Inga (Lea Müller) zündet eines der Schwefelhölzer an. Der geheimnisvolle Fremde (Jörg Hartmann) schaut ihr dabei zu / © RBB/Daniela Incoronato

Märchenhafte Drehorte: Wo das Mädchen mit den Schwefelhölzern erfriert

Obwohl Hans Christian Andersens „Kleines Mädchen mit den Schwefelhölzern“ kein klassisches Märchen mit Happyend ist, inspiriert es Filmemacher seit den Anfängen der Kinematografie. Die traurige Geschichte über Wünsche und Ängste, Leben und Tod wird in Deutschland bislang über siebenmal adaptiert – im Studio und an Außenschauplätzen.

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern. Illustration von Vilhelm Petersen und Lorenz Frølich

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern. Illustration von Vilhelm Petersen und Lorenz Frølich

Erzählt das Volksmärchen von einer Zeit, „wo das Wünschen noch geholfen hat“ (Grimm), so offenbart das Kunstmärchen knallhart „Grenzen des Wünschens“ (Freund). Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist die Geschichte vom „Kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Der dänische Dichter Hans Christian Andersen schreibt das Märchen 1848 auf: An einem bitterkalten Silvesterabend versucht ein armes Mädchen – hungernd und frierend – Schwefelhölzchen zu verkaufen. Um sich ein wenig zu wärmen, streicht es nach und nach ein paar davon an.

Mit jedem Lichtschein sieht es plötzlich seine Wünsche wahr werden: ein warmer Ofen, ein gedeckter Tisch. Am Ende erscheint ihm seine längst verstorbene Großmutter, die das Mädchen auf ihren Arm hebt – und Kälte und Hunger vergessen lassen. Doch die Träume erlöschen immer wieder, sobald die Schwefelhölzchen abgebrannt sind. Am Morgen wird die Kleine entdeckt „mit roten Wangen, mit einem Lächeln um den Mund – tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres.“ (Andersen) Was bleibt, ist ein trauriges Fazit: Die Wünsche des Mädchens erfüllen sich nicht; Hilfe im Diesseits bleibt aus. Schuld ist eine unabänderbare soziale Misere.

Philosophische Grundfragen und soziale Standortbestimmung

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern. Illustration von Hans Tegner

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern. Illustration von Hans Tegner

Die Kritik an Andersen, er „versucht, reale Probleme zu umgehen, indem er sie mit sentimentaler Religiosität überdeck[t]“, ist im „Kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern“ durchaus spürbar. Dennoch greift sie zu kurz, denn er berührt mit diesem Märchen auch „den geheimnisvollen Zusammenhang zwischen Leben und Tod, die Frage nach der Auferstehung des Menschen und seiner Unsterblichkeit“ (de Mylius). Es sind wohl einerseits diese philosophischen Grundfragen, andererseits jene soziale Standortbestimmung, die das Märchen auch für Filmemacher interessant machen.

So verwundert es nicht, dass die erste Andersen-Adaption (1902) auf „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zurückgeht. Es sollte bis heute weltweit „noch über zwanzig Mal verfilmt werden“ (Strobel), als Silhouetten- und Zeichentrickfilm, aber vor allem auch mit Schauspielern. Eine der ersten Verfilmungen (1910) in Deutschland wird in den Filmstudios der Deutschen Bioscop, „der Urzelle der späteren Ufa-Stadt Neubabelsberg“ (Kreimeier), gedreht. Hinter der Kamera steht Guido Seeber, damals einer der populärsten und handwerklich besten seiner Zunft.

Berlin-Weißensee: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (1925) als Tonfilm

© Sutton Verlag

© Sutton Verlag

15 Jahre später verfilmt der größte deutsche Filmkonzern, die Ufa, das Märchen erneut. Just zu dieser Zeit experimentiert das Filmstudio mit dem Tri-Ergon-Verfahren, um Tonfilme herzustellen. Dafür wird „für 500.000 Mark in Weißensee ein Tonfilmatelier“ (Oertel) gebaut, um einen der ersten deutschen Tonfilme nach diesem Verfahren zu drehen: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Regie führt Guido Bagier. Der damals 37-Jährige hat bereits bei der Premiere der Aschenputtel-Adaption „Der verlorene Schuh“ (1923, R: Ludwig Berger, D) die Musik geleitet. Jetzt traut er sich zu, neben der Filmmusik auch Regie, Schnitt und Produktionsleitung zu übernehmen.

