Im Grimmmärchen hütet sie nur das schnatternde Federvieh: die Gänsehirtin am Brunnen. Im neu betitelten ARD-Film der Reihe „Sechs auf einen Streich“ will sie ein ganzes Land aus seiner Lethargie erwecken – und steigt am Ende zur Königin auf.
Schon der Forscher Walter Scherf (1920–2010) meinte einst, dass das Märchen „Die Gänsehirtin am Brunnen“ in seiner Handlung „nicht besonders klar“ (Scherf 1995, S. 381) sei, oder anders gesagt: aus verschiedenen Versatzstücken zusammengesetzt. Die Brüder Grimm hatten es erst in die fünfte, 1843 veröffentlichte Auflage ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ aufgenommen.Dabei bietet die Geschichte überaus klassische Märcheningredienzien, zum Beispiel gleich zu Beginn das populäre Salzmotiv, wenn die jüngste Tochter – die spätere Gänsehirtin – eines Königs meint, sie liebe ihn so sehr wie das Salz und daraufhin von ihm verstoßen wird.
Oder magische Verwandlungen, wenn das schöne Mädchen bei einer Hexe/weisen Frau unterkommt, die es aber unkenntlich macht. Tagsüber hütet die Königstochter deren Gänse. Nur beim Waschen an einem Zauberbrunnen, kann sie ihre Hässlichkeit abstreifen. Zudem verwandeln sich ihre Tränen in leuchtende Perlen.
„Der kleine Muck“ (1944) und „Die Salzprinzessin“ (2015)
Dennoch: „Die Gänsehirtin am Brunnen“, jene „mit spätromantischer Breite ausgemalte Erzählung“ (ebd.), oder einzelne Motive des Märchens blieben vergleichsweise wenig beachtet vom deutschen Märchenfilm.
Zwei der wenigen Beispiele sind die in eine Gänsetrine verwünschte und Perlen weinende Königstochter im NS-Märchenfilm „Der kleine Muck – ein Märchen für große und kleine Leute“ (D 1944) oder die vom Vater verstoßene Tochter im ARD-Film „Die Salzprinzessin“ (D 2015).
DDR-Märchenfilm „Die Gänsehirtin am Brunnen“ (1979)
Eine löbliche Ausnahme ist zudem ein 1979 von der DEFA produzierter DDR-Fernsehfilm in der Regie von Ursula Schmenger: „Die Gänsehirtin am Brunnen“ verwendet nicht nur einzelne Motive, sondern versucht – wie der gleichnamige Titel andeutet –, sich der Vorlage zu stellen.
Zwar schimmert in der TV-Bearbeitung die sozialistische Weltanschauung ein wenig zu deutlich durch, wenn der herzlose und standesbewusste König Albrecht seiner volksnahen Tochter Marie mehrmals „den Umgang mit Gesindekindern untersagt“ und sie mit einem Sack Salz auf dem Rücken aus dem Schloss wirft.
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TV-TIPP
Die Gänsehirtin am Brunnen (1979): Hier den Film in der MDR-Mediathek anschauen.
Doch werden zum Beispiel der männlichen Hauptfigur – in der Vorlage ein junger Graf, in der Bearbeitung der Sohn eines Schmieds – drei (!) neue Prüfungen auferlegt. Der Held muss erst lernen, dass Macht und Reichtum vergänglich sind, um am Ende zu erkennen, dass es Liebe ist, für die es sich zu kämpfen lohnt.
„Die Gänseprinzessin“ (2022) als neuer ARD-Märchenfilm
Das geht 1979 allerdings auf Kosten der weiblichen Hauptfigur, der Gänsehirtin/Königstochter Marie. Sie gerät dadurch in den Hintergrund und ist im Ergebnis zu passiv gezeichnet. Jetzt – über 40 Jahre später – hat sich die ARD das Grimm’sche Märchen erneut vorgenommen.
Und der neue Titel „Die Gänseprinzessin“ gibt schon einmal die Richtung vor: Der Brunnen als das symbolisch aufgeladene Märchenmotiv – bekannt aus „Frau Holle“, „Das blaue Licht“, „Der Froschkönig“, „Hans im Glück“, „Der Eisenhans“ und eben aus „Die Gänsehirtin am Brunnen“ – entfällt. Und das nicht nur im Märchentitel, sondern auch in der Handlung.
