Im sowjetischen Märchenfilm-Musical „Ein uraltes Märchen“ von 1968 hat der Zeitgeist Spuren hinterlassen – mit einer Prinzessin im Minikleid, westlicher Filmmusik und knutschenden Kerlen. Oчень хорошо.
Das Jahr 1968 ist in der heutigen Erinnerung vor allem das Jahr der Proteste und der Rebellion: Auf der einen Seite das „westliche“ 1968 mit Studentenrevolten, Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und dem Beginn der sexuellen Revolution – dem gegenüber das „östliche“ 1968 mit den Panzern des Warschauer Paktes in der ČSSR und der Niederschlagung des „Prager Frühlings“. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs ist das Jahr auch der Beginn, um neue Wege in der Filmproduktion zu gehen – nicht nur in Spielfilmen für Erwachsene, ebenso in Märchenfilmen für ein Kinderpublikum.
Überraschenderweise geht das bewegte 1968 auch an der sowjetischen Märchenfilmproduktion nicht spurlos vorüber. Der Streifen „Ein uraltes Märchen“ entsteht in jenem Jahr und ist – anders als der Titel vermuten lässt – ein ausgesprochen moderner, wenn nicht revolutionärer „68er-Märchenfilm“: Er spiegelt den westlichen Zeitgeist auf märchenhaft-fantastische Weise wider. Regie führt Nadeshda Koschewerowa, die bereits 1947 mit „Aschenbrödel“ versucht, das Genre umzukrempeln. Das heißt: keine russische Folklore, keine Birkenwälder, kein „Kalinka“. Gesungen und getanzt wird dennoch, aber anders.
Für Koschewerowa ist der Märchenfilm immer auch „ein Mittel zur Wiedergabe ihrer Gedanken über die Gegenwart“ (Paramonowa) – was in „Ein uraltes Märchen“ wunderbar funktioniert.
Frei nach Hans Christian Andersens „Das Feuerzeug“
Das eigentliche Märchen umspannt eine Rahmenhandlung: Ein armer Puppenspieler (Oleg Dal) führt in einem Wirtshaus mit seinen Marionetten ein Stück auf. Die Tochter (Marina Nejelowa) des Wirts verliebt sich in ihn. Beide wollen ein neues Leben beginnen und am frühen Morgen das Haus unbemerkt verlassen – ohne die Puppen. In der Nacht beginnt eine der Marionetten – der Soldat – zu sprechen und bittet den Puppenspieler, ihn und die anderen nicht im Stich zu lassen. Das verspricht der junge Mann zwar nicht, bittet aber den Soldaten und seine hölzernen Kameraden, für ihn ein Stück zu spielen. Der Vorhang des Puppentheaters öffnet sich und die Geschichte beginnt.
Aus den Puppen werden reale Märchenfiguren. Hans Christian Andersens „Das Feuerzeug“ bestimmt die Story: Ein Soldat, auch von Oleg Dal gespielt, findet ein Feuerzeug, mit dem er einen Zauberer rufen kann. Dieser erfüllt ihm alle Wünsche – auch den, die Prinzessin (Marina Nejelowa) zu sehen. Der Soldat verliebt sich in sie – doch sie erst einmal nicht in ihn. Der König (Wladimir Etusch) verspricht demjenigen seine Tochter, der ihre Rätsel löst. Trotz der richtigen Antworten landet der Soldat im Gefängnis. Mit Hilfe seines Feuerzeugs kann er den Zauberer rufen, der ihn befreit und den König dazu bringt, ihm seine Tochter zur Frau zu geben.
Derbe Dialoge – doppeldeutiger Schlagabtausch
Juli Dunksi und Valeri Frid, die das Drehbuch für „Ein uraltes Märchen“ schreiben, setzen in den Dialogen auf eine Sprache, die zwar der Gegenwart, aber nicht unbedingt dem Märchengenre entspricht. Das kommt dem modernistischen Anspruch und (unbewusst) dem 68er-Zeitgeist der Verfilmung entgegen. Die deutsche Synchronfassung des DEFA-Studios glättet die Texte nicht etwa – nein, sie übersetzt diese in ebenso freche und mitunter derbe Dialoge. So zum Beispiel als der Soldat eine böse Hexe bittet, ihn aus einem Brunnen wieder heraufzuziehen und ruft: „Sie können mich mal… (Pause)… hochziehen!“
Im verbalen Schlagabtausch zwischen dem verliebten Soldaten und der noch widerwilligen Prinzessin wird dagegen mit sexuellen Anspielungen gespielt. Das zeigt, dass sich der Märchenfilm nicht nur an Kinder wendet. Denn als die Prinzessin zum Soldaten meint „Im Bett gebe ich mich sanft wie ein schnurrendes Kätzchen und sonst zeige ich die Krallen!“, kann vor allem das erwachsene Publikum eine gewisse Doppeldeutigkeit erkennen. Gleichzeitig sind diese Dialoge ein Indiz für ein neues Frauenbild im sowjetischen Märchenfilm: Hier wollen Prinzessinnen weder keusch-enthaltsame noch sittsam-bescheidene Püppchen sein, sondern als Frauen ernst genommen werden.
