Erwartbar unerwartbar: Helene, die wahre Braut (D 2020)

Erwartbar unerwartbar: Helene, die wahre Braut (D 2020)

Beim Märchenfilm, in dem die Liebesgeschichte dominiert, können sich manche ein Augenrollen nicht verkneifen. Zu vorhersehbar mutet oftmals die Story an – auch in „Helene, die wahre Braut“. Dennoch lohnt ein zweiter Blick.

Als die ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ (2020) in der Kategorie „Kinder & Jugend“ für den Grimme-Preis 2021 nominiert wurde, zählte zu den Märchenfilmen auch „Helene, die wahre Braut“. Neben „Der starke Hans“ und „Das Märchen vom goldenen Taler“ glänze – nach Meinung der fünfköpfigen Nominierungskommission – gerade diese 13. Staffel mit „überzeugenden Frauenfiguren“.

Dabei war und ist die Märchenfilm-Reihe seit ihrem Start 2008 von jungen starken Frauenfiguren geprägt, die selbstbewusst sowie selbstbestimmt ihren Weg gehen – und als lebensnahe Identifikationsfiguren für Zuschauerinnen funktionieren können.

Dass das für 2020 noch einmal herausgestellt wurde (ein Jahr, das mit Corona, dem gewaltsamen Tod von George Floyd und dem rassistischen Anschlag in Hanau ganz andere Themen setzte), hat überrascht, und ging wohl eher darauf zurück, dass die Märchen – rein zufällig – drei mutige Heldinnen präsentierten.

Sechs auf einen Streich: Eher durchwachsene 13. Staffel

Im Rückblick war diese Staffel dennoch eher durchwachsen. Das lag ausdrücklich nicht an den Schauspielerinnen (und Schauspielern). Vielmehr an den Geschichten selbst, in denen entweder Erzählmotive konstruiert wirkten („Das Märchen vom goldenen Taler“) oder – durchaus unterstützenswerte – weltanschauliche Ideen des 21. Jahrhunderts zu sehr in den Vordergrund drängten („Der starke Hans“).

Helene, die wahre Braut (2020): Die Titelfigur spielt die 26-jährige Caroline Hellwig / © WDR/Wolfgang Ennenbach

Helene, die wahre Braut (2020): Die Titelfigur spielt die 26-jährige Caroline Hellwig / © WDR/Wolfgang Ennenbach


Löblich ist, dass neben diesen beiden Märchen auch mit „Helene, die wahre Braut“ eine Geschichte verfilmt wurde, die den meisten bislang wohl unbekannt war. Freilich ist das darin begründet, dass die ARD die populärsten Märchen wie „Dornröschen“, „Rumpelstilzchen“ und Co. bereits adaptiert hat. Bis 2021 ist die Anzahl auf 52 Filme gestiegen. Dennoch zeigt die Wahl, wie groß der unbekannte Märchenschatz ist – und dass es lohnt, ihn weiter zu durchforsten.

Wer schrieb das Märchen „Helene, die wahre Braut“?

Der öffentlich-rechtliche Sender hat sich mit „Helene, die wahre Braut“ zudem für ein Märchen entschieden, das es gleich zweimal gibt. Einerseits geht die Geschichte auf „Die wahre Braut“ der Brüder Grimm zurück, andererseits auf das Märchen „Helene“ von Ludwig Bechstein (1801–1860), das er in sein „Deutsches Märchenbuch“ (1845) aufnimmt. Wie das?

Die Grimms, die „Die wahre Braut“ 1843 in ihren „Kinder- und Hausmärchen“ veröffentlichen, bedienen sich dafür fast wortgleich bei einer Erzählung von Moriz Haupt (1808–1874). Der Germanist soll diese in der Oberlausitz – heute eine Region im Osten Sachsens – gehört und aufgeschrieben haben. 1842 lässt er „Ein Märchen aus der Oberlausitz“ in der von ihm gegründeten und noch heute existierenden „Zeitschrift für deutsches Altert[h]um“ abdrucken.

Wovon handeln die Märchen „Helene“ und „Die wahre Braut“?

Die wahre Braut (1907) von Otto Ubbelohde / Quelle: Grimm-Bilder Wiki

Die wahre Braut (1907) von Otto Ubbelohde / Quelle: Grimm-Bilder Wiki

Das Original von Haupt erzählt vom fleißigen und schönen Waisenkind Helene, das von seiner Stiefmutter schlecht behandelt wird. Sie stellt dem Mädchen unlösbare Aufgaben, die es aber mit Hilfe einer Fee erfüllen kann. Nach dem Tod der Stiefmutter lernt Helene den Königssohn Lassmann kennen und lieben. Doch nach beider Verlobung kehrt er nicht mehr zu ihr zurück – und vergisst sie.

