Archiv für den Monat: Dezember 2024

Dornröschen (2024): Prinz Parvus (Claude A. Heinrich) berührt Prinzessin Rosabella (Alix Heyblom) / © ZDF/Tim Rosenbohm

Dornröschen und der Fluch der siebten Fee (D/CZ 2024) – oder: Die Erweckung Rosabellas

Das ZDF erzählt den Märchenklassiker neu: mit androgynem Prinzen, männlicher Fee und einer sprechenden Dornenhecke, hinter der die Titelfigur als Geist ihr Unwesen treibt.

Es ist Fluch und Segen zugleich, ein sehr bekanntes Märchen wie „Dornröschen“ zu verfilmen. Einerseits ist der Adaption das öffentliche Interesse sicher, weil die Geschichte vom Mädchen, das sich an einer Spindel sticht und 100 Jahre schläft, fast alle kennen. Andererseits stehen Drehbuchautorinnen und -autoren vor der schwierigen Aufgabe, dem Märchen nach der gefühlt x-ten Verfilmung neue Seiten abzugewinnen.

National wie international gelang das in den vergangenen Jahren recht gut. So versuchte die US-Realverfilmung „Maleficent“ (2014) herauszufinden, warum die Fee Malefiz aus dem Disney-Zeichentrickfilm „Sleeping Beauty“ (1959) so schlecht drauf ist. In Deutschland erzählte nach dem ZDF (2008) die ARD das Märchen für ihre Reihe „Sechs auf einen Streich“ neu: Dornröschens Missgeschick passiert in einer Rückblende; ein Stallbursche namens Fynn, der nicht weiß, dass er ein Prinz ist, rettet es am Ende („Dornröschen“, 2009).

„Dornröschen und der Fluch der siebten Fee“

Nun hat Drehbuchautorin Dana Bechtle-Bechtinger („Schloss Einstein“, 2001–2024) die Geschichte neu aufgeschrieben, für die ZDF-Reihe „Märchenperlen“. Zwar heißt es im Vorspann „frei nach Charles Perrault“, einem Franzosen, der mit „Die schlafende Schöne im Walde“ (1697) eine frühe „Dornröschen“-Version verfasste. Doch finden sich nur wenige eigenständige Perrault-Motive im Märchenfilm, die nicht auch bei den Grimms (1812) vorkommen. Allenfalls fehlt beispielsweise der die Geburt prophezeiende Frosch und es sind es statt 13 weiser Frauen nur sieben (bei Perrault: acht) Feen, von denen eine die neugeborene Prinzessin verwünscht und eine andere sich vorher versteckt, um den Fluch abzumildern.

Hobby-Botaniker: Prinz Parvus (Claude Heinrich, l.) mit Diener Johan (Hans-Joachim Heist) / © ZDF/Tim Rosenbohm

Hobby-Botaniker: Prinz Parvus (Claude Heinrich, l.) mit Diener Johan (Hans-Joachim Heist) / © ZDF/Tim Rosenbohm


Vielmehr ist die Geschichte – wie schon 2009 – aus der Sicht des Prinzen erzählt, der hier aber ein 16-jähriger, verkopfter Träumer ist, der sich nur für seine Pflanzen interessiert (ähnlich wie in „Zitterinchen“, 2022). Und auch noch Parvus (lat.) heißt, was „kleiner Junge“ bedeutet. Dabei ist er, authentisch gespielt vom 18-jährigen Claude Heinrich („Sörensen hat Angst“, 2021), der klassische Antiheld, dem niemand zutrauen würde, eine Prinzessin von einem Fluch zu erlösen.

Klassisches Brüdermärchen in „Dornröschen“

Ihm stellt das Drehbuch, wie im von Rivalität und Kontrast geprägten Brüdermärchen, Herzog Torin (Jonathan Elias Weiske, „Hameln – Die Rückkehr des Rattenfängers“, 2024) an die Seite: Er verkörpert als großer Bruder das ganze Gegenteil: smart, mutig und tapfer, aber zugleich überheblich, großtuerisch und selbstverliebt. Auch der Vorname spiegelt seinen Charakter (irisch: Torin, dt. „der Anführer“).

Die Handlungsräume, in denen sich die Brüder befinden, unterstützen die Gegensätze: Sitzt Parvus in einem hellen Gewächshaus, in dem er Rosen (sic!) züchtet, so erinnert Torin seinen Bruder in einem mit Waffen und Rüstungen bestückten, dunkel ausgeleuchteten Zimmer an seine Pflichten als Thronfolger (Szenenbild: Gabriella Ausonio, Licht: Václav Kovařík).

