Der Wald in den Märchen der Brüder Grimm wird oftmals nur vage beschrieben. Im Märchenfilm zeigt er sich zwischen Postkartenidylle und archaischem Urwald / © Peter Habereder / Pixelio

„… in den wagte sich kein Mensch“: Der Wald im deutschen Märchenfilm (1924–1990)

Der Wald wird im Märchen oftmals nur vage beschrieben. Im deutschen Märchenfilm zeigt er sich zwischen Postkartenidylle und archaischem Urwald.

Was wäre das Märchen ohne den Wald? Hier verirren sich Hänsel und Gretel, Rotkäppchen begegnet dem bösen Wolf und Schneewittchen entdeckt das Haus der sieben Zwerge. Der Wald ist somit als erzählerische Naturkulisse bestimmend für die Struktur des Märchens und zudem ein wichtiges Bindeglied zwischen den Handlungssequenzen.

Doch obwohl der Wald „in knapp der Hälfte der […] 200 Märchen […] der Brüder Grimm“ (Palm) eine wichtige Rolle spielt, wird er oftmals nur vage beschrieben: Einmal liegt er da „in tiefer Stille und Einsamkeit“, so wie im Grimm’schen „Der Eisenhans“. Ein anderes Mal spazieren die Titelfiguren aus „Jorinde und Joringel“, ebenso von den Grimms, nur „in einem großen dicken Wald“.

"Hänsel und Gretel": Der Genremaler Alexander Zick (1845–1907) illustrierte das Grimm’sche Märchen im Jugendstil.

„Hänsel und Gretel“: Der Genremaler Alexander Zick (1845–1907) illustrierte das Grimm’sche Märchen im Jugendstil.


Groß. Still. Oder einsam. Die Aufzählung ließe sich mit „düster“, „gefährlich“ oder „unheimlich“ leicht fortsetzen. Das Grimm’sche Volksmärchen malt somit „kein detailliertes Bild des Waldes“ (Ennulat). Die Kunstmärchen – vor allem des schwäbischen Dichters Wilhelm Hauff – beschreiben den Wald präziser: In „Das kalte Herz“ wird mit dem Schwarzwald das Märchen nicht nur lokalisiert, der Wald mit seinen „herrlich aufgeschossenen Tannen“ wird vor den Augen des Lesers geradezu lebendig.

Der Wald prägt die Atmosphäre des Märchenfilms

Werden Märchenvorlagen verfilmt, so kommt dem Wald als Handlungsort und Teil der Ausstattung (Setting) keine unbedeutende Rolle zu: Figuren entfalten vor diesem Hintergrund ihren Charakter; sie werden als ängstlich oder mutig wahrgenommen. Die Darstellung des Waldes prägt auch die Atmosphäre des Märchenfilms: So kann ein düsterer Wald beim Publikum eine bedrückende oder bedrohliche Stimmung auslösen. Eine sonnenbeschienene Waldlichtung kann als (vermeintlich) ungefährlich empfunden werden.

"Schneeweißchen und Rosenrot" (1955): Zahme Wildtiere gelten als Sinnbild eines friedlichen Waldes / © Studiocanal

„Schneeweißchen und Rosenrot“ (1955): Zahme Wildtiere gelten als Sinnbild eines friedlichen Waldes / © Studiocanal


Nicht zuletzt ist es möglich, dass „das Setting und seine Ausstattungselemente symbolischen Charakter annehmen“ (Bienk): Positiv besetzte Tiere, wie Eichhörnchen oder Reh, können als filmische Sinnbilder für einen friedlichen Wald gelten. Blumen (oder deren Farbe), die auf einer Waldlichtung blühen, können Seelenzustände der Märchenfiguren symbolisieren: Eine weiße Blüte kann für Unschuld und Reinheit stehen, aber auch für Abschied oder den Tod.

1920er-Jahre: Der Wald im Märchenstummfilm bleibt zumeist Staffage

Und doch: In vielen deutschen Märchenfilmen des 20. Jahrhunderts wird der Wald meist nur als dekorative Kulisse und schmückender Hintergrund genutzt. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen: Kein Märchenfilm, aber ein Heldenepos mit märchenhafter Ausstattung – „Die Nibelungen“ (D, 1922/24, R: Fritz Lang) – überrascht mit einem stilisierten Zauberwald. Obwohl im Atelier mit Gipsstämmen entstanden, steigert die künstliche Waldkulisse die (wenn auch heroisch-einschüchternde) Stimmung des Films.