Das Drehbuch schreibt Hans Kyser, der ein Jahr später mit seinem Manuskript des Goethe-Klassikers „Faust“ (1926, R: F. W. Murnau, D) für Furore sorgen wird. Doch Ende 1925 fiebert Berlin erst einmal der Premiere von „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ entgegen. Die Uraufführung findet am 20. Dezember, wenige Tage vor Weihnachten, im mondänen Mozartsaal des „Theaters am Nollendorfplatz“ in Berlin-Schöneberg statt. Leider endet die Premiere so tragisch wie das Märchen selbst: „Die Tonaufnahmen waren gut, die Wiedergabe hatte alles verdorben“, weiß der Filmjournalist Rudolf Oertel. Der 18-minütige Märchenfilm wird wenig später abgesetzt und bald vergessen.

Film: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (1925, R: Guido Bagier, D). Gilt als verschollen.

Drehort: Berlin-Weißensee

West-Berlin: BRD-Märchenfilm (1953) wird in den USA gezeigt

© Jugendfilm-Verleih

© Jugendfilm-Verleih

In den Berliner Thurnau-Film-Studios entsteht 1953 die erste farbige Adaption des Andersen-Märchens. Dafür schreiben Hans Joachim Barckhausen und Alexander Graf Stenbock-Fermor das Drehbuch. Auf dem Regiestuhl nimmt Fritz Genschow Platz, der 1937 seinen letzten 35-Millimeter-Märchenkinofilm („Rotkäppchen und der Wolf“) gedreht hat. Wie damals übernimmt er jetzt auch eine kleine Rolle: Er spielt den Vater eines Mädchens (Sabine Eggerth), das mit seiner Mutter (Johanna Wichmann) zuhause den Heiligen Abend feiert. Als ihm ein frierendes Mädchen (Regine von Bredow) Zündhölzer verkaufen will, weist es das schroff ab.

Das arme Mädchen erlebt plötzlich wundersame Träume. Am Ende nimmt es die Familie in die warme Stube auf. Als der Märchenfilm in den West-Berliner Kinos anläuft, ist sich die Kritik uneins: Für die einen „gelang ein Film, der auch im Abendprogramm laufen könnte“ („Der Abend“, 19.10.1953). Den anderen gefällt die „schief[e] Spießbürgermoral“ („Die Neue Zeitung“, 21.10.1953) nicht. Auch in die USA wird „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ verkauft – und soll es bis ins Weiße Haus geschafft haben: „Der Kurier“ (18.12.1954) berichtet, dass der Märchenfilm „vor Präsident Eisenhower und Familie gespielt“ wurde. Gut möglich, dass das nur ein Boulevard-Märchen ist.

Film: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (1953, R: Fritz Genschow, BRD). Noch nicht auf DVD erschienen.

Drehort: Thurnau-Film-Studios, West-Berlin

Stuttgart: „Ein Weihnachtstraum“ (1984) kritisiert christliche Doppelmoral

Villa Berg / Foto: Gerd Leibrock / Wikimedia Commons

Villa Berg / Foto: Gerd Leibrock / Wikimedia Commons

Als der Süddeutsche Rundfunk (SDR) das Märchen als Fernsehspiel produziert, entscheidet sich Regisseur Peter Weissflog für eine ungewöhnliche Umsetzung. Einerseits neu-romantische Szenenbilder, „die zum Teil durch Milchglasfilter verfremdet werden“ (Schmitt), andererseits fast kein Text, den die Figuren sprechen, sondern „Geräusche, akustische Assoziationen, Musiken, die einfühlsam die einzelnen Passagen begleiten“ (Blaich). Hinter diesen Ideen steckt der Künstler Friedrich Hechelmann. Der märchenerfahrene Maler, Illustrator und Filmemacher entwirft Szenenbild sowie Ausstattung und schreibt ebenso am Drehbuch mit.

