Michael Klaukien und Andreas Lonardoni († 2018) haben nicht nur für „Tatort“-Krimis die Filmmusik geschrieben, sondern auch für sechs ARD-Märchen. Darunter ist die Geschichte über einen prunksüchtigen Herrscher.
Was wären Filme ohne einen guten Soundtrack? Nur halb so erfolgreich, sagt US-Regisseur Steven Spielberg – und das trifft auch für Märchenfilme zu, wie zum Beispiel „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ (ČSSR/DDR 1973) oder „Wie man Prinzessinnen weckt“ (ČSSR, 1977, beide R: Václav Vorlíček) zeigen. Denn beide Filme sind auch deshalb Kult, weil sich die Musik von Komponist Karel Svoboda (1938–2007) einerseits märchenhaft am Spätmittelalter anlehnt, andererseits erfrischend modern und einprägsam klingt: Renaissance trifft aufs 20. Jahrhundert.
Als die ARD im Jahr 2008 ihre Märchenfilm-Reihe „Sechs auf einen Streich“ startet, legen die beteiligten Produktionsfirmen ebenso großen Wert auf die Filmmusik – und engagieren dafür erfahrene Komponisten. Zu ihnen zählt von 2010 bis 2015 auch das Gespann Michael Klaukien und Andreas Lonardoni. Für insgesamt sechs Märchenfilme schreiben sie den Soundtrack. Einer davon – es ist die Filmmusik von „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (2013) – wird sogar 2014 für den „Grimme-Preis“ nominiert.
Vom „Tatort“-Krimi zum ARD-Märchenfilm
Als beide für den Märchenfilm „Des Kaisers neue Kleider“ (2010, R: Hannu Salonen) die Musik komponieren, ist das noch eine Premiere. Die Geschichte über einen eitlen Herrscher, der auf zwei Betrüger hereinfällt, war zwar schon das 18. Märchen in der „Sechs auf einen Streich“-Reihe. Doch für Klaukien/Lonardoni ist es das erste märchenhafte Filmprojekt.
Denn beide sind bis zu diesem Zeitpunkt meist im Kriminal- und Dokumentarfilmfach zu Hause und schreiben für „Tatort“-Folgen wie „Tango für Borowski“ oder „Hilflos“ (beide 2010, R: Hannu Salonen) den Soundtrack. Zwar ist die Krimiserie ab einem Alter von zwölf Jahren freigegeben, dennoch haben die Komponisten hier vor allem das ältere erwachsene Publikum im Blick.
Dabei ist es ein Irrtum zu glauben, dass Märchenfilmmusik einfach zu komponieren ist. Ganz im Gegenteil. Denn „Musik für einen Märchenfilm bedeutet Musik für die ganze Familie“, sagte Michael Klaukien 2011 im Interview mit „Märchen im Film“. Der Komponist sei beim Märchenfilm, mehr als bei jedem anderen Filmgenre, ein Magier hinter den Kulissen, der es schaffen müsse, Kinder und Erwachsene zu verzaubern, so der damals 37-Jährige. Schließt das auch eine andere Herangehensweise beim Komponieren von Märchenfilmmusik ein?
„Des Kaisers neue Kleider“ (2010) spielt im Rokoko
Nicht unbedingt. „Jeder Film ist ein Findungsprozess, ein Puzzle, von dem man zu Beginn der Arbeit nicht mal alle Teile kennt und was sich erst nach und nach zusammenfügt“, sagte damals Mit-Komponist Andreas Lonardoni. Das gilt für eine „Tatort“-Folge wie für einen Märchenfilm. Bei der Arbeit zu „Des Kaisers neue Kleider“ erhalten beide zuerst das Drehbuch, um schon einmal erste Ideen im Kopf durchzuspielen. Als der Märchenfilm im Sommer 2010 abgedreht ist, können sie den sogenannten Finalcut, den fertiggestellten Film, sehen und mit Regisseur Hannu Salonen besprechen.
Nicht nur über einzelne Musikeinsätze im Film, vor allem über die verschiedenen Charaktere und deren Funktionen wird diskutiert. Die wichtigste Frage: Wie können unterschiedliche Filmfiguren optimal musikalisch umgesetzt werden? Wie immer präsentieren die beiden Filmkomponisten erste Entwürfe, die „entweder in die richtige Richtung gehen, oder modifiziert werden müssen“, so Michael Klaukien. Bei der Musik zu „Des Kaisers neue Kleider“ geht glücklicherweise alles in die „richtige Richtung“ – wenn auch erst einmal in die Vergangenheit.
Kratzende Streicher fürs kaiserliche Popstar-Image
Der Grund: Drehbuchschreiber David Ungureit hat die Handlung des Kunstmärchens von Hans Christian Andersen ins 18. Jahrhundert verlegt – die Epoche des Rokoko: heiter, verspielt und auch ein wenig dekadent. Im Hinblick auf Instrumente für ihre Filmmusik verwenden Klaukien/Lonardoni deshalb vor allem das Spinett – ein kleines Cembalo und Vorläufer unseres heutigen Klaviers. Beide verbinden das Spinett mit dem Hof und der Figur des Kaisers (Matthias Brandt), der sich nur für Kleider und Glamour, aber nicht für sein Volk interessiert.
