Archiv für den Monat: Juli 2025

Die wilden Schwäne (UdSSR 1962): Die verzauberten Prinzen erkennen ihre Schwester Elisa nicht / Quelle: Icestorm

Gedachte Linien, abstrakte Formen: Die wilden Schwäne (UdSSR 1962)

Im sowjetischen Zeichentrickfilm dominiert lange ein gefälliger Disney-Stil. Bis ein Altmeister des Genres das bezaubernde Andersen-Märchen adaptiert – und überrascht.

„Weit, weit von hier, in jenem Land, in das die Schwalben fliegen, wenn bei uns Winter ist, dort lebte vor vielen, vielen Jahren ein König …“ So beginnt der Erzähler in der DEFA-Synchronfassung von „Die wilden Schwäne“ (1962, DDR-Kinostart: 18.7.1969) seine Geschichte – ganz so poetisch wie im Original von Hans Christian Andersen, das er 1838 veröffentlicht.

Der Film erzählt von elf Prinzen und ihrer schönen Schwester Elisa. Der Vater heiratet eine hexische Königin. Sie verwandelt die Brüder in Schwäne und macht Elisa hässlich. Um den Zauber zu brechen, muss das Mädchen elf Hemden aus Brennnesseln nähen – ohne ein Wort zu sprechen. Zwar verfolgt Elisa ein böser Erzbischof, der sie für eine Hexe hält und auf dem Scheiterhaufen verbrennen will, doch erfüllt sie die Aufgabe und die Brüder werden wieder Menschen.

Michail Zechanowski, der Stil-Pionier

Regie führt Altmeister Michail Zechanowski (auch: Cechanovskij, 1889–1965), zusammen mit seiner Frau Wera. Es ist in der UdSSR eine Zeit, in der sich die Trickfilmproduktion neu sortiert: „Themen, Genres und künstlerische Lösungswege nahmen bedeutend zu“ (Der sowjetische Film 1974, S. 184). Das gilt im Besonderen für das Märchen, aber auch für Zechanowski selbst.

Denn der anfängliche Buchillustrator und Plakatzeichner spiegelt wie kein anderer die künstlerischen Wellen des frühen sowjetischen Zeichentrickfilms wider. Zechanowski kommt eigentlich aus der Avantgarde, gehört also zu den Pionieren, die durch neue Ideen auffallen. Er experimentiert mit Form und Inhalt.

Künstlerischer Durchbruch: „Die Post“ (1927)

Ein frühes Beispiel ist sein illustriertes Kinderbuch „Die Post“ (1927), für das Samuil Marschak (1887–1964) den Text beisteuert. Die Kunsthistorikerin Tatiana Arquint lobt darin noch im 21. Jahrhundert Zechanowskis „konstruktivistische Liniensprache voller Witz und Fantasie“. 1930 folgt dem Buch ein gleichnamiger, ambitionierter Zeichentrickfilm (Flachfigurentechnik), der auch wegen seiner Bild-Ton-Beziehung Kultstatus erreicht (vgl. Reisner 2020, S. 163–168).

Doch dieser Konstruktivismus fällt Zechanowski in den 1930er-Jahren auf die Füße. Denn die Idee dieser sowjetischen Kunstbewegung, also „das bewusste Bekenntnis zur modernen Technik und die Überzeugung, wonach der Künstler gleichsam als Ingenieur fungiert“ (Brunner/zu Hüningen), steht in Opposition zum traditionalistischen, sozialistischen Realismus.

„Sinnlose Formexperimente“, z. B. geometrisch-technische Gestaltungsprinzipien, sind unerwünscht (vgl. Wir und die Kunst 1964, S. 648).

Sowjetischer Disney-Stil

Offenbar entnervt, auch weil einige seiner Filmprojekte, die er z. B. mit dem Komponisten Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) umsetzt, in der Schublade verschwinden („Das Märchen vom Popen und seinem Knecht Balda“, 1936, vgl. Reisner 2020, S. 168–177 ), schwört Zechanowski seiner künstlerischen Vorliebe ab.

