Er galt bisher als ‚ungehobener’, sprich unverfilmter Märchenschatz: „Der starke Hans“. Jetzt hat die ARD die Geschichte für ihre Reihe „Sechs auf einen Streich“ adaptiert – dabei aber ein wenig zu deutlich mit erhobenem Zeigefinger inszeniert.
Die Grimm’schen „Kinder- und Hausmärchen“ zählen etwa 200 Geschichten. Viele eignen sich im Besonderen, verfilmt zu werden. Zum Beispiel „Schneewittchen“, „Hänsel und Gretel“ oder „Rumpelstilzchen“. Warum? Sie bieten eine fortlaufende, geschlossene Handlung, einen dramaturgischen Spannungsbogen sowie einen roten Faden, dem das Publikum gut folgen kann.
Auch wenn diese und andere Märchen nur wenige Buchseiten füllen: Der Drehbuchautor hat ein passables Grundgerüst, das er mit zusätzlichen Szenen und Figuren anreichern kann, um die Geschichte noch ‚runder’ zu machen und dem jeweiligen Zeitgeschmack anzupassen.
Daneben gibt es bekannte Märchen, die in ihrer Textlänge aber erheblich kürzer sind. Beispielsweise „Der süße Brei“ oder „Die Sterntaler“. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Der Film beschränkt sich auf die bloße Verbildlichung der Vorlagen, so wie in Kurzfilmen der 1940er-Jahre. Oder aber er bettet den erzählerischen Kern in ein neues Märchen ein, verwendet im Extremfall nur noch Grundmotive und spinnt eine vollkommen neue Geschichte.
Märchenheldinnen bestehen abenteuerliche Prüfungen
Die ZDF-Verfilmung „Der süße Brei“ (2018, R: Frank Stoye) und der ARD-Märchenfilm „Die Sterntaler“ (2011, R: Maria von Heland) sind dafür gute Beispiele: In der ersten Geschichte um ein kochendes Zaubertöpfchen, dessen Brei Hunger und Armut besiegt, wächst die Heldin Jola (Svenja Jung) über sich hinaus – auch weil sie verschiedene Prüfungen besteht.
Einer ähnlichen Dramaturgie folgt der „Sterntaler“-Märchenfilm: Hier macht sich die 10-jährige Mina (Meira Durand) auf einen abenteuerlichen Weg, um am Ende mit den Goldstücken, die vom Himmel fallen, nicht nur ihre Eltern, sondern alle Erwachsenen ihres Dorfes auszulösen.
Neben diesen kurzen Erzählvorlagen können als dritte Gruppe solche Märchen gelten, die zwar den populären Klassikern „Schneewittchen“, „Hänsel und Gretel“ oder „Rumpelstilzchen“ im Textumfang ähneln, denen aber oftmals der rote Faden fehlt. Die Geschichten wirken – nach dem ersten Lesen – uneinheitlich, verworren. Oder es treten völlig unmotiviert Figuren auf, die im Verlauf des Märchens plötzlich bedeutungslos werden. Was noch schwerer wiegt: Die Geschichte berührt emotional nicht, weil sie wenige oder keine Identifikationsangebote bietet.
‚Ungehobene’ Schätze der „Kinder- und Hausmärchen“
Es gibt einige Märchen, die – zu Unrecht oder nicht – jener Gruppe hinzugerechnet werden. Vielen ist gemeinsam, dass sie filmisch noch nicht ‚erschlossen’ sind. Als ‚ungehobene’ Schätze der „Kinder- und Hausmärchen“ warten sie darauf, von Drehbuchschreibern entdeckt zu werden.
Bis vor Kurzem zählte auch „Der starke Hans“ zu diesen vergessenen Titeln, über die Autoren und Filmproduzenten selten stolpern. Dabei hat das Märchen an Figuren alles, was eine gute Geschichte braucht: ein mutiger Held, böse Räuber, falsche Freunde, ein zwielichtiger Zwerg und eine schöne Prinzessin. Doch der Reihe nach.
Das Märchen „Der starke Hans“ von den Brüdern Grimm
Ein Mann lebt mit Frau und Sohn Hans einträchtig und zufrieden. Einmal werden Mutter und Kind von Räubern gekidnappt und jahrelang gefangen gehalten. Hans wächst derweil zu einem starken Burschen heran. Zweimal legt er sich mit den Räubern an, doch erst beim dritten Mal überwältigt er sie und flieht mit der Mutter. Glücklich mit dem Vater vereint, zieht Hans schon bald in die Welt.
Auf dem Weg schließen sich ihm zwei ebenso starke Kerle an. Alle drei treffen auf einen Zwerg, doch nur Hans kann ihn bezwingen. Dabei erlöst er eine Königstochter, die der Wicht gefangen hielt. Seine Freunde tricksen Hans aber aus und eilen mit der Prinzessin davon. Doch er findet einen Zauberring, mit dem er Luftgeister herbeirufen kann. Die helfen ihm, seine falschen Freunde zu finden. Am Ende besiegt er sie und kehrt mit der Königstochter zu den Eltern heim.
