Stress mit den Eltern, Rausschmiss von Zuhause, erste große Liebe: Das ZDF erzählt das Grimmmärchen über eine geheimnisvolle Schlange als spannende Geschichte übers Erwachsenwerden.
Obgleich „Die weiße Schlange“ bereits in der Erstauflage der Grimm’schen „Kinder- und Hausmärchen“ (1812) erscheint, ist die Geschichte doch wenig bekannt. Überdies ist lange keine deutsche Verfilmung – ob nun als Animations- oder Spielfilm – überliefert. Das überrascht, bietet das Märchen doch Stoff für ein fesselndes Drehbuch.
Ein allwissender König lässt sich nach dem Mittagessen stets eine verdeckte Schüssel auftragen. Ein Diener wird neugierig, öffnet sie heimlich, findet eine weiße (tote) Schlange darin, isst von ihrem Fleisch und gewinnt die Gabe, die Sprache der Tiere zu verstehen. Diese Fähigkeit rettet ihm wenig später das Leben, als er beschuldigt wird, den Ring der Königin gestohlen zu haben.
Danach verlässt der Diener den Königshof und freundet sich mit drei Tieren (Fisch, Ameise, Rabe) an. Sie helfen ihm zum Dank, drei unlösbare Aufgaben zu erfüllen, die ihm eine stolze Königstochter stellt. Am Ende heiratet er sie.
Schlange: Verführerin und Glücksbringerin
Freilich mag ein Grund sein, dass die Schlange in unserem westlichen Kulturkreis negativ besetzt ist, als gefährlich gilt und nicht in einen Kinderfilm passt. Zudem ist das Tier in der biblischen Überlieferung doch die listige Verführerin: Im Alten Testament überredet sie Eva, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen. Daraufhin verflucht Gott die Schlange: „Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang“ (Die Bibel 1979, S. 9).

Der Sündenfall: Eva reicht Adam eine Frucht vom Baum der Erkenntnis / Illustration (19. Jahrhundert)
Andererseits besagt der Aberglaube, dass der Verzehr von Schlangenfleisch Glück bringe: Er „macht reich, schützt vor Verwünschungen, verleiht die Kenntnis von Heilkräutern und reiches Wissen, insbesondere auch die Kenntnis der Tier- und Vogelsprache“ (Harmening 2005, S. 377).
Jener Wunderglaube, die Sprache der Tiere zu verstehen und sich deren Wissen zunutze zu machen, taucht in „Die weiße Schlange“ wieder auf. (Ein Beispiel dafür, dass viel Aberglaube im Märchen steckt, z. B. wenn es schneite, dachte man früher, dass „Frau Holle“ ihr Bett mache. Zudem wurden Sternschnuppen bzw. vom Himmel herabfallenden Sternschwärmen nachgesagt, sie bringen Glück, „Die Sterntaler“).
Märchen erstmals in Deutschland verfilmt
Gerade die Ambivalenz der Schlange ist aber auch ein Vorteil, bietet sie doch das Potential, eine komplexe Geschichte zu erzählen – in der das Tier verschiedene Rollen bedient. Mitunter ist das ein Grund, weshalb sich 2014 das ZDF dafür entscheidet, das Märchen erstmalig zu adaptieren. Das Drehbuch schreiben Max Honert („Rapunzel und die Rückkehr der Falken“, 2023) und Jörg Menke-Peitzmeyer.
Anders als die Grimms erzählen die Autoren vor allem eine Coming-of-Age-Geschichte, also eine Geschichte übers Erwachsenwerden. Gewiss ist diese oftmals im Märchen schon angelegt, denn: „Die Aufbrüche und Reisen des Märchenhelden bilden den Rahmen zu Erfahrungen des eigenen Selbst und der eigenen Möglichkeiten in der Konfrontation mit der Welt“ (Freund 2005, S. 88). In „Die weiße Schlange“ allerdings nicht.