Als das Mädchen viele Jahre einsam und traurig als Hirtin gelebt hat, trifft sie Lassmann wieder, der sie aber nicht erkennt. Er soll eine andere Königstochter heiraten. Dafür wird drei Tage lang ein Fest gefeiert. Erst als Helene zum dritten Mal dort erscheint, erinnert sich Lassmann wieder an sie und heiratet das Mädchen.

Im Unterschied zu den Grimms, die die Namen der Hauptfiguren – Helene und Lassmann – weglassen und nur von einem Mädchen und einem Königssohn berichten, verwendet Bechstein diese in seiner Version, strafft aber an anderer Stelle die Handlung etwas. Zudem bezieht auch er sich ausdrücklich auf Moriz Haupt als seine Quelle.

Die Liebesgeschichte im ARD-Märchenfilm

Die Autorin Katja Kittendorf, die 2013 für den „Deutschen Drehbuchpreis“ nominiert war, hält sich im Kern an die Grimm’sche bzw. Bechstein’sche Vorlage, nimmt aber hier und dort Änderungen vor – auch um die Geschichte ‚runder’ zu machen. Dass dabei eine allzu glatte Liebesgeschichte entstand, „die wie eine ‚Herzkino’-Romanze sonntags im ZDF wirkt“ (Gangloff 2020), wird dem Film aber nicht ganz gerecht.

Helene, die wahre Braut (2020): Standfotograf Wolfgang Ennenbach inszeniert die Titelfigur wie die französische Königin Marie Antoinette auf einem Gemälde (1783) von Élisabeth-Louise Vigée-Lebrun / © WDR/Wolfgang Ennenbach

Helene, die wahre Braut (2020): Standfotograf Wolfgang Ennenbach inszeniert die Titelfigur wie die französische Königin Marie Antoinette auf einem Gemälde (1783) von Élisabeth-Louise Vigée-Lebrun / © WDR/Wolfgang Ennenbach


Helene, die wahre Braut (2020): Prinz Lassmann (Stefan Gorski) – hier mit Wams, Jagdgewehr und ernst-prüfendem Blick – entdeckt im Wald ein Schloss / © WDR/Wolfgang Ennenbach

Helene, die wahre Braut (2020): Prinz Lassmann (Stefan Gorski) – hier mit Wams, Jagdgewehr und ernst-prüfendem Blick – entdeckt im Wald ein Schloss / © WDR/Wolfgang Ennenbach


Sicher bedient „Helene, die wahre Braut“ hier jenes Märchenfilm-Subgenre, das die ARD bereits in „Siebenschön“ (2014) oder „Prinzessin Maleen“ (2015) erfolgreich umsetzte: die Liebesgeschichte. Oder anders gesagt: das sogenannte „Brautwerbungsmärchen“ (Solms 2020), in dem entweder ein armes Mädchen den Königssohn ehelicht oder – wenn es sich um zwei Adelssprösslinge handelt – der Prinz die wahre von der falschen Braut unterscheiden muss.

Dennoch bietet die Liebesgeschichte, „oft stereotyp gebaut, mit erwartbaren Abfolgen der Annäherung und Trennung des Paares“ (Brunner 2022), auch in diesem ARD-Märchenfilm durchaus ‚unerwartbare’ Ideen, die gut funktionieren.

Märchenfilm-Drehbuch verändert die zweite Aufgabe

Zum Beispiel, dass in „Helene, die wahre Braut“ die Handlung konsequent von weiblichen Figuren vorangetrieben wird – auch wenn die ersten Filmminuten dabei mitunter einem Kammerspiel gleichen, das heißt: drei Akteurinnen, keine Statisten, null Dekorationsaufwand. Das schont zwar das Produktionsbudget, wirkt aber auch recht ‚sparsam’ in der Inszenierung (Szenenbild: Utta Hagen).

Drehort ist eines der ‚märchenfilm-fertig’ eingerichteten historischen Häuser im Freilichtmuseum Kommern, in dem Helene (natürlich schön: Caroline Hellwig) mit ihrer Stiefmutter Gertrud (schön böse: Tanja Schleiff) lebt. Wie in der Vorlage stellt sie dem Mädchen drei scheinbar nicht zu bewältigende Aufgaben. Das Drehbuch variiert diese aber zum Teil und stimmt sie sinnhaft auf die Handlung ab.

