Menschen, Puppen, Irritationen: Das goldene Schlüsselchen (UdSSR 1939)

Die Holzpuppe Burattino ist der Held im sowjetischen Märchenfilm-Klassiker „Das goldene Schlüsselchen“ (1939). Regisseur und Trickfilm-Pionier Alexander Ptuschko lässt darin die Puppen tanzen. Und zwar zusammen mit Schauspielern. Inklusive einer Portion Sowjet-Propaganda. Jetzt ist der Schwarz-weiß-Kinofilm auf DVD erschienen.

Das goldene Schlüsselchen 1939 DVD-Cover

DVD-Cover / © Icestorm

Als 1939 Walt Disneys Zeichentrickfigur „Pinocchio“ auf der Kinoleinwand das Licht der Welt erblickt, lernt im selben Jahr auch sein sowjetischer „Bruder“ Burattino in „Das goldene Schlüsselchen“ das Laufen. Allerdings als ziemlich bewegliche Puppe, die zusammen mit realen Schauspielern agiert. Was heute im Zeitalter der Computeranimation banal klingen mag, ist damals eine Sensation. Hinter den spektakulären Puppentrickaufnahmen steckt der sowjetische Regisseur Alexander Ptuschko.

Trotz seines noch jungen Alters ist Ptuschko ein alter Hase in der Branche der Trickfilmer. Sein erster abendfüllender Fantasy-Film „Der neue Gulliver“ (UdSSR), an dem er von 1933 bis 1935 bastelt und experimentiert, bringt ihm sogar Lob vom englischen Autor H. G. Wells („Die Zeitmaschine“, 1895) ein. Nicht ohne Grund: Bis zu 200 der „agilen, ausdrucksvollen Puppengestalten“ (Giesen) sind in Massenszenen des Films zu sehen, der auf Motive des Jonathan-Swift-Romans „Gullivers Reisen“ von 1726 zurückgeht.

Von Carlo Collodis „Pinocchio“ zu Alexej Tolstois „Burattino“

© Wagenbach

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Die Vorgeschichte von „Das goldene Schlüsselchen oder Die Abenteuer des Burattino“ beginnt dagegen 1883. Damals veröffentlicht der Italiener Carlo Collodi „Pinocchio oder die Erlebnisse einer Marionette“, eine Geschichte über eine Holzpuppe mit einer langen Nase, die allerhand Unfug anstellt und am Ende in einen Menschen verwandelt wird. Das Märchen liest als kleiner Junge auch der Russe Alexej N. Tolstoi, verliert aber das Buch und erzählt es – „jedes Mal ein klein wenig anders“ (Tolstoi) – seinen Spielgefährten weiter.

So geht jedenfalls die Legende, die der sowjetische Dichter später selbst kolportiert. Er schreibt die Geschichte der Holzpuppe ein zweites Mal auf und veröffentlicht seinen „Burattino“ 1936 in einer Jungpionier-Zeitung. 1938 entsteht daraus eine Adaption für das Kindertheater. Anders als in Collodis „Schelmenroman, der (ständig, d. A.) vom Alltäglichen zum Fantastischen, vom Fabelcharakter zum Sozialsatirischen“ (Börnsen) wechselt, flechtet Tolstoi zusätzlich eine sozial- und gesellschaftskritische Botschaft ein:

Kinderbuch erscheint erstmals 1948 in deutscher Übersetzung

© Beltz | Der Kinderbuchverlag

© Beltz | Der Kinderbuchverlag

Burattino, den der alte Carlo aus einem sprechenden Stück Holz schnitzt, der viele Abenteuer besteht und sich mit dem reichen Puppentheaterdirektor Signor Carabas Barabas anlegt – weil dieser seine Marionetten mit der Peitsche prügelt und einschüchtert –, agiert hier auch stellvertretend für die Armen, Schwachen und Unterdrückten. Burattino darf am Ende zusammen mit Carlo und den Marionetten-Freunden Malwina, Pierrot und Artemon sein eigenes Theaterzelt eröffnen. Der starke, aber herzlose Carabas Barabas hat das Nachsehen.