Die weiße Schlange (2015): Der Vater-Sohn-Konflikt erinnert an archaische Rituale / © ZDF/Volker Glaeser
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Die Entdeckung der männlichen Körperlichkeit im Märchen
Deshalb steht jetzt der junge Bauernsohn Endres im Mittelpunkt – gespielt von Tim Oliver Schultz („Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“, 2014). Endres hadert mit seinem sozialen Stand, der ihm Bildung und Aufstieg verwehrt. Er will etwas aus sich machen, reich werden – was seinem Vater Mathis (Roland Silbernagl) überhaupt nicht gefällt. Deshalb jagt er seinen Sohn davon.
Der emotional stark aufgeladene Vater-Sohn-Konflikt, der im Film neu hinzukommt, ist aber so neu nicht. Als sich der Märchenforscher Walter Scherf mit der literarischen Vorlage von „Die weiße Schlange“ befasst, weist er auf eine ähnliche Situation im Grimmmärchen „Die drei Sprachen“ hin – in dem ein Vater ebenso seinen Sohn vor die Tür setzt, weil der „etwas ganz Ungewöhnliches, dem Vater völlig Unverständliches lernt“ (Scherf 2007, Bd. 2, S. 1382).
Eltern-Konflikt und Ablösung
Obgleich das „ganz Ungewöhnliche“ hier die Sprache der Tiere meint, so gibt es dennoch die Parallele zum Märchenfilm: Für den Analphabeten Mathis ist es ebenso völlig unverständlich, dass sein Sohn sich Lesen und Schreiben beibringt und sich nicht für die Feldarbeit interessiert („Warum straft Gott mich mit einem Taugenichts? Andere Bauern haben tüchtige Söhne“).
Die auf „Einander-nicht-mehr-Verstehen fußende Ablösung“ (ebd.) des Sohnes vom Vater ist dieselbe. Sie ist auch der Auslöser, dass Endres an den Hof von König Konrad (Reiner Schöne, „Das blaue Licht“, 2010) kommt. Der Herrscher gilt im ganzen Land als über die Maßen klug. Endres wird sein neuer Leibdiener und muss ihm jeden Tag nach dem Essen eine geheimnisvolle goldene Schüssel reichen.

Die weiße Schlange (2015): Endres (Tim Oliver Schultz, r.) ist zum Leibdiener aufgestiegen / © ZDF/Volker Glaeser
Dabei ist Endres anfangs ein ergebener, treuer Untertan seines Königs, auch weil er ihm als armen, dreckigen Bauernsohn eine Stellung verschafft hat – aber vor allem, weil der König seine Klugheit anscheinend für sein Volk einsetzt. Dabei ist das Land nichts weiter als ein autoritärer Obrigkeitsstaat, in dem sich viele nicht wirklich für Politik interessieren und der König sein Wissen gnadenlos ausnutzt, um sich zu bereichern und seine Macht zu festigen.
Die erste große Liebe
Klug orchestriert das Drehbuch das Figurenensemble aus der Vorlage neu: So wird die Rolle der Prinzessin anders gewichtet. Bei den Grimms tritt sie erst im zweiten Teil auf und ist mit dem allwissenden König nicht verwandt. Im Märchenfilm ist sie dessen Tochter Leonora, gespielt von Frida Lovisa Hamann („Charité“, 2019), die ihren Vater zutiefst achtet und sich in Endres verliebt.
Dabei bedient diese erste große Liebe einerseits eine weitere klassische Zutat des Coming-of-Age-Märchenfilms. Andererseits können damit die holzschnittartigen Märchenfiguren tiefgehender charakterisiert werden. Beide, Endres und Leonora, sind anfangs noch kindlich-naiv, emanzipieren sich im weiteren Verlauf vom König, den beide illusorisch verherrlichen (als Vater-Ersatz und leiblicher Vater) bis sie sein wahres Ich erkennen.

Die weiße Schlange (2015): Leibdiener und Prinzessin (Frida Lovisa Hamann) verlieben sich / © ZDF/Volker Glaeser
Sie sind damit auch Parallelfiguren (Teenager), obwohl sie der soziale Stand klar als Kontrastfiguren (Bauernsohn, Prinzessin) ausweist.
Märchenfilm als sozialkritische Geschichte
Auffällig ist jener Kontrast zu Beginn mittels zwei Sequenzen umgesetzt: Als ein Königs-Bote die Bauern im Dorf anweist, die Ernte einzubringen, weil der Herrscher ein Unwetter voraussagt, ätzt Endres’ Vater Mathis: „Wenn wir weniger Abgaben zahlen müssten, bräuchten wir auch keine königliche Wettervorhersage [ironisch] – und wir müssten kein Hunger leiden.“
Dann erfolgt ein Schnitt.
Im darauffolgenden Bild sitzt die Königsfamilie im Schloss an einer reich gedeckten Tafel und schlemmt. „Ich kann nicht mehr, ich platze gleich“, ruft Königin Beatrix (Jutta Fastian). Der König schenkt ihr überdies einen teuren Ring (das erwähnte Motiv aus der Grimmvorlage). Zum Nachtisch gibt es Datteln. Im Spätmittelalter – in dem der Märchenfilm in etwa angesiedelt ist – gelten die Früchte als kostbare und exotische Delikatesse, die aus dem Orient importiert wird.
Die Montage der Bilder unterstreicht hier eine bestimmte Lesart (Kontrast: Arm und Reich), die ebenso auf der Dialogebene (Mathis, Königin) unterstützt wird (Schnitt: Clare Dowling, „Rübezahls Schatz“, 2017) – und somit auch eine sozialkritische Geschichte erzählt.
Kamera unterstützt Coming-of-Age-Geschichte
Ohnehin gelingt es der Kameraführung, dem Märchenfilm auch einen visuellen Tiefgang zu verleihen. Damit ist weniger das mit dem Genre verbundene obligatorische Schloss-Panorama am Beginn gemeint; hier ist es das Renaissanceschloss Rosenburg in Niederösterreich.
Kameramann Hermann Dunzendorfer, zuvor erprobt in drei ZDF-Märchenfilmen („Der Eisenhans“, 2011; „Die Schöne und das Biest“, 2012; „Das kalte Herz“, 2014), schafft es vielmehr, im Zusammenspiel mit Szenenbild (Rudolf Czettel) sowie Licht (Herbert Kohlhammer) Räume wieder exzellent zu inszenieren.