Auch der neue Titel „Ein Weihnachtstraum“ macht deutlich, dass sich das Fernsehspiel von der Andersen-Vorlage lösen möchte. Hier lebt das elternlose Mädchen (Maike Cölle) ohne soziale Not mit seiner alten Adoptivmutter (Clara Walbröhl), die am Heiligen Abend plötzlich stirbt. Das verstörte Mädchen irrt hilflos in der Stadt umher, doch Kirchgänger, die zur Christmesse in den Dom strömen, merken nichts von seiner Traurigkeit und sind nur mit sich selbst beschäftigt. Während die Geburt Jesu gefeiert wird, erfriert das Mädchen vor der verschlossenen Domtür … Im Gegensatz zu Andersen kritisiert die Verfilmung ungewöhnlich offen eine christliche Doppelmoral, deren Nächstenliebe sogar an Weihnachten ausbleibt.

Film: „Ein Weihnachtstraum“ (1984, R: Peter Weissflog, BRD). Noch nicht auf DVD erschienen.

Drehort: Villa Berg, SDR-Fernsehstudios, Villa Berg 1, 70190 Stuttgart

TV-Ausstrahlungen: 26.12.1984 (14.55 Uhr, ARD), 25.12.1985 (SW3), 24.12.1986 (18.45 Uhr, SW3), 24.12.1987 (17 Uhr, SW3), 26.12.1991 (SW3)

© Thiele Verlag

© Thiele Verlag


Friedrich Hechelmann: „Ein Weihnachtstraum“
Gebunden mit Goldprägung, durchgehend vierfarbig gedruckt
48 Seiten, Großformat 30,0 x 23,0 cm
Thiele Verlag, 2014

München: Rollstuhl-Roadmovie (1987) mit Feuerzeug-Verkäuferin

Münchner Christkindlmarkt / Foto: Kunstart.net / Pixelio.de

Münchner Christkindlmarkt / Foto: Kunstart.net / Pixelio.de

Es ist eine, im wahrsten Sinne des Wortes, ziemlich abgefahrene Verfilmung des Andersen-Märchens. Drehbuchschreiber Andy T. Hoetzel und Ralf Huettner, der auch Regie führt, nutzen dabei nur einige Motive des literarischen Originals, ansonsten werfen sie einen allzu romantisierenden Ballast über Bord: Ihre Geschichte spielt in einem Münchner Behindertenheim. Vier junge Rolli-Fahrer, deren Leben ungefähr so spannend ist, wie die jährliche Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten, türmen am Heiligen Abend in ihren Gefährten.

Dabei lassen die Vier alle gesammelten Spendengelder (16.000 D-Mark!) mitgehen, um damit ihr eigenes Fest zu feiern. Sie treffen auch einen Engel in Gestalt einer Feuerzeug-Verkäuferin, die ihnen drei Wünsche freistellt … Gedreht wird in München, meistens nachts, sodass sich die Arbeiten von Januar bis März 1987 hinziehen. Das moderne Filmmärchen wird somit auch zu einem Stück Zeitgeschichte, weil der Zuschauer die bayrische Hauptstadt im 1980er-Flair wiederentdecken darf. Der Filmkritiker Georg Seeßlen schrieb einst über den Film „Das Mädchen mit den Feuerzeugen“:

© Constantin Video

© Constantin Video

„So viel traumwandlerische Sympathischkeit, so viel peinliches Vermeiden von Peinlichkeit, so viel liebenswürdige gegenseitige Aufhebung von Märchen und Wirklichkeit – womit haben wir das verdient?“

Drehort: München

Film: „Das Mädchen mit den Feuerzeugen“ (1987, R: Ralf Huettner, BRD). Im Auftrag des ZDF. Auf VHS (Constantin Video, 1987) erschienen.

Potsdam/Berlin: ARD-Märchenfilm (2013) zwischen Schloss und Zitadelle

Zitadelle Spandau / Foto: Hans-Georg Weimar / pixelio.de

Zitadelle Spandau / Foto: Hans-Georg Weimar / pixelio.de

Wie schon 2010 verfilmt die ARD für ihre Märchenfilm-Reihe „Auf einen Streich“ auch 2013 wieder zwei Geschichten von Hans Christian Andersen: „Die kleine Meerjungfrau“ – und „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Zwei Routiniers sind für Regie (Uwe Janson) und Drehbuch (David Ungureit) verantwortlich. Das freut den Zuschauer, denn das Märchen wird klug erweitert, ohne dass dabei wichtige Motive der Geschichte verlorengehen: Im Mittelpunkt stehen die zwei elternlosen Kinder Inga (Lea Müller) und Emil (Maximilian Ehrenreich), die im Waisenhaus leben. Drehort ist das Schloss Marquardt, 15 Kilometer nordwestlich vom Potsdamer Stadtzentrum.

