. Vielmehr wirkt es mit seinem schwarzen, locker fallenden Haar natürlich. Sein Kostüm, ein Kleid mit kurzen Ärmeln, ohne tiefen Ausschnitt, das es über einem rosafarbenen Unterkleid trägt, ist zwar schmucklos, spiegelt aber gleichzeitig sein Wesen wider: bescheiden, einfach, bodenständig. Und: Kein Gold, kein Silber, kein Schmuck. Das gängige Beiwerk für die standesgemäße Garderobe einer Königstochter fehlt an Schneewittchen. Nicht aber an der Königin, seiner Stiefmutter.

Markgräfin Uta im Naumburger Dom dient als bildliche Vorlage

Sie trägt kostbare mit Gold- und Silberfäden durchwirkte Kleider und Mäntel in Purpur – einer Farbe zwischen Rot, Violett und Blau, die für Macht und Würde steht und deren Tragen im Mittelalter nur weltlichen und geistlichen Herrschern vorbehalten ist. Kostümbildnerin Löffler zitiert dabei Disneys Zeichentrick-Klassiker „Snow White and the Seven Dwarfs“ (USA 1937), denn auch hier trägt die böse Königin ein purpurfarbenes Kleid – und den Kopfschmuck einer deutschen Gräfin.

Historisches Vorbild: Markgräfin Uta (l.) und die böse Königin / © Paul Marx/pixelio.de und Icestorm (Fotomontage)

Historisches Vorbild: Markgräfin Uta (l.) und die böse Königin / © Paul Marx/pixelio.de und Icestorm (Fotomontage)


Bereits für Disney dient die Statue der Markgräfin Uta (1000?–1046) im Naumburger Dom als Vorlage für die böse Königin. Uta gilt als schönste Frau des Mittelalters. Die Steinfigur aus dem 13. Jahrhundert trägt eine Kappe ähnliche Kopfbedeckung mit einer Krone – wie die Königin in Disneys Adaption und in der Schlussszene des DEFA-Märchenfilms. Doch auch andere visuelle Filmzitate sind in der DDR-Verfilmung zu finden, die die beiden Protagonistinnen charakterisieren. Diese lenken mitunter das Augenmerk auf die Interaktion mit Tieren.

Eichhörnchen und Reh vs. Bussard und Kröte

Als der Jäger Schneewittchen allein im Wald zurücklässt, trifft es auf seinem Weg über die sieben Berge zwei Waldtiere: ein Eichhörnchen und ein Reh. Szenen im Atelierwald, in denen Schneewittchen die eher scheuen – aber in unserem Kulturkreis positiv besetzten – Tiere streichelt, vermitteln das Bild einer Königstochter, die zu Mensch und Tier gut ist. Im Gegensatz dazu begegnet der bösen Königin auf ihrem Weg durch den Wald ein Bussard. Der Greifvogel – durchaus das Tier-Äquivalent zur Königin – späht nach Beute (Schneewittchen).

Positiv besetztes Tier: Schneewittchen (Doris Weikow) entdeckt ein Eichhörnchen im Wald / © Progress/Karin Blasig

Positiv besetztes Tier: Schneewittchen (Doris Weikow) entdeckt ein Eichhörnchen im Wald / © Progress/Karin Blasig


„Snow White“ arbeitet mit ähnlichen Bildern: Hier wird die böse Königin auf ihrer Wanderung zu Schneewittchen von zwei Aasgeiern beobachtet – die den Tod der Königin bereits symbolisch ankündigen, wenn sie am Ende von einem Felsen stürzt und stirbt. Im DEFA-Märchenfilm wird die böse Stiefmutter auch von einer Kröte überrascht, als sie sich an einem Tümpel das Gesicht schwärzt, um von Schneewittchen nicht erkannt zu werden. Die Kröte gilt zweifellos als das „Tier der Hexe“ (von Bonin).

Schneewittchen avanciert zur „Prinzessin der Herzen“

Wird die Kröte im Märchen aber oftmals als Ekeltier „zur Bestrafung eingesetzt“ (Herbert), so ähnelt ihre Rolle in „Schneewittchen“ der des Bussards: Sie gilt als Gleichnis der bösen Königin, die Unheil bringt und „mit ihren Giftwarzen und dem alles verschlingenden Maul das Tödliche“ (von Bonin) verkörpert. Obwohl der Märchenfilm im Studio entsteht, sind es aber auch die Kulissen und Requisiten (Bauten: Hans Poppe), die Figuren beschreiben und zudem auf die „soziale Zugehörigkeit“ (Bienk) schließen lassen.

