Auch wenn es viele Märchenfilme über „Aschenputtel“ gibt, so haben doch nur wenige Kultstatus erreicht. Die sowjetische Verfilmung „Soluschka“ von 1947 gehört dazu. Am 14. September 2018 erscheint der Film erstmals in deutscher Sprache auf DVD.
Es scheint paradox. Im Europa nach dem Zweiten Weltkrieg – inmitten von Trümmern und Millionen von Gräbern – entstehen nach 1945 drei Märchenfilm-Klassiker, die das Genre bis heute prägen: Ist es in „Es war einmal/La Belle et la bête“ (F, 1946, R: Jean Cocteau) eine perfekt mit der Kamera eingefangene „Atmosphäre der Verzauberung“ (Klingenmaier), so setzt „Die steinerne Blume/Каменный цветок“ (UdSSR, 1946, R: Alexander Ptuschko) auf dramaturgische Farbspiele, mit denen Figuren kongenial charakterisiert werden.Die dritte wichtige Adaption ist „Das kalte Herz“ (DDR, 1950, R: Paul Verhoeven) – der erste Farbfilm der DEFA, meisterlich in Szene gesetzt mit außergewöhnlichen Trickaufnahmen. Wenngleich alle drei europäischen Filmklassiker – mal mehr, mal weniger direkt – Schrecken, Krieg und Neuanfang in märchenhafter Weise kommentieren, so sind es in der Rückschau doch immer wieder die fantasievollen Inszenierungen, die das Publikum bis heute faszinieren.
Frei nach Charles Perrault: „Soluschka“ – das sowjetische Aschenbrödel
Was nur wenige wissen: Im Schatten dieser drei Klassiker entsteht 1947 noch ein vierter bedeutsamer Märchenfilm, der einen Vergleich mit seinen Genre-Kollegen nicht scheuen braucht. Trotzdem führt Nummer vier eher ein „Aschenputtel“-Dasein. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Es ist die sowjetische Filmversion des französischen Märchens „Aschenputtel oder Der kleine gläserne Schuh“ von Charles Perrault, das er bereits 1697 veröffentlichte – mehr als hundert Jahre vor dem „Aschenputtel“ der Brüder Grimm.
Anstatt auf Tauben und wundersamen Haselbaum setzte der Franzose lieber auf eine Patin mit feenhaften Zauberkräften, die Aschenputtel hilft, dem Prinzen auf dem Ball den königlichen Kopf zu verdrehen. Voilà! Doch das ist nicht der Grund, weshalb der sowjetische Drehbuchschreiber Jewgeni Schwarz Perraults galante Barockvariante für den Märchenfilm favorisiert. Diese kommt vielmehr dem besonderen Inszenierungsstil näher, in dem das Märchen mit dem russischen Titel „Soluschka“, übersetzt: „Aschenbrödel“, adaptiert werden soll.
Künstliches Dekor: Bäume aus Pappmaché, Natur auf Leinwand
Im Gegensatz zur „nationalen und stark naturverbundenen Ästhetik“ (Liptay) sowjetischer Märchenfilme – folkloristisch geprägt und überwiegend an Außenschauplätzen gedreht – trifft der Zuschauer in „Soluschka“ auf ein künstliches Dekor. Die Blumen, Sträucher und Bäume sind aus Pappmaché. Und Naturlandschaften werden auf Leinwände gemalt. Ein Atelierfilm in stilisierten Theaterkulissen. Alles dient offenbar einer „Derealisierung des Märchenmilieus, das sich durch betonte Künstlichkeit von der Alltagswelt absetzen will“.
Doch genau das wollen die Regisseure Nadeshda Koschewerowa und Michail Schapiro auch erreichen – ein „ironisches, Abstand wahrendes Verhältnis zu dem, was sie erzählten“ (Paramonowa). Aber warum? Das Märchen ist für beide nur ein Märchen. Trotzdem kann, nein, soll es einen Bogen in die Gegenwart spannen. Obwohl das nicht neu ist – das zeigen auch die drei Märchenfilm-Klassiker –, sind die theaterhaften, irrealen Drehorte, das eigentlich Neue.