Eine Prinzessin im Minikleid und im Negligé
Diese weibliche Selbstbestimmtheit ist vor allem auch in der Ausstattung (Szenenbild: Marina Asisjan) des Märchenfilms abzulesen, besonders in den Kostümen der Prinzessin. Als sie aus ihrem bodenlangen Kleid kurzerhand ein Minikleid schneidert und das mit den Worten kommentiert „Das ist doch hochmodern!“, befreit sie sich symbolisch auch von Zwängen. Der Märchenfilm will hier ein Zeichen für weibliches Selbstbewusstsein setzen – und Provokation. Ähnlich herausfordernd ist auch das Negligé der Prinzessin – eine hauchdünnes Damennachthemd, das sie trägt, als sie schlafend in ihrem Bett in die Dachkammer des Soldaten gezaubert wird.
Obwohl in diesen Szenen eindeutig Erotik anklingt und die Prinzessin – im Sinne der feministischen Filmtheorie – mittels eines „hegemonialen männlichen Blicks“ (Mulvey) zum „Objekt“ degradiert wird, liefert Regisseurin Nadeshda Koschewerowa immer wieder bemerkenswerte Brüche. Beispielsweise als die Prinzessin auch eine Pfeife rauchen möchte – so wie ihr männliches Pendant, der Soldat, das auch ganz selbstverständlich tun darf. Bisher hatten Prinzessinnen im Märchenfilm eher den Wunsch geäußert, dass ihnen die Schleppe getragen wird – jetzt fordern sie „Rechte“ ein, die bisher nur den Männern zustanden.
Filmmusik klingt nach Henry Mancinis „Moon River“
Doch „Ein uraltes Märchen“ zeigt auch ein modernes Männerbild. So spielt Oleg Dal in der Rolle des Soldaten mit Klischees – und hat sichtlich Freude daran. Als er sich in einer Schneiderwerkstatt neu einkleiden lässt und der Meister ihn unvorsichtigerweise mit einer Nähnadel sticht, schreckt er auf und schreit mit hoher Stimme „Ah!“ Diese Reaktion würde aber eher femininen Männern zugeschrieben werden – und nicht etwa Soldaten, die als hart im Nehmen gelten. Koschewerowa widerlegt hier mit einem Augenzwinkern Genderklischees und lässt diese durch ihre Figuren – zum Beispiel auch mit knutschenden Kerlen – ad absurdum führen.
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Das Märchen vom sowjetischen Aschenbrödel: Soluschka (UdSSR 1947)
Die steinerne Blume (UdSSR 1946) – oder: Das Geheimnis lebendiger Schönheit
Menschen, Puppen, Irritationen: Das goldene Schlüsselchen (UdSSR 1939)
Ebenso augenzwinkernd ist Andrej Petrows Filmmusik, die einerseits Anschluss an moderne Popmusikklänge sucht, andererseits eine bekannte Titelmelodie aus dem US-amerikanischen Film „Frühstück bei Tiffany“ (1961, Regie: Blake Edwards) zitiert. Henry Mancinis „Moon River“, das im Film von Audrey Hepburn gesungen wird und 1962 den „Oscar“ als bester Filmsong erhält, steht hörbar Pate für Petrows Liebesmotiv in „Ein uraltes Märchen“. Und so wie Holly Golightly (Audrey Hepburn) und Paul „Fred“ Varjak (George Peppard) in „Moon River“ kommen sich ebenso Prinzessin und Soldat bei den romantischen Klängen näher. Der sowjetische Märchenfilm ist damit auch musikalisch in der westlichen Gegenwart der 1960er-Jahre angekommen.
Film: „Ein uraltes Märchen“ (Originaltitel: Старая, старая сказка, UdSSR, 1968, Regie: Nadeshda Koschewerowa). Ist auf DVD erschienen.
Literatur:
- Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Nabakowski, Gislind u. a. (Hrsg.): Frauen in der Kunst. Bd. 1. Frankfurt a. M., 1980, S. 30–46.
- Paramonowa, Kira K.: Wie schön sind diese Märchen! In: Berger, Eberhard/Giera, Joachim (Hrsg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin, 1990, S. 141.
Headerfoto: Nein, das ist nicht das französische Sexsymbol Brigitte Bardot, sondern die sowjetische Schauspielerin Marina Nejolowa in der Rolle der Prinzessin in „Ein uraltes Märchen“ / Screenshot: Icestorm