Die sechs Schwäne (D 2012): Kunstgeschichte im Märchenfilm

Die sechs Schwäne (D 2012): Kunstgeschichte im Märchenfilm

Das Genre lässt sich in seiner Ausstattung gern von vergangenen Epochen inspirieren. Die ZDF-Verfilmung des Märchens „Die sechs Schwäne“ zeigt das im Besonderen – punktet zugleich aber auch erzählerisch.

Märchen über ein Mädchen, das seine verwunschenen Brüder sucht, sind keinesfalls selten. So findet sich bereits in Giambattista Basiles „Das Pentameron“ eine Geschichte mit dem Titel „Die sieben Tauben“ (1634). In dieser italienischen Version sucht ein Mädchen seine in Vögel verwandelten Geschwister.

Die sechs Schwäne (1946): Emil Lohse illustrierte es / Quelle: Grimm-Bilder Wiki

Die sechs Schwäne (1946): Emil Lohse illustrierte es / Quelle: Grimm-Bilder Wiki

Die Grimm’schen „Kinder- und Hausmärchen“ enthalten gleich mehrere Geschichten, in denen sich eine Prinzessin („Die sechs Schwäne“, 1812; „Die zwölf Brüder“, 1812) oder ein einfaches Mädchen („Die sieben Raben“, 1819) für die Brüder opfert und sie erlöst. Auch Ludwig Bechstein nahm die Geschichte von den sieben, in schwarze Vögel verwandelte Knaben in sein „Deutsches Märchenbuch“ (1845) auf.

Letztlich hat aber der Däne Hans Christian Andersen mit „Die wilden Schwäne“ (1838) unser Bild des Märchens, das auf den Erzähltyp „Das Mädchen, das seine Brüder sucht“ zurückgeht, am meisten geprägt – vor allem auch was Verfilmungen betrifft. Hier gilt bis heute der sowjetische Zeichentrickfilm „Die wilden Schwäne“ (1962, UdSSR, R: M./W. Zechanowski) als Klassiker.

Von „Die sieben Raben“ (1937) zu „Die sechs Schwäne“ (2012)

Freilich setzte hier der frühe deutsche Puppentrickfilm „Die sieben Raben“ (D, 1937, R: Ferdinand Diehl) ebenso Maßstäbe in der verwendeten Technik. Obgleich die Adaption aber nur bestimmte Motive übernahm.

Die sieben Raben (1937): Filmplakat / © Norddeutscher Film-Verleih

Die sieben Raben (1937): Filmplakat / © Norddeutscher Film-Verleih

Hier verflucht, wie bei den Grimms, ein Vater seine sieben Söhne („ich wollte, dass die Jungen alle zu Raben würden“), weil sie zur Nottaufe der schwächlichen Tochter aus Versehen einen Wasserkrug in den Brunnen fallen lassen. Plötzlich fliegen sie wirklich als kohlrabenschwarze Vögel zu einem gläsernen Berg (vgl. Grimm 1980, S. 154).

Dann fabuliert der NS-Puppentrickfilm allerdings weiter nach „Die sechs Schwäne“: Um seine Brüder zu erlösen, muss das Mädchen sieben Jahre schweigen und sieben Hemden spinnen. Während dieser Zeit wird es von einem Fürsten im Wald entdeckt, der sich in das Mädchen verliebt und sie zur Königin macht. Doch der Fluch wirkt weiter. Ihre neugeborenen Kinder verwandeln sich in Raben …

Auch der ZDF-Märchenfilm „Die sechs Schwäne“ von 2012 orientiert sich an diesem Erzählmuster – und verwendet Grundmotive und Figuren aus dem Grimm’schen „Sieben Raben“ (Drehbuch: Inès Keerl).

Das Mädchen Constanze (Sinja Dieks), dessen Vater (Anton Algrang) seine sechs Söhne ebenso verwünschte, als sie einst einen Wasserkrug zerbrachen, kommt auch aus einfachen Verhältnissen – und ist nicht wie im Grimm’schen „Schwäne“-Märchen eine Prinzessin, die vor ihrer bösen Stiefmutter fliehen muss.

Eltern-Kind-Konflikte bestimmen ZDF-Märchenfilm

Damit entfällt zwar die sogenannte Fallhöhe, wenn jene adlige Königstochter eine Leidensgeschichte durchlebt und unstandesgemäß mehrere Jahre einsam und verlassen im Wald ausharren muss.

Dennoch nimmt das Publikum Anteil an dem Schicksal der einfachen Constanze, wenn das Mädchen unter Schmerzen aus Brennnesseln Hemden weben muss, um seine Brüder zu erlösen. Dabei soll die Brennnessel – die schon bei Andersen, aber nicht bei den Grimms erwähnt wird – Hexen abwehren und als Orakelpflanze „Auskunft über Leben u[nd] Tod“ (Harmening 2005, S. 85) geben.