Dafür schwenkt er Anfang der 1940er-Jahre auf eine konventionelle Richtung ein („Das Märchen vom dummen Mäuschen“, 1940, ebd. S. 183–187), die in der UdSSR und vor allem im Moskauer Studio Sojusmultfilm äußerst beliebt ist: den sowjetischen Disney-Stil.

Dafür steht beispielsweise Iwan Iwanow-Wano (1900–1987): Sein „Ritt ins Wunderland“ (1947, SBZ-Kinostart: 8.2.1949) – nach der Vorlage „Das bucklige Pferdchen“ (1834) von Pjotr Jerschow (1815–1869) – gilt als „der erste abendfüllende Trickfilm“ aus dem Studio (Der sowjetische Film 1974, S. 182). 1975 wird er eine neue Fassung der Geschichte drehen.

Brutalität versus Friedensliebe

Zwar lässt sich Iwanow-Wano in seinem Zeichenstil auch vom Märchenbuchillustrator Iwan Bilibin (1876–1942) inspirieren und bedient russisches Nationalkolorit, doch „vor allem im Bewegungsrhythmus und [in] der übertriebenen Figurencharakteristik“ ist der gestalterische Einfluss Walt Disneys (1901–1966) spürbar (ebd. S. 183). Das wird damals auch nicht bestritten, aber ideologisch fein säuberlich getrennt.

Denn die Hauptthemen im US-amerikanischen Zeichentrickfilm seien „Greuel und Brutalität, eine Politik des ‚Hartmachens’“. Dabei arbeiteten die sowjetischen Zeichentrickleute gerade entgegengesetzt:

Indem sie auf die kindliche Mentalität eingehen, interpretieren sie Zartheit, Freundlichkeit und Friedensliebe, Dinge, die für die Erziehung so wichtig sind. So offenbart auch der Zeichentrickfilm die Unterschiedlichkeit der für diese beiden Länder kennzeichnenden Weltanschauungen (Cavalcanti 1956, S. 105).

Neben Iwanow-Wano, der auch „Die zwölf Monate“ (1956, DDR-Kinostart: 28.2.1958) und „Die Abenteuer des Burattino“ (1959, mit Dmitri Babitschenko, DDR-Kinostart: 21.4.1961) dreht, ist ebenso der sowjetische Trickfilmregisseur Lew Atamanow (1905–1981) zu nennen: mit „Die feuerrote Blume“ (1952, DDR-Kinostart: 5.2.1962), „Die goldene Antilope“ (1954, DDR-Kinostart: 5.2.1962) oder „Die Schneekönigin“ (1957, DDR-Kinostart: 17.10.1958).

„Das Märchen vom Fischer und vom Fischlein“ (1950)

Zechanowski stellt sich bereits 1950 mit „Das Märchen vom Fischer und vom Fischlein“ (DDR-Kinostart: 5.2.1962) – nach einer Versdichtung (1833) von Alexander Puschkin (1799–1837) – in diese Reihe. Die Geschichte ähnelt inhaltlich dem Grimm’schen Pendant „Der Fischer und seine Frau“ und erzählt vom maßlosen Wünschen.

(Der Zeichentrickfilm ist im Übrigen das erste Märchen, das die DEFA Ende der 1950er-Jahre als Dia-Rollfilm in 31 Bildern herausgibt. Hier mehr erfahren)

Auch wenn er sich hier stilistisch stark der Linie von Iwanow-Wano oder Atamanow annähert, so gelingen ihm doch neue innovative Bildideen. Ein Beispiel ist das Unterwasserreich des Fischleins, das Puschkin nicht erwähnt: Es zeigt eine große Qualle, die als Baldachin für das bekrönte Tier dient, von gezäumten Seepferdchen gezogen, sowie Ballett tanzende Fische und Krebse.