… und dann kam Polly
Vielmehr rücken die beiden Drehbuchschreiberinnen Katrin Milhahn („Mondscheinkinder“, D 2006) und Antonia Rothe-Liermann („Barbaren“, D 2022) die Titelfigur – und nicht etwa deren Erlösung in den Mittelpunkt der Geschichte. Denn erlöst muss die fröhliche, oft Witze erzählende Prinzessin Apollonia, genannt Polly (Mina Christ), nicht werden.
Obgleich sie, wie ihre Eltern König Klaus (Johann von Bülow) und Königin Kunigunde (Regula Grauwiller), um ihren Bruder Nepomuk (Jascha Baum) trauert, der vor Jahren spurlos verschwand, lässt sie sich ihre Lebensfreude nicht verbieten. Gleichwohl legt sich die von oben ‚angeordnete’ Trübsal wie ein grauer Schleier über Land und Königshof. Im Volk rumort es langsam. Widerstand formiert sich.
Wie gehen wir mit Trauer um?
Das Motiv der Trauer, hier auf einen Verlust hindeutend, ist seinerzeit in der ARD-Bearbeitung des Grimmmärchens „Die zertanzten Schuhe“ (D 2011) schon einmal neu aufgenommen worden: Der König kommt hier über den Tod seiner Frau nicht hinweg. Deshalb flüchten sich seine zwölf Töchter trotz väterlichen Verbots in eine Unterwelt, tanzen dort mit jungen Königssöhnen – und verschleißen ihre Schuhe: Tanz als Ventil wider eines höfischen (Trauer-)Alltags.
Polly in „Die Gänseprinzessin“ ist dabei allerdings wie eine Sitcom-Darstellerin inszeniert (Kamera: Marc Kubik), die auf einer imaginären Bühne, andere Menschen aufmuntern möchte. Zum Beispiel mit einer Art Furzkissen, mit dem sie öffentliches Pupsen simuliert – das in unserem heutigen Kulturkreis als Tabu gilt. Und deshalb als witzig empfunden wird. Im Übrigen aber nicht in der Geschehenszeit des Märchenfilms, denn im Mittelalter war Furzen ganz normal.
Lachen widersetzt sich dem Fanatismus
Trotzdem berührt der Film in der Regie von Frank Stoye – der sich, wie auch Komponist Mathias Rehfeldt (mit seiner zum Teil wieder modernistischen, sympathisch-eigenwilligen Filmmusik), unter die Komparsen mischt – damit tieferliegende, essentielle Themen.
Zum Beispiel die Philosophie des Lachens. Denn, so der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson (1936–2016), widersetze sich das Lachen dem Fanatismus, es ist das irdische Spiegelbild der göttlichen Abwesenheit. Gustafsson schrieb das in einer Buchkritik zu Umberto Ecos „Der Name der Rose“ (dt.: 1982).
Polly widersetzt sich mit ihrem Verhalten in gewisser Weise auch der Verbohrtheit des vor Trauer kranken Landes resp. Vaters, der sogar ein Denkmal für den verschwundenen Sohn aufstellen und jedes Kind, was in der Öffentlichkeit lacht, einsperren lässt. Polly wendet sich von ihren Eltern ab und verlässt das Schloss. Dieser Abschied ist gleichzeitig auch der Aufbruch in ein „Abenteuer der Selbstentdeckung“ (Freund 2005, S. 88) für sie persönlich.
Handlung ist zum Teil überfrachtet und unübersichtlich
Hier gleicht sie ihrem verschwundenen Bruder Nepomuk („Ich tauge nicht zum Ehemann, ich bin ein besserer Abenteurer.“), der damals eigentlich von Zuhause abgehauen war, keinen Bock auf Prinz-Sein („Ich kann das nicht!“) hat und sich zwischenzeitlich einen neuen Vornamen zulegte: Leif. Dabei zeigt gerade dieser Name in der Wortbedeutung seine eigentliche Berufung: „Erbe“ oder „Nachkomme“ – eines Königreichs.