Drehort Schloss Sychrov: Östliche Fassade (Aufnahme: 15.8.2012) / © Miloslav Rejha, Wikimedia Commons

Drehort Schloss Sychrov: Östliche Fassade (Aufnahme: 15.8.2012) / © Miloslav Rejha, Wikimedia Commons


An seinem Geburtstag überwirft sich Parvus mit Torin und flieht trotzig aus dem heimischen Schloss – Drehort ist das neugotische Schloss Sychrov, 20 Kilometer südlich von Liberec (dt.: Reichenberg). Auf seinem Weg trifft er den in einen Hund verzauberten Feerich Amon (Soufjan Ibrahim). Er erzählt ihm von Prinzessin Rosabella (Alix Heyblom), die bei ihrer Taufe mit einem Fluch belegt wurde, sich an einer Spindel stach und 100 Jahre schlafen muss.

Neue Männer braucht der Märchenfilm

Handlung und Figurenkonstellation machen deutlich, dass der ZDF-Märchenfilm das bisherige „Dornröschen“-Konzept umkehrt. Sind es bei Grimm, Perrault, aber auch schon zuvor bei Basile („Sonne, Mond und Thalia“, 1634) vor allem Frauen, die das Märchen prägen – kinderlose Königin, Feen/weise Frauen, Thalia/Dornröschen, menschenfressende Schwiegermutter/eifersüchtige Ehefrau –, so treten jetzt die Männer in die erste Reihe: Parvus, Torin und Amon.

Lagerfeuer-Romantik: Feerich Amon (Soufjan Ibrahim, l.) und Prinz Parvus (Claude Heinrich) / © ZDF/Tim Rosenbohm

Lagerfeuer-Romantik: Feerich Amon (Soufjan Ibrahim, l.) und Prinz Parvus (Claude Heinrich) / © ZDF/Tim Rosenbohm


Das mag erstaunen, möchten heutige Märchenfilme doch mit „überzeugenden Frauenfiguren“ punkten (weil literarische Vorlagen sie oft passiv und fremdbestimmt zeichnen), wie es seinerzeit in der Nominierung der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ (2020) für den Grimme-Preis 2021 hieß. Es ging u. a. um „Der starke Hans“ und „Helene, die wahre Braut“ (beide 2020).

Doch in Zeiten, in denen Männlichkeit als Rollenbild hinterfragt wird, lohnt es, auch das im Märchenfilm zu thematisieren – vor allem dann, wenn der Prinz, wie in der „Dornröschen“-Vorlage, nur eine Statistenrolle innehatte. Gibt Torin den Typ aggressiver Actionheld, so ist Parvus der androgyne Empathische. Amon gehört als männliche Fee mit Elfenohren zu den fantastischen Gestalten, und steht deshalb ein wenig außerhalb; gleichwohl bedient sein ‚campy character’ ein drittes Männerbild.

Das Böse darf nicht mehr nur böse sein

Um das Märchen aber nicht einseitig von männlichen Figuren voranzutreiben zu lassen, stellt das Drehbuch ihnen Rosabella aktiv an die Seite – wenngleich sie nur mithilfe des magischen Nebels (ein populäres Fantasy-Motiv) sowohl mit Parvus als auch Amon (hebräisch, dt. „der Treue“), ihrem ergebenen Gefährten, in Kontakt treten kann. Das erinnert motivisch an Perraults „gute Fee“, die die schlafende Prinzessin aber „mit angenehmen Träumen“ unterhält.

Geburtstagsfest: Die Feen beschenken die neu geborene Prinzessin mit ihren guten Gaben / © ZDF/Tim Rosenbohm

Geburtstagsfest: Die Feen beschenken die neu geborene Prinzessin mit ihren guten Gaben / © ZDF/Tim Rosenbohm


Keine Party: An ihrem 16. Geburtstag fühlt Rosabella (Alix Heyblom) sich allein / © ZDF/Tim Rosenbohm

Keine Party: An ihrem 16. Geburtstag fühlt Rosabella (Alix Heyblom) sich allein / © ZDF/Tim Rosenbohm


Rückblende: Rosabellas (Alix Heyblom) Missgeschick wird von Feerich Amon erzählt / © ZDF/Tim Rosenbohm