Ist die Märchenvorlage „Der starke Hans“ filmtauglich?
Freilich stellt sich die erzählerische Zweiteilung des Märchens – einerseits die breit ausgespielte Adoleszenzgeschichte, andererseits die Suchwanderung des Helden – einer Verfilmung entgegen, weil sie die Handlung uneinheitlich gestaltet. Zudem bleibt die Frage offen, warum Hans so stark ist? Und eine Königstochter, die zufällig in einer Höhle sitzt und darauf wartet, befreit zu werden, ist in einem Märchenfilm des 21. Jahrhunderts auch nicht mehr vermittelbar.
Trotzdem gebe es hier und da einfache dramaturgische Lösungen. Denn das Grundgerüst von „Der starke Hans“ bietet durchaus das Potential, einen spannenden Märchenfilm zu gestalten, der den erzählerischen Kern der Geschichte behutsam erweitert und ihn gleichzeitig fit für das 21. Jahrhundert macht.
„Versatzstücke“ im völlig neu erdachten ARD-Märchenfilm
Allerdings birgt das immer die Gefahr, dass man sich zu weit von der Vorlage entfernt. Das gilt auch für den ARD-Märchenfilm „Der starke Hans“ (2020, R: Matthias Steurer). Tilman Spreckelsen fragt deshalb in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „wo eigentlich der Reiz lag, diese Filme [unter anderem „Der starke Hans“] zu ersinnen, wenn man sich auf das Herausziehen und Neugruppieren von Versatzstücken beschränkt.“
Das heißt nicht unbedingt, dass jene Versatzstücke, die Drehbuchautor Su Turhan nutzt, im völlig neu erdachten ARD-Märchenfilm nun gar nicht funktionieren. Turhan, der bereits für „Die drei Federn“ (2014, auch Regie) und „Prinzessin Maleen“ (2015, R: Matthias Steurer) die Filmmanuskripte beisteuerte, schöpft aus dem Angebot, das das Märchen bietet – verrennt sich aber auch hier und da.
Eine Dreiecks-, oder besser gesagt: Vierecksgeschichte
Wie schon bei den Grimms beginnt seine Handlung in Hans’ Kindheit, blendet später in die Jugend des Helden über. Neben der Titelfigur lernt das Publikum so in einer längeren Eingangsszene bereits alte und neue Hauptfiguren kennen: der starke Hans, die schöne Prinzessin Sarah, der eitle Herzog Egbert und die Hüterin der Luftgeister – eine ambivalente Fee, die über den Zauberwald herrscht. In den geraten die Kinder beim Spielen. Hans hilft Sarah, der Waldfee zu entkommen. Egbert gerät allerdings in ihre Fänge und geht einen Pakt mit ihr ein.
Der Grundstein für die Dreiecks-, oder besser gesagt: Vierecksgeschichte um Liebe und Hass sowie Rache und Vergebung ist gelegt.
Doch dem ARD-Märchenfilm ging und geht es auch immer darum, „alte Stoffe aus der jetzigen Perspektive zu interpretieren und tiefe Aussagen für das gegenwärtige gesellschaftliche Leben herauszuarbeiten“ (Götz/Innermann 2016). Das bedeutet konkret, bestimmte relevante Themen in den Mittelpunkt zu rücken.
Weibliche und männliche Selbstbestimmung im ARD-Märchen
Stichwort: Selbstbestimmung. In „Der starke Hans“ ist Prinzessin Sarah zu Schönfelsen (Bianca Nawrath) nicht nur eine Königstochter. Sie ist auch eine junge Frau, die selbst entscheiden will, ob, wann und wen sie heiratet. Ihr Pendant ist der Schmiedegeselle Hans (Lucas Reiber), der ebenso selbstbestimmt („Ich muss weg!“) in die Welt ziehen und Erfahrungen sammeln will. Seine jugendliche Suchwanderung ist typisch für das Märchen. Brüder im Geiste sind dabei die Helden in „Das tapfere Schneiderlein“ oder „Das Feuerzeug“.
Im Gegensatz zum Bild der selbstbestimmten, zupackenden Prinzessin ist Hans’ Aufbruch bereits in der Grimm’schen Vorlage angelegt. Das Drehbuch – und das ist ein Mangel – nimmt das Publikum aber nicht etwa auf Hans’ lange Reise mit und lässt es an seinen Abenteuern teilhaben. Vielmehr konzentriert es sich auf die Prinzessin und Hans’ Gegenspieler: Herzog Egbert zu Obertal (Simon Jensen). Sein Name verrät bereits, dass er von ‚oben’ auf das einfache Volk schaut. Er wird als hochnäsiger Gegenspieler sowie Kontrastfigur aufgebaut, will Sarah unbedingt heiraten und wird am Ende dennoch den Kürzeren ziehen.
