Dicke Menschen werden diskriminiert – auch im deutschen Märchenfilm, zum Beispiel wenn weibliche Hauptrollen vergeben werden. Denn immer erobert ein gertenschlankes Mädchen den Prinzen. Damit ist jetzt Schluss.
Das Märchen lebt von Kontrasten – gerade auch, was das Äußere der Figuren betrifft. Oft wird von einfachen Bauernburschen oder privilegierten Prinzessinnen erzählt, deren Schönheit häufig mit einem guten Charakter einhergeht. Freilich werden damit immer auch Idealgestalten beschrieben, vor allem, wenn es sich bei diesen Figuren um den Helden oder die Heldin der Geschichte handelt.
Der (deutsche) Märchenfilm hat seit seinen Anfängen diese Vorgaben zumeist unkritisch übernommen. Schönheit, oder sagen wir besser: körperliche Attraktivität, wurde dabei sowohl im vergangenen als auch im jetzigen Jahrhundert zugleich mit graziler oder sportlicher Schlankheit und einem sogenannten Idealgewicht gleichgesetzt. ‚Unschlanke’ junge Menschen in positiv besetzten Hauptrollen bot das Genre dem Publikum nie an.
‚Dicke’ Männer spielen Diener und Bösewichte
Vermeintlich ‚dicke’ Männer wurden dafür in Nebenrollen abgedrängt, zum Beispiel Lennart Matthiesen als Diener Leo in „Die Salzprinzessin“ (D 2015). In anderen ARD-Märchenfilmen mussten sie einen der ‚bad guys’ spielen wie Matthias Kelle als hinterlistiger Fürstensohn Gebhard in „Die drei Federn“ (D 2014).
Oder sie überzeugten mit ihrem ganzen Gewicht im komödiantischen Fach: Daniel Zillmann als tückischer Vetter in „Die kluge Bauerntochter“ (D 2009) oder als zwiespältiger Herzog Kunz der Schlemmer im ZDF-Märchen „Zwerg Nase“ (D 2021) ist hier zu nennen.
Dass das öffentlich-rechtliche (Märchen-)Fernsehen offenbar Probleme damit hatte, ‚dicke’ Nebenrollen auch mit ‚dicken’ Schauspielern zu besetzen, zeigte sich im ARD-Märchenfilm „Sechse kommen durch die ganze Welt“ (D 2014). Der eigentlich schlanke Anton Rubtsov („Deutschland 89“, 2020) spielt darin den starken Lukas – und bindet sich dafür eine Bauchattrappe um.
Ein ähnliches, einseitig schlankes Bild zeigte sich bislang auch bei den weiblichen Hauptrollen. Doch diese Zeit scheint vorbei, wie der neue ARD-Märchenfilm „Zitterinchen“ in der Regie von Luise Brinkmann beweist. Dabei reiht sich die Vorlage von Ludwig Bechstein (1801–1860), deren Titel auf ein vor Kälte zitterndes Hündchen zurückgeht, das vorm Ertrinken gerettet wird, durchaus wieder in die typische märchenhafte Idealwelt des 19. Jahrhunderts ein.
Worüber erzählt das Märchen „Zitterinchen“?
So erzählt die Geschichte von den beiden Waisenkindern Christinchen und Abraham. Sie, „eine herrlich aufblühende Schönheit, die nicht ihres Gleichen hatte weit und breit“, und er, „ein kräftiger Jüngling“ (Bechstein 2011, S. 285), der immer ein Porträt seiner Schwester bei sich trägt. In jenes verliebt sich ein Graf, der Christinchen heiraten möchte.
Doch eine Amme und eine Kammerfrau möchten das verhindern. Sie stürzen das nichtsahnende Mädchen in einen Fluss. Mit Hilfe von Wassernixen und dem sprechenden Hündchen Zitterinchen – das eigentlich eine verzauberte Prinzessin ist – wendet sich aber alles zum Guten und der Graf kann am Ende Christinchen heiraten.
Zwei unterschiedliche Schwestern
Das Autorenduo Anja Kömmerling und Thomas Brinx, das bislang für zwölf ARD- und ZDF-Märchenfilme das Drehbuch verfasste, entstaubt die etwas süßliche Vorlage allerdings kräftig. Mehr noch: Es verwendet aus dem Originalmärchen nur noch einzelne Motive und krempelt das Figurenensemble um – vor allem was ein schlankheitsidealisierendes Märchenbild betrifft.