(Die Choreografie für die Sequenz „Unter dem Meer“ aus „Arielle, die Meerjungfrau“, USA 1989, findet mitunter ihr frühes Vorbild in „Das Märchen vom Fischer und vom Fischlein“.)

„Die wilden Schwäne“ (1962)

Nicht ganz so originell gelingt Zechanowski „Die verzauberte Braut“ (1954, DDR-Kinostart: 30.3.1956), nach „Die Froschzarin“ aus der Sammlung „Russische Volksmärchen“ (1855–1863) von Alexander Afanassjew (1826–1871). Dennoch bedient er auch hier in Perfektion den sowjetischen Disney-Stil und setzt durchaus Maßstäbe in seiner Gestaltung.

Nach dem Kurzfilm „Das Mädchen im Dschungel“ (1956, DDR-Kinostart: 7.2.1958), das gütig den Tieren im Wald hilft, wird es allerdings still um den Regisseur.

1962 meldet er sich dann überraschend mit der Andersen-Adaption „Die wilden Schwäne“ zurück. Das Besondere: Nach dem Richtungswechsel, den er vor über zehn Jahren mit „Das Märchen vom Fischer und vom Fischlein“ vollzieht, erfindet er sich – im Alter von 73 Jahren – noch einmal neu. Wobei ‚neu’ es nicht ganz trifft, denn sein Animationsfilm enthält einige Stilelemente, denen er einst abschwört.

Konstruktivistische Parallelmontage

Das macht bereits die Eröffnungssequenz deutlich, deren Parallelmontage auch konstruktivistisch lesbar ist (Schnitt: Valentina Turubiner), wenn die Einstellungen bewusst einen Kontrast, einen Bruch hervorrufen.

Gemeint ist die Anfahrt der neuen, ernst dreinschauenden Königin in der Kutsche einerseits und der fröhlich-ausgelassene Tanz der Königskinder im Schloss andererseits. Das Publikum wird geradezu herausgefordert, einen Zusammenhang zwischen beiden unterschiedlichen Einstellungen herzustellen.

Hervorgehoben ist diese Verschiedenartigkeit neben Musik sowie Geräusch (bedrohliche Fanfarenklänge, Sturmgeheul ↔ beschwingte Tanzmusik) auch von Bilddetails, wie dem heliozentrischen Sonnenmotiv, unter dem die Kinder im Schlosssaal tanzen (Sinnbild für Freude und vor allem dafür, dass sie bei ihrem Vater noch im Mittelpunkt bzw. Zentrum stehen).

Überspitzte Figurencharakteristik

Dagegen spiegelt das Äußere einiger Figuren immer noch in übertriebenem Maße den Charakter. So soll der weiche, runde Körperbau des Königs nach William Sheldons (umstrittener, aber oft angewendeter) Körpertypologie offenbar für Umgänglichkeit, Geselligkeit und Güte stehen.

Das Hexenhafte der Stiefmutter drückt sich eher in wehendem schwarzen Haar aus, das sich beim Giftmischen (Kröten) ins Bläulich-Lila- oder Rotfarbende verwandelt. Ihre dichten schwarzen, hochgezogenen Augenbrauen lassen sie böse wirken. Das Rot ihres Kleids gilt innerhalb der Dämonologie als Farbe des Teufels (vgl. Harmening 2007, S. 365). Die elf Prinzen und Elisa entsprechen dagegen anfangs dem niedlichen Kindchenschema.

„Fehlerhafte Tendenz“

Auffällig ist, dass das allzu ‚Menschliche’ in den Gesichtern der Hauptfiguren, wie in „Das Märchen vom Fischer und vom Fischlein“ und „Die verzauberte Braut“, wieder verschwindet.

Damals lädt man „bedeutende Schauspieler in das Studio ein, um gemeinsam mit ihnen Gesichtszüge, Haltungen und Reaktionen der Figuren auszuarbeiten. Die dabei auftretende fehlerhafte Tendenz, das Äußere dieser Schauspieler zu kopieren, führte […] zur Imitation des Spielfilms“ (Der sowjetische Film 1974, S. 183).

