Auch wenn es viele Märchenfilme über „Aschenputtel“ gibt, so haben doch nur wenige Kultstatus erreicht. Die sowjetische Verfilmung „Soluschka“ von 1947 gehört dazu. Am 14. September 2018 erscheint der Film erstmals in deutscher Sprache auf DVD.

Kinoplakat „Золушка“ (dt. Aschenbrödel)
Die dritte wichtige Adaption ist „Das kalte Herz“ (DDR, 1950, R: Paul Verhoeven) – der erste Farbfilm der DEFA, meisterlich in Szene gesetzt mit außergewöhnlichen Trickaufnahmen. Wenngleich alle drei europäischen Filmklassiker – mal mehr, mal weniger direkt – Schrecken, Krieg und Neuanfang in märchenhafter Weise kommentieren, so sind es in der Rückschau doch immer wieder die fantasievollen Inszenierungen, die das Publikum bis heute faszinieren.
Frei nach Charles Perrault: „Soluschka“ – das sowjetische Aschenbrödel
Was nur wenige wissen: Im Schatten dieser drei Klassiker entsteht 1947 noch ein vierter bedeutsamer Märchenfilm, der einen Vergleich mit seinen Genre-Kollegen nicht scheuen braucht. Trotzdem führt Nummer vier eher ein „Aschenputtel“-Dasein. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Es ist die sowjetische Filmversion des französischen Märchens „Aschenputtel oder Der kleine gläserne Schuh“ von Charles Perrault, das er bereits 1697 veröffentlichte – mehr als hundert Jahre vor dem „Aschenputtel“ der Brüder Grimm.

Titelrolle: Die damals 38-jährige Janina Schejmo (1909–1987) spielt das „Aschenbrödel“ / Quelle: Petershop GmbH
Anstatt auf Tauben und wundersamen Haselbaum setzte der Franzose lieber auf eine Patin mit feenhaften Zauberkräften, die Aschenputtel hilft, dem Prinzen auf dem Ball den königlichen Kopf zu verdrehen. Voilà! Doch das ist nicht der Grund, weshalb der sowjetische Drehbuchschreiber Jewgeni Schwarz Perraults galante Barockvariante für den Märchenfilm favorisiert. Diese kommt vielmehr dem besonderen Inszenierungsstil näher, in dem das Märchen mit dem russischen Titel „Soluschka“, übersetzt: „Aschenbrödel“, adaptiert werden soll.
Künstliches Dekor: Bäume aus Pappmaché, Natur auf Leinwand
Im Gegensatz zur „nationalen und stark naturverbundenen Ästhetik“ (Liptay) sowjetischer Märchenfilme – folkloristisch geprägt und überwiegend an Außenschauplätzen gedreht – trifft der Zuschauer in „Soluschka“ auf ein künstliches Dekor. Die Blumen, Sträucher und Bäume sind aus Pappmaché. Und Naturlandschaften werden auf Leinwände gemalt. Ein Atelierfilm in stilisierten Theaterkulissen. Alles dient offenbar einer „Derealisierung des Märchenmilieus, das sich durch betonte Künstlichkeit von der Alltagswelt absetzen will“.

Helferfiguren: Die Patin (Warwara Mjasnikowa, M.) und ihr Zauberlehrling (Igor Klimenkow) / Quelle: Petershop GmbH
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Die schöne Wassilissa (UdSSR 1939): Heldenepos und Märchen
Menschen, Puppen, Irritationen: Das goldene Schlüsselchen (UdSSR 1939)
Ein uraltes Märchen (UdSSR 1968): Mini, Miezen und Mancini
Doch genau das wollen die Regisseure Nadeshda Koschewerowa und Michail Schapiro auch erreichen – ein „ironisches, Abstand wahrendes Verhältnis zu dem, was sie erzählten“ (Paramonowa). Aber warum? Das Märchen ist für beide nur ein Märchen. Trotzdem kann, nein, soll es einen Bogen in die Gegenwart spannen. Obwohl das nicht neu ist – das zeigen auch die drei Märchenfilm-Klassiker –, sind die theaterhaften, irrealen Drehorte, das eigentlich Neue.
Märchenfiguren spielen wie auf einer Theaterbühne
Das zeigt sich nicht nur bildlich, sondern auch sprachlich: Am Beginn des Films überbringt der Königliche Herold, ein nach der Überlieferung „fürstlicher Dienstmann, der über das Hofzeremoniell wacht“ (Bertelsmann Lexikon), eine Nachricht des „Märchenkönigs“ aus dem „Märchenland“ an sein Volk: Ein „märchenhaft schöner Ball“ findet statt, zu dem alle eingeladen sind. Diese wiederholt „märchenhaft“ ironischen Übertreibungen im Eingangsmonolog flankieren textlich das künstliche, unwirkliche Dekor des Settings. Alles wirkt ziemlich aberwitzig.

Weibliches Triumvirat: Die Stiefmutter (Faina Ranewskaja, M.) und ihre beiden Töchter / Quelle: Petershop GmbH
Ironisch, ja lächerlich, wirken auch die Figuren, die – nach den Regieanweisungen – ihre Rollen überzogen spielen, wie auf einer Theaterbühne: Da ist ein grotesker König (Erast Garin), durchaus volksnah und sympathisch. Gleichzeitig ist er aber überfordert, will mehrmals „abdanken“ und ins Kloster gehen. Oder Aschenbrödels Stiefmutter (Faina Ranewskaja): Eine aufgetakelte Frau, die mit ihren beiden Töchtern ein hartes Regiment führt und ihren schwachen Mann – Aschenbrödels Vater (Wasili Merkurjew) – am liebsten loswerden will.
Aschenbrödel: Puppe in Menschengestalt mit Heiligenschein
Als Abbild für ihren zudem hochmutigen Charakter werden ihr eine spitze Nase, Federn als Kopfschmuck und überbordende Rüschenkleider verpasst. Keine natürliche, sondern eine gekünstelte Schönheit. Und Aschenbrödel (Janina Schejmo)? Wie andere Figuren wirkt es typisiert, fast entrückt – wie eine Porzellanpuppe in menschlicher Gestalt. Eine kindliche Heldin mit goldblondem Haar, die bei Nahaufnahmen von ihrem Gesicht zusätzlich mit Gegenlicht ausgeleuchtet wird. Damit entsteht ein leichter Heiligenschein. Das Haar schimmert künstlich.