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Läuterung im Märchenfilm: Des Kaisers neue Kleider (D 2010)
Um auf sein – wie wir es heute nennen könnten – Rock- und Popstar-Image zu verweisen, verwenden die Musiker zudem den kratzenden und hohen Klang von Streichinstrumenten. Doch „immer wieder kippt sein Thema in die tiefen Lagen, denn der Kaiser ist auch ein launiger und gefährlicher Mann“ (Lonardoni), der seine unliebsamen Kritiker oftmals in den Kerker steckt. Diese Ambivalenz in der Figur des Kaisers ist für das Komponisten-Duo durchaus eine Herausforderung. Wesentlich einfacher – weil eindeutiger – sind die anderen Figuren angelegt.
Klassisches Instrumentarium: Spinett, Flöte, Klavier
Da ist zum einen Jakob (Sergej Moja), der in die Stadt kommt, in der Kaiser Friedhelm regiert. Er gibt sich als Schneider aus und möchte dem Herrscher einen Denkzettel verpassen. Klaukien/Lonardoni teilen ihm wegen „seiner fröhlichen, doch eher sorglosen Art, ein eingängiges Flötenthema mit beschwingter Begleitung“ (Klaukien) zu – auch weil er eine positive Identifikationsfigur fürs Publikum ist. Hingegen erhält Hofschneiderin Adele (Catherine Flemming) musikalisch ein eher bedrohliches Thema: als eindeutig negativer Charakter und Jakobs Gegenspielerin, dessen Plan sie durchschaut.
Neben dem klassischen Instrumentarium, wie Spinett, Flöte und Klavier, setzen Klaukien/Lonardoni zudem Chorstimmen ein. Sie sind zu hören, wenn der vermeintliche Schneider Jakob die neuen, für jeden dummen Menschen ‚unsichtbaren’ Kleider dem Kaiser präsentiert und sollen „eher das vermeintlich Übernatürliche suggerieren“, so Klaukien.
Und: Als Jakob und seine klugen Mitstreiterinnen, die Schwestern Maja (Alissa Jung) und Greta (Audrey von Scheele), das erste Mal das Schloss betreten und von dem himmlisch anmutenden Prunk überwältigt sind, funktionieren die Chorstimmen wie eine Überhöhung.
Gastrolle für Filmkomponisten in „Aschenputtel“ (2011)
Die atmosphärische Geschlossenheit von Ausstattung – es wird im Schloss Charlottenburg gedreht – und Kameraführung (Felix Cramer) wird somit entscheidend mit der Filmmusik in „Des Kaisers neue Kleider“ gesteigert. Musik als Mittel der filmischen Stilisierung. Wie auch in der ein Jahr darauf folgenden ARD-Verfilmung „Aschenputtel“, für die Klaukien/Lonardoni ebenso die Filmmusik komponieren. Das Besondere an diesem Märchenfilm: Beide haben in „Aschenputtel“ eine kleine Gastrolle und spielen – wen wundert’s – sich selbst: Musiker.
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Gegen den blonden Strich gebürstet: Aschenputtel (D 2011)
Wie die Filmmusik im ARD-Märchen Geschichten miterzählt
Doch anders als in „Des Kaisers neue Kleider“ gehören in „Aschenputtel“ Tiere zur Handlung: So steht der Titelfigur (Aylin Tezel), deren Mutter verstorben ist, immer eine weiße Taube bei. „Sie fliegt zu Aschenputtel, wenn es in Not ist und hilft ihm. Mit der Musik wird der Eindruck verstärkt, dass die Taube – als eine Art Reinkarnation – die verstorbene Mutter versinnbildlicht und für Aschenputtel sorgt“, so Michael Klaukien und Andreas Lonardoni 2011 im Interview.
Ende 2018 stirbt Lonardoni im Alter von nur 62 Jahren nach langer schwerer Krankheit. Seine gemeinsam mit Klaukien komponierten Märchenfilm-Musiken werden bleiben.
Titel: „Des Kaisers neue Kleider“. Die Filmmusik zum ARD-Märchen. Komponiert von Michael Klaukien und Andreas Lonardoni.Format: Digital (Streamen, MP3)
Tracks: 17 / Hörproben: Hier klicken
Länge: 34 Minuten
Label: Zip Music (VÖ: 2010)
Film: „Des Kaisers neue Kleider“ (BRD, 2010, R: Hannu Salonen). Auf DVD erschienen.
Titel: „Aschenputtel“. Die Filmmusik zum ARD-Märchen. Komponiert von Michael Klaukien und Andreas Lonardoni.Format: Digital (Streamen, MP3)
Tracks: 24 / Hörproben: Hier klicken
Länge: 38 Minuten
Label: Zip Music (VÖ: 2011)
Film: „Aschenputtel“ (BRD, 2011, R: Uwe Janson). Auf DVD erschienen.
Verwendete Quellen:
- E-Mail-Interview mit Michael Klaukien/Andreas Lonardoni (vom 1.8.2011). Hinweis: Dieser auf dem Interview beruhende Artikel erschien erstmalig 2011 und wurde nur geringfügig aktualisiert.
- Andreas Lonardoni (1956–2018). Filmkomponist (abgerufen: 22.4.2022)
Headerfoto: Des Kaisers neue Kleider (D 2010): Schauspieler Matthias Brandt (Friedhelm der Fesche) in der Titelrolle / Foto: WDR/Frank Schirrmeister