Zudem erinnert es an Disney, der für das Charakterdesign in „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (1937) ebenso lebende US-Schauspieler wie Douglas Fairbanks (1909–2000) oder Janet Gaynor (1906–1984) verwendet (vgl. Lexikon des Fantasy-Films 1986, S. 435).

Reduzierte Formensprache

Abseits der Figurencharakteristik fällt von Beginn eine reduzierte Formensprache und Farbigkeit auf, die wiederum auf Zechanowskis künstlerische Herkunft verweisen mag: Das zeigt sich z. B. in einem plakativen Stil, einfarbigen Hintergründen, oftmals spitz zulaufenden, kantigen Architekturelementen (Gotik) und wenigen Requisiten. Alles wirkt sparsam, funktional, z. B. Elisas Zimmer mit Bett (in dem sie verwandelt wird), Truhe (aus der sie ein Kleid herausnimmt), Fußbank und Spiegel (in dem sie mit ihrem Bild bzw. zweiten Ich spricht).

Dass diese Formensprache zugleich mit geometrischen Prinzipien einhergeht, offenbart die gedachten Linien unterworfene Anordnung der Betten im Prinzen-Schlafzimmer – originell verbunden mit einer Kissenschlacht, bei der die Federn fliegen, die wiederum die spätere Verwandlung in Schwäne vorwegnehmen. Mehr noch ist es aber die Landschaft, die ihren naturalistischen Charakter verliert und oftmals nur noch abstrakt erscheint.

Bilderbuch mit Andersen-Märchen

Beispielhaft ist die Szene, in der Elisa in einen Wald hineinläuft, der in der Aufsicht tendenziell expressionistisch anmutet. Im Wald wiederum dominiert das Austariert-Kompositorische, wenn das Mädchen – wie arrangiert zwischen schwungvoll gebogenen Schilfgras-Linien – im Wasser des Sees seine Hässlichkeit entdeckt.

Die Drehbuchschreiber Evgeni Ryss (1908–1973) und Leonid Trauberg (1902–1990) lehnen sich dabei erzählerisch dicht an Andersen, reichern das Filmskript aber mit neuen Ideen an.

Z. B. wenn Elisa im Wald von ihren Brüdern und dem „wunderbaren Bilderbuch“ träumt, „für das man einmal das halbe Königreich gegeben hat. Die Bilder dieses Buches wurden alle lebendig […]“ (Erzähler). Erwähnt Andersen nicht, was darin gezeigt ist, so lässt Zechanowski drei seiner Märchen auferstehen: „Däumelinchen“, „Die Hirtin und der Schornsteinfeger“ – sowie „Die wilden Schwäne“.

Mit Kanonen auf Schwäne schießen

Hierbei wird eines der übergreifenden Themen des Zeichentrickfilms deutlich: die Geschwisterliebe und die von Beginn an aufopferungsvolle Rolle Elisas, wenn sie, „das gute Mädchen, […] ihren elf Brüdern die verstorbene Mutter ersetzt“ (Vater). Dass sie später unter schlimmsten Bedingungen für die Erlösung der Prinzen kämpft, wirkt dabei umso verständlicher.

Und: Diese Liebe beruht auf Gegenseitigkeit, wenn die elf Schwäne ebenso ihre Schwester suchen, z. B. im Schloss, in dem auf Geheiß der Stiefmutter mit Kanonen auf sie geschossen wird – was die Königin noch grausamer und unerbittlicher erscheinen lässt als in der Vorlage.

Hilfreiche Tiere

Die wilden Schwäne (UdSSR 1962): Kinoplakat / Quelle: Progress

Die wilden Schwäne (UdSSR 1962): Kinoplakat / Quelle: Progress

Wie in fast allen sowjetischen Zeichentrickfilmen nach Märchenvorlagen gehören gute Tiere zum Ensemble, auch weil sie beim Kinderpublikum auf Sympathie stoßen. Damit sind hier weniger die Titel gebenden Schwäne gemeint, sondern Hunde, Schwalben, Kätzchen, Mäuschen, sogar ein Hirsch und eine Wildschweinfamilie, aber vor allem ein sprechender bebrillter Rabe, der Elisa erklärt, wie sie ihre Brüder erlösen kann.