"Die Nibelungen" (1924): Siegfried von Xanten im stilisierten Zauberwald mit Gipsstämmen / © Universum Film GmbH

„Die Nibelungen“ (1924): Siegfried von Xanten im stilisierten Zauberwald mit Gipsstämmen / © Universum Film GmbH


Die Märchenfilmproduktion für Kinder geht Ende der 1920er-Jahre den entgegensetzten Weg und inszeniert am ‚Originalschauplatz’: im Naturwald. Dort fallen für ein armes Waisenkind „Die Sterntaler“ vom Himmel und „Brüderchen und Schwesterchen“ (beide D, 1929, R: Alf Zengerling) fliehen vor ihrer bösen Stiefmutter. Der Wald steckt im Märchenstummfilm noch tief in einer Nebenrolle und bleibt zumeist Staffage.

1930er- und 1940er-Jahre: Wölfe, Hasen und tanzende Elfen im Wald

Als 1935 der erste deutsche Märchentonfilm „Der gestiefelte Kater“ (D, 1935 R: Alf Zengerling) seine Premiere feiert, bleibt erst einmal alles beim Alten. Zwei Jahre später überrascht der Regisseur Fritz Genschow mit seiner modernen Adaption „Rotkäppchen und der Wolf“ (D, 1937, R: Fritz Genschow, Reneé Stobrawa): Der Wald wird nicht nur mit Gefahren (Wolf) assoziiert, sondern auch mit teils mystischen Vorgängen, die den Ort als ambivalent erscheinen lassen.

"Das tapfere Schneiderlein" (1941): Auch im Atelierwald lauern viele Gefahren / © Spondo

„Das tapfere Schneiderlein“ (1941): Auch im Atelierwald lauern viele Gefahren / © Spondo


So trifft Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter Elfenkinder, die auf einer Lichtung tanzen und als Phantasma plötzlich wieder verschwinden. Oder der Zuschauer sieht Hasen und Rehe – als positiv besetzte Tiere –, die Rotkäppchen pittoresk beim Blumen pflücken umlagern. Dreht Genschow die Außenaufnahmen für „Rotkäppchen und der Wolf“ im Harz, so lassen andere Produzenten in den 1930er- und 1940er-Jahren den Märchenwald in Filmstudios nachbauen.

1950: „Das kalte Herz“ zwischen Natur- und Studiokulisse

Auf ein Zusammenspiel von Natur- und Atelierwald setzt dagegen der DEFA-Spielfilm „Das kalte Herz“ (DDR, 1950, R: Paul Verhoeven): Der Film erzählt die Geschichte des Köhlers Peter Munk, der sein echtes Herz gegen ein steinernes kaltes tauscht. Zwar entstehen die Außenaufnahmen für die Adaption des Kunstmärchens nicht im Schwarzwald, sondern am Nordhang des Thüringer Waldes, doch ist es gerade die Kombination von Natur- und Studiokulisse, mit dem der Film stilistisch Maßstäbe setzt:

"Das kalte Herz" (1950): Golden glänzt der Studiowald, als das gute Glasmännlein erscheint / © Progress/Erich Kilian

„Das kalte Herz“ (1950): Golden glänzt der Studiowald, als das gute Glasmännlein erscheint / © Progress/Erich Kilian


Im Atelierwald werden trickreich Bäume zum Leben erweckt und morsche Äste verwandeln sich plötzlich in Tiere. Der Studiowald ist nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern ein lebendiger Ort voll von Zauberei, in dem gute und böse Gestalten leben – und in dem diese ihr ebenso gutes und böses Spiel treiben. Auch wenn sich „sentimentale Heimatfilmbilder“ (Klusen) in der Darstellung des Naturwaldes einschleichen, so wirken diese Einstellungen – als Gegensatz zum Atelierwald – als visuelle Ruhephasen.

1950er- und 1960er-Jahre: Heimatfilmästhetik vs. Atelierwald

Als der Heimatfilm in den 1950er-Jahren die westdeutsche Leinwand erobert, beeinflusst das auch den BRD-Märchenfilm. Werden in Streifen wie „Grün ist die Heide“ (BRD, 1951, R: Hans Deppe) „blendend schöne, farbintensive Bilder“ (Plath) von der Landschaft – und auch des Waldes – gezeigt, so gehen Märchenfilme wie „Schneeweißchen und Rosenrot“ (BRD, 1955, R: Erich Kobler) oder „Rotkäppchen“ (BRD, 1953, R: Fritz Genschow) stilistisch denselben Weg: der Märchenwald in stets gleißendem Sonnenlicht als harmlos wirkende Postkartenidylle.