Rückblende: Rosabellas (Alix Heyblom) Missgeschick wird von Feerich Amon erzählt / © ZDF/Tim Rosenbohm


Amons sechs Schwestern, die ebenso bei Perrault erwähnten Feen, sind hier in fantasievolle Kostüme gesteckt, die sich allein schon in Farbvielfalt und Modeaccessoires vom ‚weltlichen’ Personal originell unterscheiden (Kostümbild: Petra Stašková). Die erzählerische Aufwertung ihrer Rolle mag ein wenig an die Blumenfeen Knotgrass, Flittle und Thistlewit aus den Disney-Verfilmungen erinnern, dennoch werden neue Akzente gesetzt, weil sie hier nicht (nur) den Humor bedienen, sondern in Rubia (Bella Dayne) – der siebten Fee – das Böse miteinschließen.

Der Grund für ihre charakterliche Wandlung von der guten zur bösen Fee wird auserzählt, wie in vorangegangenen Verfilmungen. So darf das Böse nicht mehr nur böse sein, es bedarf einer psychischen Störung, die sein Verhalten erklärt, begründet, mitunter sogar entschuldigt – in diesem Fall geschickt mit dem Kinderwunsch-Motiv des „Dornröschen“-Märchens verwoben.

Man soll sich fürchten, lacht aber

Ähnlich wie die seelische Durchdringung gehört auch Humor zum heutigen Märchenfilm, hier in Verbindung mit der Horrorkomödie (man soll sich fürchten, lacht aber): Denn um zur schlafenden Rosabella zu gelangen, muss Parvus erst einmal eine menschenfressende, sprechende Dornenhecke überwinden, die auch noch Heckbert („Hecki“) heißt und von Komiker Michael Kessler gesprochen wird. Parvus’ botanisches Wissen (und kein Schwert) hilft ihm dabei.

Gut möglich, dass das Gewächs deshalb drin ist, um den Film für Kinder (FSK ab 6 freigegeben) nicht zu düster erscheinen zu lassen. Denn Parvus muss sich später noch der bösen Rubia und ihren Schattenwesen entgegenstellen, was via Computeranimation umgesetzt wird.

Digitale Märchenwelten

Ohnehin prägen die visuellen Effekte (VFX-Koordination: Jan Turek) sowie die virtuellen (Märchen-)Welten „Dornröschen“ in großem Maße. Waren im ZDF-Märchenfilm der 2010er-Jahre nur in ausgewählten Szenen solche Tricks möglich, auch wegen hoher Kosten, so ist das dank fortgeschrittener digitaler Technik und einer Förderung des Czech Film Fund (Tschechischer Staatsfonds) heute machbar.

Wenngleich dabei die Ästhetik oft nicht mehr an einen Spiel- sondern mitunter an einen Animationsfilm oder gar ein Computerspiel erinnert, was besonders augenfällig am Beginn ist, wenn Parvus in sein Abenteuer reitet. Andererseits werden klassische Bildkompositionen bedient, die für „Dornröschen“-Verfilmungen, aber auch US-amerikanische Produktionen, typisch sind.

Mystisch aufgeladene Bildgestaltung

Gemeint sind große, bereits in der Romanik bekannte kreisrunde oder ovale Fenster (auch: Ochsenauge, Rosenfenster), durch die (Scheinwerfer-)Licht ins Rauminnere dringt und die dramatische Situation – Dornröschen sticht sich an der Spindel (2009, 2024) – mystisch aufladen (Bildgestaltung: Ngo The Chau).

Dornröschen (2024): Prinzessin Rosabella (Alix Heyblom, l.), Fee Rubia (Bella Dayne) / © ZDF/Tim Rosenbohm

Dornröschen (2024): Prinzessin Rosabella (Alix Heyblom, l.), Fee Rubia (Bella Dayne) / © ZDF/Tim Rosenbohm


Dornröschen (2009): Prinzessin Myrose (Lotte Flack, l.), Fee Maruna (Hannelore Elsner) / © SWR/Walter Wehner

Dornröschen (2009): Prinzessin Myrose (Lotte Flack, l.), Fee Maruna (Hannelore Elsner) / © SWR/Walter Wehner


Die Schöne und das Biest (2017): Belle (Emma Watson) im Schloss des Untiers / © 2016 Disney Enterprises

Die Schöne und das Biest (2017): Belle (Emma Watson) im Schloss des Untiers / © 2016 Disney Enterprises


Zudem nehmen die gedrechselten Speichen des Spinnrades die Form der aus Stein gefertigten Fensterspeichen pittoresk auf. Eine ähnliche Bild- bzw. Lichtgestaltung ist in „Die Schöne und das Biest“ (USA 2017) zu beobachten, wenngleich sich das Fenster hier nur in der Empfangshalle eines verlassenen Rokokoschlosses wiederfindet.