Damit verdrängt das Autorenduo auch das allzu Mystisch-Märchenhafte, wenn bei Andersen im Traum eine Fee („Fata Morgana im Wolkenschloss“) diese Aufgabe übernimmt. Gleichwohl lassen sich Analogien feststellen, wenn ein ähnlicher Rabe als weise Instanz in Iwanow-Wanos „Die zwölf Monate“ seinen Aufritt hat – wobei beide in der helfenden Krähe aus Andersens „Die Schneekönigin“ (1844) wohl ihr Vorbild finden.

Antiklerikale Tendenzen

Die Vorlage von Andersen enthält, wie viele seiner Märchen, christliche Bezüge, die immer auch die Entstehungszeit (19. Jahrhundert) spiegeln. So denkt Elisa „an den lieben Gott, der sie gewiß nicht verlassen würde“, ein anderes Mal „blickte der Herrgott mit milden Augen auf sie nieder; und Engel schauten über seinem Kopf und unter seinen Armen hervor“ (Andersen 2012, S. 164).

Die sowjetische Verfilmung enthält sich – aus ideologischen Gründen – solch religiösen Glaubensbekenntnissen. Sie geht den entgegengesetzten Weg: Dem schon bei Andersen auftretenden Erzbischof, dessen Äußeres hier in übertriebenem Maße seinen Charakter spiegelt (untersetzter Körperbau, sehr große Hakennase, fast zahnlos, reitet auf einem Esel), dient ein willfähriger Tonsur (Haarkranz) tragender Helfershelfer, der einem Mönch ähnelt.

Doppelmoral der Kirche

Beide setzen alles daran, die stumme Elisa, die vom König ins Schloss geholt wird, zu diffamieren und als Hexe hinzustellen. Denn der Erzbischof will seine Nichte Martha mit dem Herrscher verkuppeln, um seine eigene Macht auszubauen. Als Elisa auf dem Friedhof nach Brennnesseln sucht, um das letzte Hemd zu nähen, beobachtet sie der Diener des Erzbischofs – versteckt und Alkohol trinkend („ein Schlückchen zum Aufwärmen“) auf einer überlebensgroßen Frauenstatue mit sich abzeichnender Brust (!), was als Kritik an der Doppelmoral der Kirche deutbar ist.

Andererseits bedient sich der Zeichentrickfilm zuvor eines religiösen Motivs, das hier positiv besetzt ist: Wasser als Quelle des Lebens (Wiedergeburt). Schon Andersen erzählt von „viele[n] große[n] Quellen, die alle in einen Teich mündeten“, dessen Wasser glasklar ist, in dem Elisa badet und ihre Hässlichkeit ‚abwäscht’ (Andersen 2012, S. 163f.). Im Film heilt „ein verzauberter See“ erst einen angeschossenen Hirsch und gibt dann Elisa ihre schöne Gestalt zurück.

„Optimistisch künstlerisches Schaffen“

Als „Die wilden Schwäne“ 1962 in der UdSSR anläuft, will der Film in seiner Formensprache und Farbigkeit dennoch so gar nicht zu den kulturpolitischen Leitlinien passen, die damals in der Sowjetunion herrschen. Auf einer Beratung mit Literatur- und Kunstschaffenden im März 1963 ruft Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow (1894–1971) zu einem

optimistischen künstlerischen Schaffen auf, das die reale Welt wahrheitsgetreu und in der ganzen Vielfalt der Farben wiedergibt (zitiert nach Wir und die Kunst 1964, S. 648f.).

