Märchen ohne ein glückliches Ende sind wie Weihnachten ohne Geschenke. Deshalb erzählt der ARD-Film „Der Schweinehirt“ das Märchen weitaus versöhnlicher als bei Hans Christian Andersen. TV-Premiere ist am 26. Dezember 2017 um 13.40 Uhr im ERSTEN.
Im Grimmschen Märchen finden Verwicklungen und Herausforderungen meist ein glückliches Ende: Hänsel und Gretel triumphieren über die Hexe. Ein Prinz küsst Dornröschen wach. Und das tapfere Schneiderlein besiegt Riesen, Einhorn und Wildschwein und bekommt die Königstochter zur Frau. Ende gut, alles gut? Nicht immer. Gerade die Märchen von Hans Christian Andersen enden oftmals alles andere als wohlwollend und harmonisch. Manchmal sogar tragisch.
So löst sich die kleine Seejungfrau in Meeresschaum auf, als ihr geliebter Prinz eine andere heiratet. Oder das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern erfriert am letzten Abend des Jahres, weil niemand ihm etwas abkauft. Obgleich Andersen damit auch die soziale Misere anprangert, stellt dieses und andere „Unhappy Ends“ Drehbuchautoren und Regisseure, die Märchen des dänischen Dichters verfilmen wollen, vor eine echte Herausforderung.
Märchen ohne Happy End wie Weihnachten ohne Geschenke
Gerade ARD und ZDF, die seit mehr als zehn Jahren Märchen für ihr Weihnachts-TV-Programm adaptieren, tun sich manchmal schwer mit Andersens Geschichten. Denn: Für beide öffentlich-rechtlichen Sender ist ein Märchen ohne glückliches Ende wie Weihnachten ohne Geschenke. Besonders zum Fest der Liebe wollen ARD und ZDF mit ihren Märchenfilmen ein harmonisches Gegenmodell zu einer Wirklichkeit „da draußen“ bieten, die aus den Fugen zu sein scheint.
Deshalb versuchen Autoren, die für Andersen-Märchen das Drehbuch schreiben, alternative, oder besser gesagt: optimistische, versöhnliche Schlüsse zu finden. Dass das durchaus gelingen kann, zeigt „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das 2013 für die ARD verfilmt wird: Im Mittelpunkt stehen die zwei elternlosen Kinder Inga und Emil, die im Waisenhaus leben. Dort werden sie von einer herzlosen Anstaltsleiterin traktiert.
Andersens „Der Schweinehirt“ steckt voller Ironie
Am Heiligen Abend müssen beide Schwefelhölzer verkaufen. Auch wenn Inga erfriert, siegt das Gute am Ende dennoch. Und die Bösen werden bestraft. Diese Sehnsucht nach einem versöhnenden Schluss scheint in diesem Märchenfilm plausibel. Dafür wird die ARD-Produktion 2014 für den „Grimme-Preis“ nominiert und gewinnt bei den „Chicago International Film Festival Television Awards 2014“ in der Kategorie „Kinderprogramm“ die Auszeichnung in Silber.
Für andere Verfilmungen ist diese Sehnsucht weniger fassbar, zum Beispiel für den neuesten Andersen-Märchenfilm „Der Schweinehirt“. Der Grund: Im Gegensatz zur Vorlage vom „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, die aufgrund einer sozialen und menschlichen Misere tragisch endet, ist die Geschichte über einen Prinzen, der sich als Schweinehirt verkleidet, um eine Prinzessin rumzukriegen, eine Art Tragikomödie mit Ironie und satirischer Überspitzung.
Prinz heiratet die Kaisertochter am Ende nicht
Es gibt aber, und das ist der Haken, kein Happy End bei Andersen: Ein kluger Prinz freit um die Hand einer dümmlichen Kaisertochter mit zwei Geschenken: eine Rose und eine Nachtigall. Sie verschmäht beide, weil sie echt und nicht künstlich sind. Den Prinzen will sie gar nicht erst sehen. Der sinnt auf Rache, verkleidet sich als Schweinehirt und tritt seinen Dienst am Kaiserhof an. Die Prinzessin wird auf ihn aufmerksam, als er zwei wundersame Instrumente bastelt.
Diese möchte sie unbedingt haben. Als Preis verlangt der Schweinehirt erst zehn, dann hundert Küsse von der Prinzessin – die er erhält. Der Kaiser kommt dahinter, wirft beide aus dem Palast. Am Ende legt der Prinz wieder seine schönen Kleider an, macht sich aber über die Prinzessin lustig, weil sie den Schweinehirten wegen des künstlichen Technik-Schnickschnacks küsste: „Nun kannst du sehen, wo du bleibst!“ Und die Kaisertochter jammert: „Ach, du lieber Augustin, alles ist hin!“
Tragikomisches Märchen wird zur „romantic comedy“
Kaum zu glauben, dass Thomas Brinx, der mit Anja Kömmerling das Filmdrehbuch schreibt, die Vorlage deshalb als „düster“ und „böse“ beschreibt. Es ist halt ein tragikomisches Märchen, über dessen Ende der Leser schmunzeln kann. Doch das „Unhappy End“ passt eben nicht so recht in den ARD-Märchenfilm-Kosmos. Deshalb wird daraus eine historische „romantic comedy“, wie Regisseur Carsten Fiebeler seine Neuverfilmung „Der Schweinehirt“ sieht.