Die sechs Schwäne (2012): Constanze (Sinja Dieks) harrt bei Kälte im Wald aus / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (2012): Constanze (Sinja Dieks) harrt bei Kälte im Wald aus / © ZDF/Steffen Junghans


Die sechs Schwäne (2012): Eines der Hemden aus Brennnesseln ist fertig / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (2012): Eines der Hemden aus Brennnesseln ist fertig / © ZDF/Steffen Junghans


Jenseits dieses Aberglaubens, der in Märchen oftmals unbewusst mitschwingt, sind es vor allem Eltern-Kind-Konflikte, die in Drehbuch und Film verstärkt werden. Einerseits entwickelt sich ein Vater-Tochter-Konflikt zwischen Constanze und ihrem Vater. Er verschwieg ihr jahrelang, dass sie noch sechs Brüder hat und tat – in den Augen seiner Kinder – offenbar zu wenig, um seine Söhne wiederzufinden. Constanze lastet ihm das an.

Filmsprache unterstützt Vater-Tochter-Konflikt

Als sie ihr Elternhaus verlässt, macht sich wenig später der Vater auf die Suche nach seiner Tochter. Filmsprachlich wird das anfangs auch mit Zwischenschnitten ‚erzählt’, das heißt: Szenen, die abwechselnd Constanze oder den Vater zeigen (Schnitt: Melanie Werwie).

Im weiteren Verlauf greift er immer stärker ins Geschehen ein und hilft letztlich mit, dass sich alles zum Guten wendet. Der Vater ist somit, wie noch in den Vorlagen, keine geschlossen konzipierte Figur mehr, sondern ein offener konzipierter Typ, bei dem sich zwar zu Beginn Widersprüche im Charakter auftun, der sich aber (weiter-)entwickelt.

Königin Sieglinde ist gegen Heirat ihres Sohnes

Neben dem Vater-Tochter-Konflikt existiert ebenso ein Mutter-Sohn-Konflikt – allerdings auf einer anderen, sozial höheren Ebene: zwischen Königin Sieglinde (Julia Jäger) und Kronprinz Markus (André Kaczmarczyk, „Allerleirauh“). Obgleich diese Auseinandersetzung bereits in der Grimm-Vorlage „Die sechs Schwäne“ angelegt ist, potenziert der Märchenfilm diese um ein Vielfaches – auch, um die einzelnen Charaktere tiefgehender zu beschreiben.

Die sechs Schwäne (2012): Constanze (Sinja Dieks) und Markus (André Kaczmarczyk) / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (2012): Constanze (Sinja Dieks) und Markus (André Kaczmarczyk) / © ZDF/Steffen Junghans


Die sechs Schwäne (2012): Das Licht der Liebe im eher düster fotografierten Märchenfilm / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (2012): Das Licht der Liebe im eher düster fotografierten Märchenfilm / © ZDF/Steffen Junghans


Dabei wird die Königin als geschlossen konzipierter, böser Charakter inszeniert, der von Beginn an eine Beziehung zwischen Markus und Constanze verhindern will. Kameratechnisch zeigt sich das beispielsweise in der Szene, in der sich das junge Brautpaar dem jubelnden Volk zeigt.

Die Königin ist in diesem Bild so positioniert, dass sie ‚zwischen’ den beiden Frischvermählten steht (Kamera: Konstantin Kröning). Die Kamerasicht reflektiert damit auch menschliche Konflikte und verweist prophetisch auf die kommenden bösartigen Pläne von Königin Sieglinde, ihrer Schwiegertochter zu schaden. Am Ende soll Constanze auf dem Scheiterhaufen brennen.

Kunstgeschichte im deutschen Märchenfilm

Diese und andere Bilder entstanden in und vor thüringischen Burgen, zum Beispiel in Querfurt, Schlössern und Klosteranlagen und fügen sich damit kongenial in das Szenenbild (Tom Hornig) ein, das sich das Spätmittelalter zum Vorbild nimmt.

Arnolfini-Hochzeit (1434): Sie stammt vom flämischen Maler Jan van Eyck / Quelle: Wikimedia Commons

Arnolfini-Hochzeit (1434): Sie stammt vom flämischen Maler Jan van Eyck / Quelle: Wikimedia Commons


Die sechs Schwäne (2012): Hofmeister (H. Peker), Königin (J. Jäger) / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (2012): Hofmeister (H. Peker), Königin (J. Jäger) / © ZDF/Steffen Junghans


Dabei scheint es, dass sich einige Kostüme an populäre Gemälde des 15. Jahrhunderts orientieren. Königin Sieglinde und ihr willfähriger Helfer, Hofmeister Otto (Henning Peker), erinnern in ihrem Äußeren an ein Doppelporträt des flämischen Malers Jan van Eyck (* um 1390–1441). Es entstand 1434 und trägt den Titel „Arnolfini-Hochzeit“.