Statt eines Bruder-Schwester-Paares entscheidet sich das ARD-„Zitterinchen“ für zwei unterschiedliche Schwestern in den Hauptrollen: hier die grazile, zarte und selbstbewusste Christine, gespielt von Flora Li Thiemann („Die Schneekönigin“, 2014), dort die mehrgewichtige – so der politisch korrekte Begriff –, sympathische, aber unsichere Alma (Annika Krüger), die allerdings ein großes Talent zum Porträt- und Pflanzen-Malen besitzt. Dennoch mögen sich beide Schwestern und sind unzertrennlich.
Almas Unsicherheit wird zwar nicht explizit damit begründet, dass sie mit ihrem Aussehen hadert und sich deshalb weniger attraktiv findet. Dennoch kann das eine Lesart sein. Dabei werden die zwei unterschiedlichen Frauen(körper)bilder hier nicht gegeneinander ausgespielt, sondern vielmehr gleichberechtigt nebeneinander gestellt. Diversität im Märchenfilm.
Figuren mit Migrationshintergrund
Diese Vielfalt erweitert die ARD-Adaption zudem auf die Herkunft der Akteurinnen und Akteure vor der Kamera. Ein Trend, der sich beim öffentlich-rechtlichen Märchenfilm von ARD und ZDF erst seit 2020 durchgesetzt hat, vereinzelt aber auch schon Mitte der 2010er-Jahre auftrat („Die Salzprinzessin“, 2015; „Das Wasser des Lebens“, 2017).
So spielt die deutsch-vietnamesische Schauspielerin Mai Duong Kieu in „Zitterinchen“ eine der Wassernixen und der im Irak geborene Aram Arami übernimmt die Rolle des Grafen, der hier ein Prinz ist (Casting: Annekathrin Heubner). Arami, den das Publikum bereits aus „Fack ju Göhte“ (D 2013–2017) und „Die Drei von der Müllabfuhr“ (D 2020–2022) kennt, spielt einen etwas verkopften, in die Botanik verliebten Königssohn.
Kein Wunder, dass er sich statt im Thronsaal lieber im Gewächshaus aufhält. Gedreht wird dafür vor der Orangerie im Schloss Belvedere (Weimar) sowie im Botanischen Garten Jena und vor einem der drei Dornburger Schlösser: Es ist das 1737 erbaute Rokoko-Gebäude (Szenenbild/Set Design: Jenny Roesler).
Alexander von Humboldt und Prinz Philip
Das historische Vorbild für die Leidenschaft des Filmprinzen mag kein Geringerer als der Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859) gewesen sein. Er, der zwischen 1799 und 1804 Lateinamerika bereiste und Tausende exotische Pflanzen sammelte und dokumentierte, ließ viele seiner botanischen Funde später von kunstfertigen Illustratoren zeichnen.
Auch Prinz Philip möchte die Pflanzen seines Gewächshauses bildlich dokumentieren. Deshalb stellt er die malerisch begabte Alma ein, die sich mehr und mehr als seine Seelenverwandte entpuppt, sich aber nicht eingestehen möchte, in Philip verliebt zu sein. Doch als er Almas Zeichnung von ihrer schönen Schwester Christine entdeckt, verliebt er sich plötzlich Hals über Kopf in das Porträt und möchte das ihm noch unbekannte Mädchen unbedingt heiraten.
Marie-Antoinette und Irm von Thalheim
Wären da nicht zwei Gegenspielerinnen, die diesen Hochzeitsplan vereiteln wollen, und Alma zudem als „pummeliges“ Bauerntrampel abtun: die finanzklamme Cäcilie Baronin von Thalheim (Justine Hauer) und ihre Tochter Irm (Julia Windischbauer). Letztere möchte den Prinzen Philip ehelichen – und schreckt dabei nicht vor Lug und Trug zurück.
Beide adlige Frauen, die auf dem sanierungsbedürftigen Schloss Crossen residieren, werden in ihrer äußeren Erscheinung (Kostüme: Saskia Richter-Haase, Maske: Jana Lindner) als ‚gestrige’ Figuren inszeniert – vor allem im Hinblick auf das Setting des Märchenfilms: der Beginn des 19. Jahrhunderts.
Ihre extravaganten, künstlichen Turmfrisuren (franz.: Pouf) spiegeln daher die Mode des vergangenen, späten 18. Jahrhunderts, in der die Stilikone dieser Zeit, die französische Königin Marie-Antoinette (1755–1793), jene bei offiziellen Terminen trug. Die beiden Thalheims wirken damit bildlich umso mehr als Kontrastfiguren zu den natürlich-einfach frisierten Schwestern Christine und Alma.