In der geht es „insbesondere [um] Dummheiten, Missverständnisse, Pannen und Hindernisse in den Beziehungen (junger) Liebender“. Und: Sie wird „leichtfüßig, charmant und zurückhaltend-humorvoll, aber ohne tiefere Ironie oder satirischen Biss bis zum üblicherweise glücklichen Ende erzählt“ (Kaczmarek/zu Hüningen). Soweit die Filmtheorie. In der Praxis, und dafür ist das Autorengespann Kömmerling/Brinx bekannt, glänzt „Der Schweinehirt“ dennoch mit der einen oder anderen originellen Idee.
Schief & Krumm – wunderbar und sexy
Die Drehbuchschreiber stocken das Figurenensemble um etliche Personen auf. Zum Beispiel mit der Mutter (Margarita Broich) des Prinzen Augustin (Emilio Sakraya). Sie drängt ihren Sohn zur Heirat mit einer reichen Partie – etwa mit der Kaisertochter –, um das eigene arme Königreich vor dem Ruin zu retten. Interessanter ist aber vielmehr das neu aufgenommene Figurenpaar Schief (wunderbar: Milan Peschel) und Krumm (sexy: Johann Jürgens).
Beide sind zwei skurrile, aber liebenswürdige Erfinder, die einen Laden mit wundersamen Gerätschaften betreiben. Wenn sich Schief immer etwas effeminiert verhält, also mit einer typisch weiblichen Mimik, Gestik und Körperhaltung glänzt, erinnert das ein wenig an LeFou, den Diener von Gaston in „Die Schöne und das Biest“ (USA 2017). Ob jetzt christlich-konservative Kreise deswegen gleich „Schwulen-Propaganda“ befürchten, wie beim Disneyfilm, ist aber fraglich.
Prinzessin Victoria lässt sich auf das Unbekannte ein
Als sogenannte Trickster, die hier „in erster Linie die Rolle des Clowns oder komischen Begleiters spielen“ (Vogler 2010, 151), helfen Schief und Krumm dem Prinzen Augustin, bei Kaisertochter Victoria (Jeanne Goursaud) zu landen. Denn sie hat seine „natürlichen“ Geschenke – Rose und Nachtigall – abgelehnt. Klug ist, dass die Geschehenszeit für den „Schweinehirt“ in das Rokoko verlegt wird. Die Epoche des 18. Jahrhunderts gilt auch als widernatürlich und gekünstelt.
Schon Andersen kritisiert ja mit dem Märchen „die der Natur entfremdete, oberflächliche Hofgesellschaft“ (Assel/Jäger). Der ARD-Märchenfilm stellt das mit der Geschehenszeit noch einmal stärker heraus. Im Gegensatz zur Vorlage, in der die Prinzessin aber bis zum Schluss kalt und oberflächlich bleibt, ist sie im Film anfangs irritiert von der „Natürlichkeit“, die vom Schweinehirten ausgeht, lässt sich dennoch später auf das ihr Unbekannte ein – „lernt“ das Küssen (wenn auch ein wenig breit ausgespielt) – und verliebt sich in ihn.
Wie Kostüme und Frisuren Geschichten erzählen
Gleichzeitig erzählt das Kostüm- und Maskenbild das Märchen auf seine Weise mit. Victoria und ihre Hofdamen Mine (Judith Neumann) und Tine (Lisa Hrdina) tragen Rokokokleider, die nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Gefühle einzuschnüren scheinen (Kostüme: Polly Matthies). Ihre Köpfe zieren weißgepuderte Perücken, die ihre Trägerinnen künstlich und unnatürlich erscheinen lassen (Maske: Kerstin Geacklein, Heiko Schmidt).
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Das gilt gleichermaßen für Victorias Vater, den Kaiser (Bernhard Schütz), ein autoritärer und pflichtbewusster Mann, der in seiner Uniform gefangen zu sein scheint. Er sucht für seine Tochter einen passenden Ehemann. Reich soll er sein – wie der exaltierte Prinz Ferdinand (Max Schimmelpfennig). Die Gefühle seiner Tochter sind dem Kaiser egal. Damit erinnert der ARD-Märchenfilm an „Die Prinzessin und der Schweinehirt“ (1967, R: Harry Erlich) aus der DDR.
Kein Phänomen des neuen deutschen Märchenfilms
Auch in diesem TV-Film verlangt der Kaiser „von seiner Tochter, einen reichen Prinzen zu ehelichen, der viele Ländereien besitzt. Die Prinzessin selbst hatte er zu einem unnatürlichen, gekünstelten Dasein erzogen, aber im Grunde ihres Herzens ist das nicht das, was sie eigentlich will, ihr steht der Sinn nach einem natürlichen Leben“ (fernsehenderddr.de). Am Ende türmt sie mit dem Schweinehirten – wie auch im ARD-Märchenfilm fünfzig Jahre später. Die Sehnsucht nach dem Happy End ist also nicht nur ein Phänomen des neuen deutschen Märchenfilms.
Film: „Der Schweinehirt“ (2017, R: Carsten Fiebeler, BRD). Ist auf DVD erschienen.
Drehorte:
- Burg Rabenstein, Zur Burg 49, 14823 Rabenstein/Fläming
- Paltrockwindmühle Langerwisch, Bergholzer Straße 20, 14552 Michendorf
- Schloss Friedrichsfelde, Am Tierpark 125, 10319 Berlin
- Schlosspark Petzow, Fercher Straße 50b 14542 Werder (Havel) OT Petzow
- Schloss Wiesenburg, Schloßstraße 1, 14827 Wiesenburg/Mark
- Zitadelle Spandau, Am Juliusturm 64, 13599 Berlin
Literatur:
Headerfoto: Prinzessin Victoria (Jeanne Goursaud) und der Schweinehirt (Emilio Sakraya) kommen sich näher / © rbb/Michael Rahn