Helene, die wahre Braut (2020): Die Stiefmutter (Tanja Schleiff) in der Farbe der Liebe / © WDR/Wolfgang Ennenbach

Helene, die wahre Braut (2020): Die Stiefmutter (Tanja Schleiff) in der Farbe der Liebe / © WDR/Wolfgang Ennenbach


So muss Helene – anstatt mit einem durchlöcherten Löffel einen Teich auszuschöpfen – für ihre Stiefmutter ein Kleid nähen, „das einer Prinzessin würdig“ ist (Kostümbild: Elena Wegner). Damit steht diese zweite Aufgabe in enger Beziehung zur Stiefmutter selbst, die auf die junge Stieftochter eifersüchtig ist und sich selbst als ‚alt’ und ‚unattraktiv’ empfindet. Die Aufgabe erinnert zudem an das Hauptthema des „Schneewittchen“-Märchens, „das der bewegenden Schönheit, die bei Frauen Haß, bei Männern Liebe auslöst“ (Shojaei Kawan 2007, Sp. 132).

Drehort ist romantisches Wasserschloss Merode

Gleichzeitig baut das rote Kleid – in der Farbe der Liebe, aber auch „als königliche Farbe“ (Nixdorff/Müller 1983, S. 114ff.) – eine Brücke zur dritten und letzten Aufgabe, die allerdings schon bei Grimm/Bechstein im Märchenbuch steht. Denn eine ‚Prinzessin’, als die sich die Stiefmutter sieht, muss natürlich standesgemäß wohnen. Deshalb soll Helene ein Schloss bauen. Am besten im nahegelegenen Bärenwald, den Königssohn Lassmann (die Inkarnation eines Märchenprinzen: Stefan Gorski) bald durchreiten soll und auf den die Stiefmutter ein Auge geworfen hat.

Helene – oder besser gesagt: die Fee Cleo (Barbara Colceriu) – erfüllt auch den dritten Wunsch. Denn das Märchen stellt der Titelheldin eine Helferfigur zur Seite. Drehort ist übrigens das romantische Wasserschloss Merode im nordrhein-westfälischen Langerwehe, das via Trick plötzlich auftaucht (Visuelle Effekte: Frank Kaminski).

Helene, die wahre Braut (2020): Fee Cleo (Barbara Colceriu) hilft und beschützt Helene / © WDR/Wolfgang Ennenbach

Helene, die wahre Braut (2020): Fee Cleo (Barbara Colceriu) hilft und beschützt Helene / © WDR/Wolfgang Ennenbach


Die Auftritte der mehrfach preisgekrönten Theaterschauspielerin Colceriu gehören zu den kleinen Höhepunkten des Films. Denn keine „alte Frau“ wie noch bei den Grimms (sie mochten keine Feen), sondern eine junge, lebensnahe, lustige ‚Freundin’ („Du darfst mich Cleo nennen, ich bin ja auch erst 150. Das ist sehr jung für eine Fee.“) erscheint, nachdem Helene einen bestimmten Zauberspruch aufsagt.

Wie viel Religion im ‚modernen’ Märchenfilm?

Dieser stammt allerdings aus der Märchenvorlage des 19. Jahrhunderts („Ist denn niemand auf Gottes weiter Erde, der sich meiner erbarmt?“) – und will mit seinem christlichen Religionsbezug so gar nicht in die ‚moderne’ Adaption des 21. Jahrhunderts passen.

Wie auch das Ende der Stiefmutter: Bei Grimm/Bechstein fällt die Böse beim Schlossrundgang mit Helene die Kellertreppe hinunter und stirbt. Im Film bleibt ihr dieses Schicksal aber erspart. Hier darf sie eine letzte, aber entscheidende Intrige spinnen, als Prinz Lassmann das Schloss wirklich entdeckt und dort Helene das erste Mal trifft …

Helene, die wahre Braut (2020): Eine Bootstour im Wassergraben von Schloss Merode / © WDR/Wolfgang Ennenbach

Helene, die wahre Braut (2020): Eine Bootstour im Wassergraben von Schloss Merode / © WDR/Wolfgang Ennenbach


Zoltan Spirandelli, der hier unter dem Pseudonym Heino V. Kronberg die Regie führt (obgleich er 2015 für die ARD mit seinem bürgerlichen Namen bereits „Die Salzprinzessin“ in Szene setzte), achtet im Gespann mit der Drehbuchautorin darauf, die vielen ‚Leerstellen’ der Vorlage sinnig zu ‚füllen’.