"Rotkäppchen" (1953): Rehe beobachten die Titelfigur beim Blumen pflücken / © CROCO Filmverleih & Vertrieb GmbH

„Rotkäppchen“ (1953): Rehe beobachten die Titelfigur beim Blumen pflücken / © CROCO Filmverleih & Vertrieb GmbH


Im DDR-Märchenfilm erlebt der Atelierwald Anfang der 1960er-Jahre eine Renaissance wie in „Das Zaubermännchen“ (DDR, 1960, R: Christoph Engel), „Schneewittchen“ (DDR, 1961, R: Gottfried Kolditz), „Rotkäppchen“ (DDR, 1962, R: Götz Friedrich) und „Die goldene Gans“ (DDR, 1964, R: Siegfried Hartmann). Auch wenn der Wald hier ein Ort der märchenhaften Selbstfindung von Figuren ist, die eintönige Baum- und Strauchszenerie sieht sich offenbar immer denselben Farb- und Lichtprinzipien verpflichtet.

Mit einer Ausnahme: In „König Drosselbart“ (DDR, 1965, R: Walter Beck) überraschen die Szenenbildner Erich Krüllke und Werner Pieske mit stilisierter, nüchtern-authentischer Waldkulisse, die den Fokus auf die Akteure lenkt.

1970er- und 1980er-Jahre: Der Wald wird im Märchenfilm funktionalisiert

In den BRD- und DDR-Produktionen der späten 1970er-Jahre und 1980er-Jahre ändern sich die Gestaltungsprinzipien: Wald wird wieder am ‚Originalschauplatz’ gedreht. Und er wird bildlich als „ein jenseitiger Ort [dargestellt], ein Tor zur Anderswelt (Zauberwald), wo die Regeln des Alltags aufgehoben sind und die Seelenkräfte herrschen“ (von Bonin). In „Jorinde und Joringel“ (DDR, 1986, R: Wolfgang Hübner) wechselt sich ein sonnenbeschienener archaischer Urwald mit einerseits todbringendem, andererseits schützendem Moor ab.

"Jorinde und Joringel" (1986): Der sonnenbeschienene Märchenwald symbolisiert den Sieg der Liebe / © Icestorm

„Jorinde und Joringel“ (1986): Der sonnenbeschienene Märchenwald symbolisiert den Sieg der Liebe / © Icestorm


Der Wald beherbergt Außenseiter der Gesellschaft, die hier eine Zuflucht gefunden haben: eine Zauberin, die Jorinde in eine Nachtigall verzaubert, um sie zu schützen. Oder die Titelfigur in „Der Eisenhans“ (DDR, 1988, R: Karl-Heinz Lotz) als ökologischer Schutzgeist des Waldes. Der Märchenfilm hat von dieser dramaturgischen und ästhetischen Neuorientierung profitiert – mit einem Wald, der funktionalisiert wird und seine Rolle als bloße schmückende Kulisse verliert.

Primärliteratur:

  • Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980.
  • Hauff, Wilhelm: Sämtliche Märchen. Mit den Illustrationen der Erstdrucke. Hrsg. von Hans-Heino Ewers. Stuttgart, 2002.

Sekundärliteratur:

  • Bienk, Alice: Filmsprache. Einführung in die interaktive Filmanalyse. Marburg, 2006.
  • Bonin, Felix von: Wörterbuch der Märchen-Symbolik. Ahlerstedt, 2009.
  • Ennulat, Gertrud: Der Wald im Märchen, in: Märchenspiegel, Zeitschrift für internationale Märchenforschung und Märchenkunde, April 1995.
  • Klusen, Karl: Das kalte Herz, in: Film-Dienst, Nr. 14, 1985.
  • Palm, Reinhard: Was wären Märchen ohne Wald? In: uni:view – die Online-Zeitung der Universität Wien (28.4.2011).
  • Plath, Nils: Verweilen im Bilderwald. Ansichten zu Bildern des deutschen Waldes im Film, in: Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald. Berlin, 2011.

Weiterführende Literatur:
Lippert, Karen: Der Wald im Märchen. In: Märchenatlas (ohne Datum).

Headerfoto: Der Wald in den Märchen der Brüder Grimm wird oftmals nur vage beschrieben. Im Märchenfilm zeigt er sich zwischen Postkartenidylle und archaischem Urwald / © Peter Habereder / Pixelio

Dieser Beitrag wurde am 1. März 2021 aktualisiert.

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