„Erschaffung Adams“ und ‚Erweckung Rosabellas’

Nicht an Architektur, sondern an ein populäres Motiv der Kunstgeschichte angelehnt, scheint letztlich die Schlüsselszene in „Dornröschen“: Denn Parvus küsst Rosabella am Ende nicht wach (wie bei Perrault), sondern berührt sie am Zeigefinger – dem Körperteil, mit dem er sich selbst am Anfang an einer Rosendorne stach, wie einst Rosabella an der Spindel 100 Jahre zuvor.

Erweckung Rosabellas: Prinz (Claude Heinrich) und Prinzessin (Alix Heyblom) / © ZDF/Tim Rosenbohm

Erweckung Rosabellas: Prinz (Claude Heinrich) und Prinzessin (Alix Heyblom) / © ZDF/Tim Rosenbohm


Erschaffung Adams: Gemalt vom zweitgrößten Genius der Renaissance – Michelangelo Buonarroti / © Gemeinfrei

Erschaffung Adams: Gemalt vom zweitgrößten Genius der Renaissance – Michelangelo Buonarroti / © Gemeinfrei


Happy End: Prinzessin Rosabella (Alix Heyblom, l.) und Prinz Parvus (Claude Heinrich) / © ZDF/Tim Rosenbohm

Happy End: Prinzessin Rosabella (Alix Heyblom, l.) und Prinz Parvus (Claude Heinrich) / © ZDF/Tim Rosenbohm


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Bildlich erinnert diese ‚Erweckung Rosabellas’ an die „Erschaffung Adams“ (1508–1512) – jenem Detail eines Deckenfreskos in der Sixtinischen Kapelle, das einst Michelangelo (1475–1564) schuf: Es zeigt, wie Gott mit ausgestrecktem Zeigefinger Adam zum Leben erweckt – allerdings ohne dass sich beide Zeigefinger berühren. Pikant an dieser Lesart: Rosabella wäre als Frau auf eine Stufe mit Adam gestellt, und nicht wie Eva aus einer Rippe Adams entstanden („Erschaffung Evas“). Doch das ist schon wieder ein anderes Märchen.

Film: „Dornröschen und der Fluch der siebten Fee“ (BRD/CZ, 2024, R: Ngo The Chau). Die TV-Premiere ist an Heiligabend (Dienstag, 24. Dezember 2024) um 15 Uhr im ZDF. Weiterer TV-Termin: Silvester (Dienstag, 31. Dezember 2024) um 9.55 Uhr im ZDF.

Drehorte: u. a.

  • Barrandov Studio a.s., Kříženeckého náměstí 322/5, 152 00 Praha 5, Tschechien
  • Burgruine Šelmberk (dt.: Schellenberg), Běleč 3, 391 43 Běleč-Mladá Vožice, Tschechien
  • Schloss Sychrov (dt.: Sichrow), 463 44 Sychrov, Tschechien

Verwendete Quelle:

  • Basile, Giambattista: Sonne, Mond und Thalia. In: Das Pentameron. Aus dem Neapolitanischen. Übertragung von Felix Liebrecht. Nachwort von Werner Bahner. Mit 20 Federzeichnungen von Josef Hegenbarth. Leipzig: Reclam, 1968, S. 433–439.
  • Brüder Grimm: Dornröschen. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1980, Bd. 1, S. 257–260.
  • Perrault, Charles: Die Schlafende Schöne im Walde. In: Sämtliche Märchen. Mit 10 Illustrationen von Gustave Doré. Übersetzung und Nachwort von Doris Distelmaier-Haas. Stuttgart: Reclam, 2012, S. 55–69.
  • 57. Grimme-Preis 2021: ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ 2020. In: Grimme-Preis (Archiv) (abgerufen: 12.12.2024)


Headerfoto: Dornröschen (2024): Prinz Parvus (Claude A. Heinrich) berührt Prinzessin Rosabella (Alix Heyblom) / © ZDF/Tim Rosenbohm