Nun spiegeln Märchen freilich nicht die „reale Welt“ wider, aber sie vermitteln im fantastischen Gewand sozialistische Wertvorstellungen (Solidarität, Gemeinschaftssinn etc.). Trotzdem harmoniert der Animationsfilm in seiner gestalterischen Machart und in seinem – für Andersen typischen – traurig-melancholischen Erzählton nicht mit anderen Produktionen. Märchenspielfilme, wie die auch in der sozialistischen Gegenwart spielende Geschichte „Im Königreich der Zauberspiegel“ (1963) oder die humoristisch-folkloristischen „Abenteuer im Zauberwald“ (1964, beide R: Alexander Rou, DDR-Kinostart: 17.12.1965), reüssieren damals an den Kinokassen.

Die wilden Schwäne (UdSSR 1962): Die stumme Elisa tanzt mit dem Prinzen / Quelle: Icestorm

Die wilden Schwäne (UdSSR 1962): Die stumme Elisa tanzt mit dem Prinzen / Quelle: Icestorm


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Licht und Schatten: Die sieben Raben (D 1937)
Die sechs Schwäne (BRD 2012): Kunstgeschichte im Märchenfilm

Gerade deshalb ist „Die wilden Schwäne“ aber eines der künstlerisch spannendsten Filmprojekte der 1960er-Jahre, das es noch zu entdecken und zu würdigen gilt.

Die wilden Schwäne (UdSSR 1962): DVD-Cover / Quelle: Icestorm

Die wilden Schwäne (UdSSR 1962): DVD-Cover / Quelle: Icestorm

Film: „Die wilden Schwäne“ (UdSSR, 1962, R: Michail und Wera Zechanowski). Ist auf DVD erschienen.

Hinweis: Eine ca. 50-minütige DEFA-Synchronfassung in der Regie von Thomas Ruttmann (in der die meisten Gesangseinlagen fehlen) liegt diesem Beitrag zugrunde. Die DEFA-Stiftung gibt die Filmlänge mit ca. 53 Minuten (= 1.460 Meter) an. Die sowjetische Originalfassung beträgt 57 Minuten.

Verwendete Quellen:

  • Arquint, Tatiana: Kinderbuch „Die Post“ (1933), Michail Cechanovskij. In: Museum für Gestaltung Zürich (eGuide), abgerufen: 29.7.2025.
  • Andersen, Hans Christian: Die wilden Schwäne. In: Sämtliche Märchen. Vollständige Ausgabe. Aus dem Dänischen von Thyra Dohrenburg. Mit Illustrationen von Vilhelm Petersen und Lorenz Frølich. Mannheim: Albatros, 2012, S. 160–179.
  • Brunner, Philipp/zu Hüningen, James: Konstruktivismus. In: Lexikon der Filmbegriffe. Hrsg. von Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (abgerufen: 29.7.2025)
  • Cavalcanti, Alberto: Einige Gedanken zur Entwicklung des Trickfilms. In: Deutsche Filmkunst 4 (1956), Nr. 4, S. 105f.
  • Der sowjetische Film. Bd. 2. Von 1945 bis zur Gegenwart. Berlin: Henschel, 1974 (VIII. Die sechziger Jahre. Zeichen- und Puppentrickfilme, S. 182–185)
  • Hahn, Ronald M./Jansen, Volker/Stresau, Norbert: Lexikon des Fantasy-Films. 650 Filme von 1900 bis 1986. Originalausgabe. München: Wilhelm Heyne, 1986
  • Harmening, Dieter: Rot. In: Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart: Reclam, 2005, S. 365.
  • Hütt, Wolfgang: Wir und die Kunst. Eine Einführung in Kunstbetrachtung und Kunstgeschichte. Mit 525 Abbildungen und 24 Farbtafeln. Berlin: Henschel, 1964
  • Reisner, Henriette: Von Propaganda bis Poesie. Der frühe sowjetische Animationsfilm im Spiegel politischer und ästhetischer Debatten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020

  • Headerfoto: Die wilden Schwäne (UdSSR 1962): Die verzauberten Prinzen erkennen ihre Schwester Elisa nicht / Quelle: Icestorm