Das ist jedenfalls eine Lesart aus der deutschen Übersetzung von „Das goldene Schlüsselchen oder Die Abenteuer des Burattino“, die 1948 als Kinderbuch in den deutschen Besatzungszonen erscheint. Obwohl Tolstoi später vorgeworfen wird, seit den 1930er-Jahren „deutlich von den ideologischen Vorgaben des bolschewistischen Regimes geprägt“ (Enzyklopädie) gewesen zu sein, ist der Märchenfilm – an dessen Drehbuch Tolstoi und Nikolaj Lechtschenko beteiligt sind – nur tendenziell sowjetisch-propagandistisch.

Das Land der glücklichen Kinder – die UdSSR

Papa Carlo ( G. Uwarow) / © Icestorm

Arm, aber gutherzig: Papa Carlo ( G. Uwarow) / © Icestorm

So zum Beispiel wenn die Kino-Adaption die Suche nach einem freien Land in den Mittelpunkt rückt, in dem Jung und Alt glücklich und in Wohlstand leben können. Dass dieses Märchenland die UdSSR sein könnte, wird allerdings nicht erwähnt. Im Gegensatz zur sowjetischen Theater-Adaption von 1938: Hier weiß der sprechende Pudel Artemon genau, wo sich dieses Märchenland befindet: „Schau, Burattino, ich erkenne es deutlich. Es ist das Land der glücklichen Kinder – es ist die UdSSR.“ (Balina/Goscilo/Lipovetsky)

Der Märchenfilm verzichtet anfangs auf allzu deutliche Gegenwartsbezüge. Der Zuschauer spürt eher die Sozialkritik in den Bildern. So wählt der Film als Location eine italienische Hafenstadt-Kulisse aus dem 19. Jahrhundert. Ein Biedermeier-Setting, das Carl Spitzweg nicht besser hätte treffen können (Bauten: Jurij Schwetz) – das aber von harten sozialen Gegensätzen geprägt ist: Hier steht der arme Leierkastenspieler Papa Carlo (G. Uwarow) und singt von einem Land, in dem alle Kinder zur Schule gehen können.

Burattino vs. Puppentheaterdirektor Karabas Barabas

Alles andere als ein Holzkopf: Burattino / © Icestorm

Alles andere als ein Holzkopf: Burattino / © Icestorm

Dazu zeigt die Kamera (Nikolaj Renkow) Bilder von verwahrlosten Kindern, die in dreckigen Pfützen spielen – und offenbar keine Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen. Um dieses Land zu finden, braucht es einen besonderen Schlüssel und eine Tür. Doch wo beides zu finden ist, weiß Carlo nicht. Als ihm sein Freund Giuseppe ein sprechendes Holzscheit schenkt, schnitzt er daraus eine Figur und nennt sie Burattino. Noch ahnt er nicht, dass Burattino bald in den Besitz des goldenen Schlüsselchens kommen wird.

Bis es soweit ist, muss der kleine Kerl – der in einigen Szenen von Olga Schaganowa-Obraszowa gespielt wird – viele Abenteuer bestehen. Sich dabei einerseits gegen skurrile Menschentypen durchsetzen: den Puppentheaterdirektor Karabas Barabas (A. Schtschagin) und seinen Gehilfen Duremar (S. Martinsson). Und andererseits gegen verschlagene Puppentypen behaupten: die Füchsin Alice und den Kater Basilio. Dabei lernt Burattino, zwischen Gut und Böse, echten und falschen Freunden zu unterscheiden.

Märchenfilm wird 1949 in sowjetischer Besatzungszone gezeigt

Fairytale's next Topmodel: Malwina / © Icestorm

Fairytale’s next Topmodel: Malwina / © Icestorm

Er macht dabei aber nicht als künstlicher Mensch, „wie Pinocchio, (…) in konzentrierter Form die Schaffung einer bürgerlichen Person durch“ (Seeßlen), sondern bleibt bis zum Ende eine Holzpuppe – die letztlich als solche in der Menschenwelt voll akzeptiert wird. Doch schwächelt der Film am märchenhaften Ende, wenn aus einem prächtig-verzierten Luftschiff ein Kapitän (N. Bogoljubow) steigt, der mit Schutzanzug, Fellmütze und Stalin-Schnauzbart offenbar geradewegs aus dem modernen 20. Jahrhundert kommt.