Von Schäfer Hans und Prinzessin Josefine

Dazu gehören auch die Gründe Lassmanns, weshalb er Helene ‚vergisst’ (hier kommt die Stiefmutter ins Spiel), und zwei wichtige Figuren, die in den Vorlagen zwar genannt, aber nicht weiter beschrieben werden: der „Bauer“ (Grimm 1980, S. 373; Bechstein 2011, S. 423), bei dem Helene als Hirtin lebt, und die „Tochter des Königs“ (Grimm 1980, S. 374; Bechstein 2011, ebd.), die den Prinzen heiraten soll.

In der Adaption wird der Bauer, hier ist es der Schäfer Hans (Dietrich Hollinderbäumer), zur ‚Vaterfigur’ für Helene, der sie wie ein ‚weggelaufenes Schäfchen’ bei sich aufnimmt und sie ermuntert, für ihr Glück zu kämpfen.

Helene, die wahre Braut (2020): Hier trifft sie Prinzessin Josefine (Lucie Hollmann, l.) / © WDR/Wolfgang Ennenbach

Helene, die wahre Braut (2020): Hier trifft sie Prinzessin Josefine (Lucie Hollmann, l.) / © WDR/Wolfgang Ennenbach


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Und auch die Tochter des Königs, sie heißt hier Prinzessin Josefine (Lucie Hollmann), wird im neu austarierten Figurenensemble zum Glücksfall – schauspielerisch und erzählerisch. Denn sie erweist sich als kluger Kopf sowohl in Herzensdingen als auch auf dem diplomatischen Parkett. Stichwort: Heiratspolitik. Dafür hätte sie sogar den „Grimme-Preis“ verdient.

Film: „Helene, die wahre Braut“ (BRD, 2020, R: Heino V. Kronberg). Ist auf DVD erschienen.

Drehorte:

  • LVR-Freilichtmuseum Kommern, Eickser Straße, 53894 Mechernich
  • Schloss Merode, Kreuzherrenstraße 1, 52379 Langerwehe
  • 41541 Dormagen-Zons

Verwendete Quellen:

  • Bechstein, Ludwig: Helene. In: Deutsches Märchenbuch (1845). In: Sämtliche Märchen. Vollständige Ausgabe der Märchen Bechsteins nach der Ausgabe letzter Hand unter Berücksichtigung der Erstdrucke. Mit 187 Illustrationen von Ludwig Richter. Mannheim, 2011, S. 420–425.
  • Brüder Grimm: Die wahre Braut. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 2, S. 368–376.
  • Brunner, Philipp: Liebesgeschichten. In: Das Lexikon der Filmbegriffe (zuletzt geändert: 18.2.2022, abgerufen: 6.4.2022)
  • Gangloff, Tilmann P.: Helene, die wahre Braut. In: Tittelbach.tv (vom 2.12.2020, abgerufen: 5.4.2022)
  • Haupt, Moriz: Ein Märchen aus der Oberlausitz. In: Zeitschrift für deutsches Altert[h]um. Hrsg. von Moriz Haupt. Zweiter Band. Leipzig, 1842, S. 481–486. Unter: Gallica – Bibliothèque nationale de France (abgerufen: 5.4.2022)
  • Nixdorff, Heide/Müller, Heidi: Weiße Westen – Rote Roben. Von den Farbordnungen des Mittelalters zum individuellen Farbgeschmack. Berlin, 1983.
  • Nominierungen 57. Grimme-Preis 2021: ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ 2020. In: Grimme-Preis (abgerufen 5.4.2022)
  • Nominierungskommissionen 57. Grimme-Preis 2021: Nominierungskommission Kinder & Jugend. In: Grimme-Preis (abgerufen 5.4.2022)
  • Shojaei Kawan, Christine: Schneewittchen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Helge Gerndt, Lutz Röhrich und Klaus Roth. Bd. 12, Berlin/New York, 2007, Sp. 129–140.
  • Solms, Wilhelm: Happy End? Zu den Brautwerbungsmärchen der Brüder Grimm. In: Literaturkritik.de (vom 10.12.2020, abgerufen: 5.4.2022)
  • Ubbelohde, Otto: Die wahre Braut (1907). In: Grimm-Bilder Wiki (abgerufen: 7.4.2022)


Headerfoto: Die wahre Braut (2022): Prinz Lassmann (Stefan Gorski) und Helene (Caroline Hellwig) / © WDR/Wolfgang Ennenbach

Der Beitrag wurde am 1. Mai 2022 aktualisiert.

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