Das zweite positiv besetzte Tier: Schneewittchen (Doris Weikow) streichelt im Wald ein Reh / © Progress/Karin Blasig

Das zweite positiv besetzte Tier: Schneewittchen (Doris Weikow) streichelt im Wald ein Reh / © Progress/Karin Blasig


Denn obwohl Schneewittchen und seine Stiefmutter derselben sozialen Schicht angehören, agieren sie als Figuren an überaus unterschiedlichen Sets: Wenn Schneewittchens sozialer Raum die Schlossküche und nicht der Festsaal ist – den es trotz Verbots seiner Stiefmutter in einer Szene betritt und dort wie ein Fremdkörper wirkt –, so liefert das auch einen Hinweis auf seine soziale Zugehörigkeit. Als dem Volk zugewandte Königstochter avanciert sie zur „Prinzessin der Herzen“: verehrt und geachtet vom Türmer über den Koch bis zum Diener.

Setting der Märchenfiguren beschreibt beide Charaktere

Nicht ge- sondern vom Volk verachtet wird die böse Königin und an Sets positioniert, die die Kluft zwischen den Schichten sichtbar machen und ihren Charakter beschreiben: Nicht nur der königliche Festsaal als No-go-Area für das einfache Volk, vor allem ihr Privatgemach – mit dem wichtigsten Requisit des Märchens: dem Spiegel – reflektieren ihr Wesen, das von Stolz und Übermut gekennzeichnet ist. Überdies sind die Wände ihres Gemachs ausgerechnet „rot wie Blut“ (Grimm) getüncht.

„Fürstliche Farbe“: Die böse Königin (Marianne Christina Schilling) in ihrem Privatgemach / © Progress/Karin Blasig

„Fürstliche Farbe“: Die böse Königin (Marianne Christina Schilling) in ihrem Privatgemach / © Progress/Karin Blasig


Und erinnern dabei fatal an Schneewittchen („so weiß wie Schnee, so rot wie Blut …“). Gleichwohl mag die Farbe hier aber eher für ihre Rolle als Königin stehen. Denn „Rot ist die klassische Farbe der Aristokratie […] und die fürstliche Farbe schlechthin“ (Hebestreit) – und steht einmal nicht für die Stieftochter. Diese wird in der Hütte der sieben Zwerge, bei denen sie Unterschlupf findet, bei Hausarbeiten gezeigt. Das Setting erinnert an die Küche im Schloss und rückt trotz Ortswechsel einmal mehr Häuslichkeit und Fleiß in den Vordergrund rückt.

Obgleich diese Filmästhetik heute konventionell anmutet, werden hier wie dort die beiden Hauptakteurinnen mit filmischen Mitteln beschrieben und charakterliche Gegensätze gekonnt herausgearbeitet.

Film: „Schneewittchen“ (DDR, 1961, Regie: Gottfried Kolditz). Bereits auf VHS und DVD erschienen.

Drehort: VEB DEFA Studio für Spielfilme, 1502 Potsdam-Babelsberg, August-Bebel-Straße 26–53

Literatur:

  • Bienk, Alice: Einführung in die interaktive Filmanalyse. Marburg, 2006.
  • Bonin, Felix von: Wörterbuch der Märchen-Symbolik. Ahlerstedt, 2009.
  • Brüder Grimm: S[ch]neewittchen. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 1, S. 269–278.
  • Hebestreit, Andreas: Die soziale Farbe. Wie Gesellschaft sichtbar wird. Zürich/Berlin, 2017, S. 97.
  • Herbert, Christine/Köhler, Karlheinz/Laudenberg, Beate: Die Kröte im Märchen – interdisziplinär betrachtet, in: Köhler, Karlheinz/Laudenberg, Beate: Märchenhafte Tier- und Pflanzenwelt: Aspekte interdisziplinärer Märchendidaktik. Baltmannsweiler, 2010.


Dreiecksgeschichte: Die Königin (Marianne Christina Schilling, M.) ist eifersüchtig auf Schneewittchen (Doris Weikow) / © Progress/Karin Blasig

Dieser Beitrag wurde am 16. Januar 2021 aktualisiert.

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