So gleicht das mit Pelz besetzte Obergewand und der große schwarze Hut des Porträtierten im Stil durchaus der Kleidung des Hofmeisters (Kostümbild: Friederike Tabea May). Dass sich Kostüm- aber auch Szenenbildnerinnen und -bildner an Kunstwerken vergangener Jahrhunderte orientieren, ist indes nicht neu. Gerade die „Arnolfini-Hochzeit“ macht das an einem anderen Detail noch deutlich.

Requisit: „Schneewittchen“ (1961, l.), „Arnolfini-Hochzeit“ (1434, r.) / © Progress/Karin Blasig/Wikimedia Commons

Requisit: „Schneewittchen“ (1961, l.), „Arnolfini-Hochzeit“ (1434, r.) / © Progress/Karin Blasig/Wikimedia Commons


Der runde Konvexspiegel an der Wand im Hintergrund kann auch das Vorbild für den Spiegel der bösen Königin aus dem DDR-Märchenfilm „Schneewittchen“ (1961) gewesen sein. Der Rahmen des Originals ist im Übrigen in zehn Segmente eingeteilt, die Bilder mit der Leidensgeschichte Jesu enthalten. Diese Details wurden – wenn dem tatsächlich so war – verständlicherweise nicht in das nachgebaute DDR-Requisit übernommen.

Neue Erzählideen: Dreizahl, Handschuh, Hilfe

Doch es sind neben diesen filmischen auch immer wieder die erzählerischen Ideen, mit denen „Die sechs Schwäne“ punkten und die einerseits neu eingefügt werden, andererseits aber auch das im Märchen Typische wiedergeben. So reitet der Prinz dreimal in den Wald zur Jagd, in dem sich auch Constanze befindet – doch erst beim dritten Mal lernen sich beide näher kennen.

Die Dreizahl-Bauformel – vergleichbar mit dem Bestehen von drei Aufgaben –, die nicht in der Märchenvorlage auftritt, gleicht einer ‚Verneigung’ vor dem Stil der Gattung Märchen und beweist, dass diese Formeln auch in Modernisierungen elegant funktionieren. Und zudem Raum für zusätzliche Details bieten.

Die sechs Schwäne (2012): Der Handschuh hilft Constanze (Sinja Dieks) bei ihrer Aufgabe / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (2012): Der Handschuh hilft Constanze (Sinja Dieks) bei ihrer Aufgabe / © ZDF/Steffen Junghans


Die sechs Schwäne (2012): Ein böser Fluch liegt auf den sechs Brüdern / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (2012): Ein böser Fluch liegt auf den sechs Brüdern / © ZDF/Steffen Junghans


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Denn bei einem der Jagdausritte verliert der Prinz seinen rechten Handschuh. Constanze nimmt ihn an sich. Obgleich der Handschuh im Mittelalter auch als Liebespfand zwischen Ritter und Adelsfrau diente und hier schon auf die Liebe zwischen Markus und Constanze verweist, erfüllt er in „Die sechs Schwäne“ noch eine zweite Funktion:

Constanze zieht ihn an. Er hilft ihr dabei, die Schmerzen an ihren Händen zu lindern, wenn sie für ihre Brüder die Erlösungshemden aus Brennnesseln näht. Am Ende wird sie dennoch allein und dank ihrer Charaktereigenschaften – Wille, Mut, Stärke und Liebe – die aufgegebene Aufgabe meistern. Damit die Hemden die sechs Schwäne wieder in sechs Brüder verwandeln.

Film: „Die sechs Schwäne“ (BRD, 2012, R: Karola Hattop). Ist auf DVD erschienen.

Drehorte:

  • Burg Querfurt, 06268 Querfurt
  • Geiseltalsee, Hafenplatz 6, 06249 Mücheln (Geiseltal)
  • Kloster Pforta, Saalberge 73, 06628 Naumburg/Saale, OT Bad Kösen
  • Museum Kloster und Kaiserpfalz Memleben, Thomas-Müntzer-Straße 48, 06642 Kaiserpfalz, OT Memleben
  • Schloss Neuenburg, Schloss 1, 06632 Freyburg (Unstrut)
  • Ziegelrodaer Forst (Waldgebiet in Sachsen-Anhalt, an der Grenze zu Thüringen)

Verwendete Quellen:

  • Brüder Grimm: Die sechs Schwäne. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 1, S. 251–256.
  • Brüder Grimm: Die sieben Raben. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 1, S. 154–156.
  • van Eyck, Jan: Arnolfini-Hochzeit (1434). In: arts & meditation (abgerufen: 29.9.2022)
  • Grimm-Bilder Wiki: Die sechs Schwäne (Illustrationen). (abgerufen: 29.9.2022)
  • Harmening, Dieter: Brennnessel. In: Ders.: Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart, 2005, S. 84f.
  • [o. A.]: Filmburg. Realisierte Filmprojekte: Die sechs Schwäne (2012). In: Burg Querfurt (abgerufen: 29.9.2022)


Headerfoto: Die sechs Schwäne (D 2012): Kronprinz Markus (André Kaczmarczyk) und Königin Sieglinde (Julia Jäger) / © ZDF/Steffen Junghans

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