Märchenfiguren spielen wie auf einer Theaterbühne
Das zeigt sich nicht nur bildlich, sondern auch sprachlich: Am Beginn des Films überbringt der Königliche Herold, ein nach der Überlieferung „fürstlicher Dienstmann, der über das Hofzeremoniell wacht“ (Bertelsmann Lexikon), eine Nachricht des „Märchenkönigs“ aus dem „Märchenland“ an sein Volk: Ein „märchenhaft schöner Ball“ findet statt, zu dem alle eingeladen sind. Diese wiederholt „märchenhaft“ ironischen Übertreibungen im Eingangsmonolog flankieren textlich das künstliche, unwirkliche Dekor des Settings. Alles wirkt ziemlich aberwitzig.
Ironisch, ja lächerlich, wirken auch die Figuren, die – nach den Regieanweisungen – ihre Rollen überzogen spielen, wie auf einer Theaterbühne: Da ist ein grotesker König (Erast Garin), durchaus volksnah und sympathisch. Gleichzeitig ist er aber überfordert, will mehrmals „abdanken“ und ins Kloster gehen. Oder Aschenbrödels Stiefmutter (Faina Ranewskaja): Eine aufgetakelte Frau, die mit ihren beiden Töchtern ein hartes Regiment führt und ihren schwachen Mann – Aschenbrödels Vater (Wasili Merkurjew) – am liebsten loswerden will.
Aschenbrödel: Puppe in Menschengestalt mit Heiligenschein
Als Abbild für ihren zudem hochmutigen Charakter werden ihr eine spitze Nase, Federn als Kopfschmuck und überbordende Rüschenkleider verpasst. Keine natürliche, sondern eine gekünstelte Schönheit. Und Aschenbrödel (Janina Schejmo)? Wie andere Figuren wirkt es typisiert, fast entrückt – wie eine Porzellanpuppe in menschlicher Gestalt. Eine kindliche Heldin mit goldblondem Haar, die bei Nahaufnahmen von ihrem Gesicht zusätzlich mit Gegenlicht ausgeleuchtet wird. Damit entsteht ein leichter Heiligenschein. Das Haar schimmert künstlich.
Nicht nur ein ironisches Zitat auf Filmdiven aus den 1930er-Jahren – Greta Garbo und Rita Hayworth sind „mehrfach in so einem Licht zu sehen“ (Mikos) –, sondern ein weiteres Beispiel für die konsequente Derealisierung der Märchenwelt in „Soluschka“. Und: Auch die aufwändige Tricktechnik trägt ihren Teil dazu bei, einer an der Realität orientierten Inszenierung entgegenzuwirken: Kürbisse werden zu Kutschen, Mäuse zu Pferden, eine Ratte zum Kutscher usw.
Männliche Figuren in „Soluschka“ stehen im Rampenlicht
Bleibt bei soviel Ironie noch Platz für neue erzählerische Ideen, die auch in der Gegenwart funktionieren? Klar. Drehbuchautor Jewgeni Schwarz haucht den noch bei Perrault blassen (oder nicht vorkommenden) männlichen Akteuren neues Leben ein: Neben dem König und Aschenbrödels Vater sind das der Prinz (Alexei Konsowskij) und ein Page (Igor Klimenkow) – der Zauberlehrling der Patin (Warwara Mjasnikowa), die Aschenbrödel als Mutterersatz beisteht.
Wenn der Prinz im Märchenfilm als anfangs stolz werbender und später liebeskranker junger Mann gezeigt wird, weil Aschenbrödel den Ball – und vor allem ihn – verlässt, so ist das gleichzeitig auch ein Abgesang auf eine in der Vergangenheit oftmals einseitige Prinzenfigur. Auch Königssöhne sind halt Jammerlappen. Dass der Page als Aschenbrödels Freund und zauberhafter Vermittler letztlich Prinz und Aschenbrödel in der Schlusssequenz zusammenführt, scheint da nur konsequent. Und bestätigt die Moral des Films, die eine Ode an die Freundschaft ist.