Dabei werden Egbert selbst, aber auch sein orientalisierender Diener und zwei Waldschrate – deren tiefere Bedeutung im Figurenensemble unklar bleibt – als komische Figuren inszeniert. Offenbar soll Komik die ansonsten eher ernsten Grundmotive der Verfilmung (zum Beispiel die Bedrohung, die vom Zauberwald ausgeht) humoristisch flankieren. Die außerordentlich hohe Quantität dieser Einlagen, beispielsweise der Running Gag mit dem Diener, hat aber einen Nachteil: Sie entschärft die eigentlichen Handlungskonflikte.
Aktuelle Diskurse: Vorteil oder unnötige Überfrachtung?
Da es dem ARD-Märchenfilm – wie erwähnt – immer „auch um die Bedeutung jeder Geschichte für die heutige Zeit“ (Götz/Innermann 2016) geht, spiegeln die öffentlich-rechtlichen Adaptionen oft aktuelle Diskurse wider. Das kann einer Verfilmung zum Vorteil gereichen, trägt aber auch das Risiko unnötiger Überfrachtung in sich, vor allem wenn sich diese Debatten allzu sehr in den Vordergrund drängen und überdeutliche Parallelen zur Gegenwart konstruiert werden.
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Multikulti-WG in der Käseglocke: Das Märchen von den 12 Monaten (D 2019)
Eher dürr als grün: Das Märchen von der Regentrude (D 2018)
Der Schweinehirt (D 2017): Die Sehnsucht nach dem Happy End
In „Der starke Hans“ wird die Hüterin der Luftgeister als Beschützerin der Natur inszeniert. Sie wirft den Menschen vor, dass sie den Wald für ihre Zwecke roden, darauf Dorf, Schloss und jetzt noch eine Mühle bauen: „Ihr habt kein Fünkchen Achtung für die Natur!“ So weit, so gut. Verständlich, dass die Hüterin den Menschen den Wasserhahn abdreht beziehungsweise eine Quelle im Wald versiegen lässt. Diese versorgte Dorf und Schloss – bis jetzt.
Greta Thunberg und Prinzessin Sarah
Als einzige traut sich Prinzessin Sarah in den Wald, um hinter das Geheimnis der versiegten Quelle zu kommen. Mit Hilfe von Hans kann sie am Ende die Luftgeister und damit die Hüterin selbst besiegen. Ähnlich wie im späten DDR-Märchenfilm „Der Eisenhans“ (1988, R: Karl-Heinz Lotz), in dem die Titelfigur als ökologischer Schutzgeist des Waldes Frieden mit den Menschen schließt, so kommt auch Prinzessin Sarah mit der Hüterin überein.
Dass sie dabei an die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg erinnert – wenn die Prinzessin über sich sagt: „Aber es sind oft die kleinen Frauen, die unterschätzt werden, dabei so einiges verändern können“ –, kann dem Film löblich angerechnet werden. Es kann aber auch der Eindruck entstehen, dass der Märchenfilm ein bisschen zu deutlich mit erhobenem Zeigefinger arbeitet. Schade. Ein bisschen weniger Ideologie, dafür aber mehr Fantasie, bitte!
Film: „Der starke Hans“ (D, 2020, R: Matthias Steurer). Ist auf DVD erschienen.
Drehorte:
- Fränkisches Freilandmuseum Bad Windsheim, Eisweiherweg 1, 91438 Bad Windsheim
- Fränkische Schweiz (Tourismuszentrale Fränkische Schweiz, Oberes Tor 1, 91320 Ebermannstadt)
- Schloss Greifenstein, 91332 Heiligenstadt i. Ofr.
Verwendete Quellen:
- Brüder Grimm: Der starke Hans. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 2, S. 303–311.
- fabelheld – Die Otto Ubbelohde Kollektion: Der starke Hans (abgerufen 3.1.2021)
- Götz, Maya/Innermann, Ina: Herausforderung Märchenverfilmung. Expertenaussagen der verantwortlichen Redakteurinnen. In: TELEVIZION (29) 2016, Nr. 1, S. 26–28. (Hinweis: PDF wird beim Anklicken des Links automatisch heruntergeladen)
- Spreckelsen, Tilman: Sechs auf einen Streich – Das hält kein Märchen aus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (vom 25.12.2020, abgerufen: 3.1.2021)
Headerfoto: Lucas Reiber spielt die Titelfigur in „Der starke Hans“. Zuvor war er bereits im ARD-Märchenfilm „Prinzessin Maleen“ (2015, R: Matthias Steurer) zu sehen / © BR/Michael Boxrucker