Diesen Gegensatz unterstützt in der Figur der Baronin letztlich auch die Haar- und Kostümfarbe Lila, die in der (Märchen-)Filmgeschichte seit jeher den bösen (weiblichen) Charakteren zugewiesen wurde (z. B. Königin in „Schneewittchen und die sieben Zwerge“, USA, 1937; Meereshexe Ursula in „Arielle, die Meerjungfrau“, USA, 1989).
Vincent van Gogh und Jan Vermeer
Ohnehin scheint es die Filmemacherinnen und -macher gereizt zu haben, mit den Ikonen der Film-, aber auch Kunstgeschichte zu spielen, diese bisweilen sogar zu parodieren: So bewirbt sich ein Johannes van Goth bei Prinz Philip als Hofmaler: Dessen Name erinnert an Vincent van Gogh (1853–1890).
Oder als Alma die Dienerin der Thalheims zeichnet: Deren Porträt gleicht dem bekannten Gemälde „Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ (1665) vom holländischen Maler Jan Vermeer (1632–1675).
Diese und andere intertextuellen Verweise erschließen sich allerdings nur einem erwachsenen Publikum. Die jüngsten Zuschauerinnen und Zuschauer werden hingegen mit der Titelfigur Zitterinchen (im wirklichen Leben: Resi) mitfiebern – auch weil besonders Kinder Tiere als menschenähnlich empfinden und zu ihnen ein spezielles Verhältnis haben.
Die neue Schönheit im Märchenfilm
Denn im Gegensatz zur Vorlage, in der die Rettung des Hündchens nur beiläufig erwähnt wird, und das Tier erst am Ende seinen großen Auftritt hat, wird Zitterinchen schon ganz zu Beginn in die Filmhandlung eingebunden und sinnhaft in die Story integriert – zum Beispiel als Überbringer von (Liebes-)Briefen zwischen Christine und Philip oder als ‚Spürhund’, der die Schwestern vor gefährlichen Situationen ‚warnt’ und am Ende mit für ein glückliches Ende sorgt.
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Der Geist im Glas (D 2021): Ein Märchenfilm als ‚realistische’ Geschichte
Erwartbar unerwartbar: Helene, die wahre Braut (D 2020)
Der starke Hans (D 2020): Weniger Ideologie, mehr Fantasie!
Das Märchen vom goldenen Taler (D 2020): Hans Geiz, was nun?
Das aber anders verläuft als gedacht – und das gilt gerade für Alma selbst. Weil der Märchenfilm, und eben auch die männliche Hauptfigur Prinz Philip, dabei eine neue Schönheit entdeckt, die konventionelle Happy-End-Bilder und schlankheitsidealisierende Gesellschaftsnormen endlich hinter sich lässt.
Film: „Zitterinchen“ (BRD, 2022, R: Luise Brinkmann). Ist auf DVD erschienen.
TV-Sendetermin: „Zitterinchen“, 25.12.2022 (1. Weihnachtstag), Das Erste, 14.40 Uhr
Drehorte:
- Botanischer Garten Jena, Fürstengraben 26, 07743 Jena
- Dornburger Schlösser, Max-Krehan-Straße 5, 07774 Dornburg/Saale
- Orangerie Belvedere, Schloss Belvedere, 99425 Weimar
- Schloss Crossen, Schlossberg 3, 07613 Crossen a. d. Elster
Verwendete Quellen:
- Bechstein, Ludwig: Zitterinchen. In: Sämtliche Märchen. Vollständige Ausgabe der Märchen Bechsteins nach der Ausgabe letzter Hand unter Berücksichtigung der Erstdrucke. Mit 187 Illustrationen von Ludwig Richter. Mannheim, 2011, S. 285–288.
- Lack, H. Walter: Alexander von Humboldt und die botanische Erforschung Amerikas. München, 2009.
- [o. A.]: Kinder und Tiere. In: Lexikon. Erna-Graff-Stiftung für Tierschutz (abgerufen: 16.11.2022)
Headerfoto: Christine (Flora Li Thiemann, l.) und Alma (Annika Krüger) mit Zitterinchen (Resi) / Foto: MDR/HR/RB/Kinderfilm GmbH/Anke Neugebauer
Selten einen schauspielerisch so schlechten Film gesehen. Kommt einen vor wie die Premierenvorstellung eines Abiturjahrgangs, der leider zu wenig Zeit zum Proben hatte.
Lieber Ron … du hast Probleme … bald werden unsere Kinder gendergerechte Dialoge im Märchen ertragen müssen. Früher waren Märchen was für Kinder, jetzt sind sie von moralisierenden Erwachsenen für die politische Erwachsenenbildung gedacht und gemacht. Ich werde mir schnell noch Grimms Märchen in der Originalausgabe kaufen, bevor die verboten wird …