In seiner Arche nimmt er Burattino, seine Marionetten-Freunde Malwina, Pierrot, den Pudel Artemon und Papa Carlo mit in ein neues Land, in dem Gerechtigkeit und Gleichheit herrschen. Als „Das goldene Schlüsselchen“ am 12. April 1949 – vor genau 65 Jahren – erstmals in der sowjetischen Besatzungszone gezeigt wird, lobt denn auch die Filmkritik diesen Schluss, wenn sie „in ein freies Land reisen, in dem es keine ausbeuterischen Theaterdirektoren gibt und keine Prügel“ – und fragt: „– ist das nur ein Feenreich?“ (Vorwärts, 19.4.1949)

Regisseur Alexander Ptuschko, der sowjetische Walt Disney

So'n Bart: Karabas Barabas (A. Schtschagin) / © Icestorm

So’n Bart: Karabas Barabas (A. Schtschagin) / © Icestorm

Wird diese Sowjet-Propaganda ausgeblendet, so ist und bleibt „Das goldene Schlüsselchen“ ein cineastisches Juwel – das leider bisher allzu wenig den Weg auf die Kinoleinwand zurückfand. Zuletzt in der Berlinale-Retrospektive „Special Effects“ von 1985, auf der der Märchenfilm neben 60 weiteren Spiel- und 46 Kurz- und Experimentalfilmen gezeigt wird. 2013 ist nun eine DVD-Version mit der deutschen Bearbeitung des DEFA-Studio für Synchronisation von 1949 erschienen.

Wenn auch die Ton- und Bildqualität Wünsche offen lässt, so erahnt der heutige Zuschauer die Fantasie und das technische Können der damaligen sowjetischen Filmemacher – allen voran seiner Ikone, des sowjetischen Walt Disney: Alexander Ptuschko. Mit „Die steinerne Blume“ (1946), „Ilja Muromez“ (1956) und „Ruslan und Ljudmila“ (1973, alle UdSSR) setzt er sich Jahre später weitere filmische Denkmäler. „Das goldene Schlüsselchen“ bleibt als eines der experimentellsten und fantasievollsten in der Erinnerung.

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Film: „Das goldene Schlüsselchen oder Die Abenteuer des Burattino“ (1939, R: Alexander Ptuschko, UdSSR). Ist auf DVD bei Icestorm erschienen.

Literatur:

  • Balina, Marina/Goscilo, Helena/Lipovetsky, Mark (Hrsg.): Alexey Tolstoy. The Golden Key, or The Adventures of Buratino, in: Politicizing Magic: An Anthology of Russian and Soviet Fairy Tales, Northwestern University Press, 2005, S. 131-164
  • Börnsen, Nina: Collodi, Carlo, in: Das Buch der 1000 Bücher. Werke, die die Welt bewegten. Autoren und Entstehung, Inhalt und Wirkung, Mannheim, 2005, S. 270f.
  • Giesen, Rolf: Nowy Gulliver. Der neue Gulliver, in: Special effects: King Kong, Orpheé und die Reise zum Mond, Ebersberg, 1985, S. 109
  • Seeßlen, Georg: Traumreplikanten des Kinos. Passage durch alte und neue Bewegungsbilder, in: Aurich, Rolf/Jacobsen, Wolfgang/Jatho, Gabriele: Künstliche Menschen, Berlin, 2000, S. 19
  • Tolstoi, Alexej: Das goldene Schlüsselchen oder Die Abenteuer des Burattino. Aus dem Russischen übersetzt von Robert v. Radetzky. Mit Illustrationen von A. Kanewsi, Weinheim/Basel, 2006
  • Tolstoi, Alexej N., in: Ranke, Kurt et. al. (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Band 13, Berlin/New York, 2010, Sp. 741f.

Weiterführende Literatur: Hennig, Anke: Sowjetische Kinodramaturgie. Konfliktlinien zwischen Literatur und Film in der Sowjetunion der 1930er Jahre, Berlin, 2010

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