Gute Kritiken für „Soluschka“ in der SBZ
Als „Aschenbrödel“ erst in den Kinos der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und Anfang der 1950er-Jahre in der BRD und Westberlin uraufgeführt wird, ist die Kritik allerdings gemischt. Die Tageszeitungen, die ihre Lizenz von der sowjetischen Militärregierung erhalten und in der SBZ erscheinen, loben neben dem Schauspielensemble vor allem die Ausstattung des Märchenfilms:
Seltsam und faszinierend, wie sich in diesem Len-Film [sowjetische Filmproduktionsfirma, d. A.] Wirklichkeit und Phantastik vermengen. In einer Umrahmung von raffiniertester Kulisse, die uns ein Zauberreich von unnachahmlicher Schönheit und Pracht vorgaukelt, bewegen sich wirkliche Menschen, Menschen, deren Herzschlag man fast zu vernehmen glaubt. […] Ein hübscher Film, der die Erwachsenen erfreuen und von unseren Kleinen mit Jubel begrüßt werden wird. (Berliner Zeitung, 27.7.1947)
Das russische Aschenbrödel […] sieht wie ein kleines holländisches Meisje aus und die ersten Bilder, die aufblenden, haben fast Rembrandsches [sic!] Kolorit. […] Dieser Märchenfilm, der mit großem Prunk und viel Aufwand hergestellt ist, zeigt deutlich, daß man in der Sowjetunion den größten Wert auf gutes Kindertheater legt. […] (Neues Deutschland, 27.7.1947)
Dabei wird „Soluschka“ noch vor dem offiziellen Kinostart im Ostberliner „Haus der Kultur der Sowjetunion“ (ehemals „Palais am Festungsgraben“) in der russischen Originalversion gezeigt. In eigens veranstalteten Sonderaufführungen. Erst ab dem 14. November 1947, dem regulären Anlaufdatum, ist die DEFA-Synchronfassung in den ostdeutschen Filmtheatern zu sehen.
Schlechte Kritiken für „Soluschka“ im Westen
Drei Jahre später übernimmt u. a. der Düsseldorfer Rolandfilm-Verleih den Vertrieb in der 1949 gegründeten BRD. Darüber berichten sogar die DDR-Tageszeitungen „Neues Deutschland“ (16.3.1950) und „Berliner Zeitung“ (22.3.1950). Offenbar ist man ein bisschen stolz darauf, dass dieser „erfolgreiche sowjetische Märchenfilm“ – in Zeiten des Kalten Krieges – nun ebenso im Westen anläuft. Und das mit der ostdeutschen Synchronisation.
In den Westsektoren Berlins startet „Aschenbrödel“ am 24. Mai 1953. Dort zeigt sich die Filmkritik skeptischer. Die in Westberlin erscheinenden „Filmblätter“ honorieren zwar, dass der Film „den kindlichen Vorstellungen entsprechend gestaltet“ sei. Doch:
Die Erwachsenen, vom König und seinen Hofschranzen bis zu der bösen Stiefmutter und ihren eingebildeten Töchtern, wirken durch ihre bewußt übertriebene Spielart exaltiert. Ernst genommen wird eigentlich nur das Aschenbrödel und ihr Prinz. In der kulissenhaften Märchenwelt kam der eingedeutschte Dialog nicht immer deutlich heraus. Gleichwohl war die Reaktion auf das Kinderpublikum sehr stark: […] (Filmblätter, 29.5.1953)
Die damals in der BRD einflussreiche konfessionelle Filmpresse, wie die Katholische Filmkommission, kann dieser besonderen Märchenfilm-Inszenierung gar nichts abgewinnen:
Das Kindliche an Grimms Märchen wurde kindisch, das Ethische der Vorlage erscheint als plumpe Zeigefingertaktik, das Zauberhafte als handgreifliche Theatralik in Bild und Wort. Verkünstelte Banalität. (Handbuch V der Katholischen Filmkritik)
„Soluschka“ erst in Schwarz-weiß, später in Farbe
Auch wenn diese Stimmen heute überholt wirken: An den Erfolg von „Die steinerne Blume“ reicht die Aschenputtel-Adaption damals bei Weitem nicht heran. Vielleicht auch, weil „Soluschka“ damals nur in Schwarz-weiß zu sehen ist – und nicht in Farbe. Eine kolorierte Fassung des Films wird erst im 21. Jahrhundert entstehen und dabei zusätzliche Perspektiven der Interpretation eröffnen.