Dort werden sie von der bösen Anstaltsleiterin Frau Landfried (Nina Kunzendorf) traktiert. Am Heiligen Abend müssen Inga und Emil Schwefelhölzer in der Stadt verkaufen. Für diese Außenaufnahmen entsteht in der Zitadelle Spandau in Berlin ein Weihnachtsmarkt mit Ständen, zwischen denen die Kinder hungrig und frierend gefilmt werden. Obwohl Anfang März 2013 gedreht wird, muss trotzdem mit Kunstschnee ein wenig nachgeholfen werden. Inmitten dieser Eiseskälte begegnet Inga einem geheimnisvollen Mann (Jörg Hartmann), der seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hat. Es ist der Tod, der hier vermenschlicht wird, wie schon im frühen Stummfilm „Der müde Tod“ (1921, R: Fritz Lang, D) oder im neueren Märchenfilm „Gevatter Tod“ (1980, R: Wolfgang Hübner, DDR).

© Telepool/EuroVideo Medien

© Telepool/EuroVideo Medien

Diese neue Idee und das dennoch optimistische Ende des ARD-Märchenfilms, obwohl Inga in der Heiligen Nacht erfriert, lassen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zu einem kleinen Juwel werden. Der Film wird zu Recht mit Nominierungen und Preisen ausgezeichnet, auch weil er behutsam jenen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen Leben und Tod anspricht.

Film: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (2013, R: Uwe Janson, BRD). Ist auf DVD erschienen.

Drehorte:

  • Schloss Marquardt, Hauptstraße 14, 14476 Potsdam
  • Zitadelle Spandau, Italienische Höfe, Am Juliusturm 64, 13599 Berlin

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Weitere deutsche Verfilmung:

  • „Armes kleines Mädchen“ (1924, R: Ulrich Kayser, D).

Literatur:

  • Andersen, Hans Christian: Sämtliche Märchen. Vollständige Ausgabe. Aus dem Dänischen von Thyra Dohrenburg. Mit Illustrationen von Vilhelm Petersen und Lorenz Frølich. Düsseldorf/Zürich, 1996, S. 411.
  • Blaich, Ute: Fernseh-Vorschau: Meisterstück, in: Die Zeit, 21.12.1984
  • Brüder, Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke, Bd. 1, Stuttgart, 1980, S. 29.
  • Freund, Winfried: Märchen. Köln, 2005, S. 137.
  • Kreimeier, Klaus: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns. München/Wien, 1992, S. 27.
  • de Mylius, Johan (Hrsg.): Hans Christian Andersen. Märchen, Geschichten, Briefe. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Frankfurt am Main, 1999, S. 139f.
  • Oertel, Rudolf: Filmspiegel. Ein Brevier aus der Welt des Films. Mit 236 Tafelbildern und 32 Textzeichnungen. Wien, 1943, S. 183.
  • Schmitt, Christoph: Adaptionen klassischer Märchen im Kinder- und Familienfernsehen: eine volkskundlich-filmwissenschaftliche Dokumentation und genrespezifische Analyse der in den achtziger Jahren von den westdeutschen Fernsehanstalten gesendeten Märchenadaptionen mit einer Statistik aller Ausstrahlungen seit 1954. Frankfurt am Main, 1993, S. 539.
  • Seeßlen, Georg: Mädchen mit den Feuerzeugen. In: epd Film, 2/1988.
  • Strobel, Hans (Hrsg.): Verfilmte Märchenwelten nach Hans Christian Andersen. Sonderdruck der „Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz“. Remscheid/München, 1999, S. 5.


Headerfoto: Inga (Lea Müller) zündet eines der Schwefelhölzer an. Der geheimnisvolle Fremde (Jörg Hartmann) schaut ihr dabei zu / © RBB/Daniela Incoronato

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