Polly trifft Leif im Wald bei einer mysteriösen, feenhaften Gänsehirtin (Leslie Malton), bei der sie sich vor den Suchtrupps ihres Vaters und er sich – mit dem jungen, gegen das Lachverbot kämpfenden Rebell Hagen (Zoran Pingel) – vor den königlichen Häschern versteckt.
Dadurch gerät aber das Handlungsgerüst in „Die Gänseprinzessin“ nun zunehmend unübersichtlich beziehungsweise überfrachtet. Der im Kern nicht weiter ausfabulierte Nebenschauplatz mit den rebellierenden jungen Menschen, die „für die Freiheit unseres Landes“ kämpfen, ist überflüssig – und vor allem dem heutigen Zeitgeschmack angepasst.
Schemenhafte Figur, bedeutungsvolle Feder
Zudem wird das eigentlich gut spielende Figurenensemble unnötig erweitert. Damit geht einher, dass Figuren, wie eben Rebell Hagen, in ihrem Charakter schemenhaft bleiben: Obwohl er sehr oft im Bild zu sehen ist, sagt er aber sehr wenig. Letztlich ist ebenso blass herausgearbeitet, wie Leif – der sich der Verantwortung gegenüber Familie und Volk entzieht, die er emotional verletzt hat – in bestimmten Prüfungen geläutert wird.
Obendrein fehlt wiederum das Fantastische, Märchenhafte. Freilich wird in Anlehnung an das schnatternde Gänsevieh die Feder symbolisch aufgewertet. Sie besitzt magische Kraft und bringt Polly erst zum Versteck der alten Gänsehirtin im Wald. Zudem „steht [die Feder im Volksglauben] für eine verwandelte Gestalt“ (Fischer 1984, Sp. 933).
Die folgerichtige Idee, dass das Federvieh, das die Alte hütet, in Wahrheit die lachenden Kinder des Königreichs sind, die sie so vor dem Gefängnis bewahrt, ist bemerkenswert gut – weil hier ein unklares Motiv der Vorlage („[o]b die […] Gänse, […] lauter Mädchen waren […], das weiß ich nicht genau […]“) sinnhaft ausgemalt und klug in die Handlung integriert wird.
Willkommen im VEK, dem Volkseigenen Königreich!
Es ist ebenso achtbar, dass – wie schon in den vier letzten ARD-Märchenfilmen – starke Frauen die Handlung bis zum Ende vorantreiben. Hier sind es Prinzessin Polly, die alte Gänsehirtin und nicht zuletzt Königin Kunigunde, die ihren Mann daran erinnern muss, dass er als König eine Verantwortung gegenüber seinem Volk hat.
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Dass er die Macht an Polly, und nicht an Leif weitergibt, ist da nur konsequent. Allerdings teilt sie ihren Thron kurz nach der Übernahme dann doch und entscheidet, „von heute, soll das Volk mitbestimmen“. Na dann, willkommen im VEK, dem Volkseigenen Königreich!
Film: „Die Gänseprinzessin“ (BRD, 2022, R: Frank Stoye). Ist auf DVD erschienen.
Drehorte:
- Schloss Wernigerode, Am Schloss 1, 38855 Wernigerode
- 38640 Goslar/Harz
- 38871 Ilsenburg/Harz
Verwendete Quellen:
- Brüder Grimm: Die Gänsehirtin am Brunnen. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 2, S. 339–350.
- Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005
- Fischer, Helmut: Feder. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 4, Berlin/New York, 1984, Sp. 933–937.
- Grimm-Bilder Wiki: Die Gänsehirtin am Brunnen (Illustrationen). (abgerufen: 26.1.2023)
- Gustafsson, Lars: Über Umberto Ecos „Der Name der Rose“. In: Der Spiegel, Nr. 48/1982 (abgerufen: 24.1.2023)
- Scherf, Walter: Die Gänsehirtin am Brunnen. In: Das Märchenlexikon. Erster Band. A–K. München, 1995, S. 380–383.
- [o. a.]: Benimmregeln für alle: Die Kunst des höflichen Rülpsens. In: Allgemeine Zeitung (vom 28.2.2017, abgerufen: 24.1.2023)
Headerfoto: Mina Christ als Prinzessin Polly in „Die Gänseprinzessin“ (D 2022) / © SWR/kurhaus productions/Alina Hartwig