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Die schöne Wassilissa (UdSSR 1939): Heldenepos und Märchen
Menschen, Puppen, Irritationen: Das goldene Schlüsselchen (UdSSR 1939)
Ein uraltes Märchen (UdSSR 1968): Mini, Miezen und Mancini
Dennoch: Das Regiegespann Koschewerowa und Schapiro hat mit „Soluschka“ schon früh einen neuen Weg eingeschlagen, wie Märchen filmisch adaptiert werden können. Koschewerowa wird diesen Weg später konsequent weiter beschreiten, so in ihrem 1968 entstandenen Film „Ein uraltes Märchen“. Hier wie dort ist die Mischung aus Film, Theater und Musical – mit Gesangs- und Tanzeinlagen – eine Möglichkeit, das Märchen neu mit einem Augenzwinkern zu entdecken.
Film: „Aschenbrödel/Золушка“ (UdSSR, 1947, R: Nadeshda Koschewerowa und Michail Schapiro). Erscheint am 14.9.2018 auf DVD in Schwarz-weiß.
Literatur:
- Bertelsmann Universal Lexikon. Band 8. Gütersloh, 1993
- DEFA-Stiftung: Filmdatenbank Soluschka/Aschenbrödel (1947)
- Gr.: Russisches „Aschenbrödel“. Märchenfilm im „Haus der Kultur“. In: Berliner Zeitung (3) 1947, Nr. 173, 27.7.1947, S. 3.
- Handbuch V der katholischen Filmkritik: 6.000 Filme. Kritische Notizen aus den Kinojahren 1945/58. Im Auftrage der Kirchlichen Hauptstelle für Bild- und Filmarbeit hrsg. von der Katholischen Filmkommission für Deutschland. 4. Auflage Dezember 1980, Düsseldorf, S. 28.
- H. B.: Russischer „Aschenbrödel“-Film. In: Neues Deutschland (2) 1947, Nr. 171, 27.7.1947, S. 3.
- Klingenmaier, Thomas: Es war einmal / Die Schöne und das Tier. In: Filmgenres. Fantasy- und Märchenfilm. Hrsg. von Andreas Friedrich. Stuttgart, 2003, S. 41.
- Liptay, Fabienne: WunderWelten. Märchen im Film. Hrsg. von Thomas Koebner. Filmstudien. Band 26. Remscheid, 2004, S. 82, 137.
- Mikos, Lothar: Film- und Fernsehanalyse. Konstanz, 2008, S. 212.
- Olimsky, F. E.: Kulisse. Aschenbrödel. In: Filmblätter 6 (1953), [o. Nr.], 29.5.1953, [o. S.].
- Paramonowa, Kira K.: Wie schön sind diese Märchen! In: 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Hrsg. von Eberhard Berger und Joachim Giera. Berlin, 1990, S. 141.
- Perrault, Charles: Sämtliche Märchen. Mit zehn Illustrationen von Gustave Doré. Übersetzung und Nachwort von Doris Distelmair-Haas. Stuttgart, 1986, S. 95–104.
- [o. A.]: Aschenbrödel. In: Berliner Zeitung (6) 1950, Nr. 69, 22.3.1950, S. 3.
- [o. A.]: Aschenbrödel. In: Neues Deutschland (5) 1950, Nr. 64, 16.3.1950, S. 3.
Headerfoto: Die sowjetisch-polnische Schauspielerin Janina Schejmo als „Aschenbrödel“ / Quelle: Petershop GmbH