Disney-Stil: Die Ausstattung erinnert an Disney-Zeichentrickfilme wie „Cinderella“ (USA 1950) / Quelle: Petershop GmbH
Nicht nur ein ironisches Zitat auf Filmdiven aus den 1930er-Jahren – Greta Garbo und Rita Hayworth sind „mehrfach in so einem Licht zu sehen“ (Mikos) –, sondern ein weiteres Beispiel für die konsequente Derealisierung der Märchenwelt in „Soluschka“. Und: Auch die aufwändige Tricktechnik trägt ihren Teil dazu bei, einer an der Realität orientierten Inszenierung entgegenzuwirken: Kürbisse werden zu Kutschen, Mäuse zu Pferden, eine Ratte zum Kutscher usw.
Männliche Figuren in „Soluschka“ stehen im Rampenlicht
Bleibt bei soviel Ironie noch Platz für neue erzählerische Ideen, die auch in der Gegenwart funktionieren? Klar. Drehbuchautor Jewgeni Schwarz haucht den noch bei Perrault blassen (oder nicht vorkommenden) männlichen Akteuren neues Leben ein: Neben dem König und Aschenbrödels Vater sind das der Prinz (Alexei Konsowskij) und ein Page (Igor Klimenkow) – der Zauberlehrling der Patin (Warwara Mjasnikowa), die Aschenbrödel als Mutterersatz beisteht.

Vorbild: Figuren – wie hier das Jean-Marais-Double (r.) – zitieren „La Belle et la bête“ (F 1946) / Quelle: Petershop GmbH
Wenn der Prinz im Märchenfilm als anfangs stolz werbender und später liebeskranker junger Mann gezeigt wird, weil Aschenbrödel den Ball – und vor allem ihn – verlässt, so ist das gleichzeitig auch ein Abgesang auf eine in der Vergangenheit oftmals einseitige Prinzenfigur. Auch Königssöhne sind halt Jammerlappen. Dass der Page als Aschenbrödels Freund und zauberhafter Vermittler letztlich Prinz und Aschenbrödel in der Schlusssequenz zusammenführt, scheint da nur konsequent. Und bestätigt die Moral des Films, die eine Ode an die Freundschaft ist.
„Soluschka“ erst in Schwarz-weiß, später in Farbe
Als am 14. November 1947 das von der DEFA synchronisierte „Aschenbrödel“ erst in den Kinos der sowjetischen Besatzungszone und Anfang der 1950er-Jahre in der BRD und West-Berlin uraufgeführt wird, ist die Kritik durchaus wohlwollend. An den Erfolg von „Die steinerne Blume“ reicht die Adaption allerdings nicht heran. Vielleicht auch, weil „Soluschka“ damals nur in Schwarz-weiß zu sehen ist – und nicht in Farbe. Eine kolorierte Fassung des Films wird erst im 21. Jahrhundert entstehen und dabei zusätzliche Perspektiven der Interpretation eröffnen.

Romantisches Happyend: Aschenbrödel (Janina Schejmo) und der Prinz (Alexei Konsowskij) / Quelle: Petershop GmbH
Dennoch: Das Regiegespann Koschewerowa und Schapiro hat mit „Soluschka“ schon früh einen neuen Weg eingeschlagen, wie Märchen filmisch adaptiert werden können. Koschewerowa wird diesen Weg später konsequent weiter beschreiten, so in ihrem 1968 entstandenen Film „Ein uraltes Märchen“. Hier wie dort ist die Mischung aus Film, Theater und Musical – mit Gesangs- und Tanzeinlagen – eine Möglichkeit, das Märchen neu mit einem Augenzwinkern zu entdecken.
Film: „Aschenbrödel/Золушка“ (UdSSR, 1947, R: Nadeshda Koschewerowa und Michail Schapiro). Erscheint am 14.9.2018 auf DVD in Schwarz-weiß.
Literatur:
- Bertelsmann Universal Lexikon. Band 8. Gütersloh, 1993
- DEFA-Stiftung: Filmdatenbank (Aschenbrödel)
- Klingenmaier, Thomas: Es war einmal / Die Schöne und das Tier. In: Filmgenres. Fantasy- und Märchenfilm. Hrsg. von Andreas Friedrich. Stuttgart, 2003, S. 41.
- Liptay, Fabienne: WunderWelten. Märchen im Film. Hrsg. von Thomas Koebner. Filmstudien. Band 26. Remscheid, 2004, S. 82, 137.
- Mikos, Lothar: Film- und Fernsehanalyse. Konstanz, 2008, S. 212.
- Paramonowa, Kira K.: Wie schön sind diese Märchen! In: 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Hrsg. von Eberhard Berger und Joachim Giera. Berlin, 1990, S. 141.
- Perrault, Charles: Sämtliche Märchen. Mit zehn Illustrationen von Gustave Doré. Übersetzung und Nachwort von Doris Distelmair-Haas. Stuttgart, 1986, S. 95–104.
Headerfoto: Die sowjetisch-polnische Schauspielerin Janina Schejmo als „Aschenbrödel“ / Quelle: Petershop GmbH