Die weiße Schlange (2015): Die Maueröffnungen zitieren in ihrer Form die heraldische Lilie / © ZDF/Volker Glaeser

Die weiße Schlange (2015): In der goldenen Schüssel befindet sich das Geheimnis des Königs / © ZDF/Volker Glaeser
In Erinnerung bleibt das dunkle Kellergewölbe, in dem die geheimnisvolle Schüssel aufbewahrt ist: Gleißendes Tageslicht (hier verstärkt mit Außenscheinwerfern) dringt durch zwei rosettenähnliche Belüftungsöffnungen im Mauerwerk und strahlt eine Art Taufbecken an, in dem sich hinter einem achteckigen Käfig, mit einer Krone geschmückt, das goldene Gefäß befindet.

Die weiße Schlange (2015): Das Spiel von Licht und Schatten machte einst das Stummfilmkino legendär / Quelle: ZDF
Erwähnenswert ist ebenso der klaustrophobisch wirkende Schlossgang, den Endres nachts durchschreitet, als er auf dem Weg zum Kellergewölbe ist, um unerlaubt die Schüssel zu öffnen: Der enge Gang ist so fotografiert, dass er sich mittels Licht und Schatten vervielfacht und Endres gleich mehrfach einrahmt – eine expressionistische Gestaltungsweise, die an Filme wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) erinnert.
Endres scheint ‚gefangen’ und kann sich nur ‚befreien’, wenn er hinter die Wahrheit kommt. Ein Beispiel dafür, dass auch die Ästhetik, hier die Kameraführung, auf die Coming-of-Age-Geschichte einzahlen kann.
Verbotsübertritt und Tierliebe
Eher erzählerisch ist es im weiteren Verlauf das Überschreiten eines Verbots (Endres öffnet die goldene Schüssel und isst im Rausch die ganze Schlange): Es setzt zwar neue positive Fähigkeiten frei (Erlernen der Tiersprache), ist aber auch mit Bewährungsproben verbunden, wenn er aus dem Schloss fliehen muss, weil ihn der König deshalb aus dem Weg räumen will.
Wie schon bei der Prinzessin, deren Auftritt im Film vorgezogen wird, ist das aus der Vorlage bekannte Motiv der dankbaren Tiere (die dem Helden helfen) in der Adaption indirekt vorgelagert und zieht sich somit durch den ganzen Märchenfilm. Der Grund: Endres ist tierlieb; so hilft er zu Beginn einem kleinen Raben, der aus dem Nest gefallen ist, oder kümmert sich am Königshof um Prinzessin Leonoras Lieblingspferd Phönix, sodass es wieder gesund wird.

Die weiße Schlange (2015): Erst rettet Endres den Raben, später hilft er dem Bauernsohn / © ZDF/Volker Glaeser
Es ist eines der Tiere (neben wie bei den Grimms: Fische, Ameisen, Rabe), das ihm bei seiner Flucht aus dem Schloss und den kommenden Bewährungsproben nützt – weil es dessen Sprache versteht. Somit ist die Hilfe der Tiere stärker motiviert und wirkt nicht allzu konstruiert.
Dass deren Stimmeigenschaften mitunter verkindlicht sind, ist wohl dem Umstand geschuldet, dass der spannende, knallhart erzählte Märchenfilm auch humorvolle Ruhephasen braucht (für ein Kinderpublikum ab 6 Jahren, für das die Adaption freigegeben ist, durchaus wichtig).
Verantwortung und Bewährungsprobe
Das zeigt im Besonderen die Schlusssequenz, in der Endres Verantwortung – ein weiteres Thema innerhalb dieses Coming-of-Age-Prozesses – übernehmen und dem König eine zweite weiße Schlange bringen will: Nur so kann er Eltern und Bruder freikaufen, die der Herrscher nach Endres’ Flucht eingesperrt hat.
Ist die Idee mit der zweiten Schlange neu, so geht ihr Lebensort wieder auf tradierte biblische (Szenenbild-)Vorstellungen zurück: Es ist ein Baum, der mitten in einem paradiesischen Garten steht, und an dessen Äste Früchte hängen, durch die sich das Tier schlängelt. Doch Endres tötet die Schlange nicht, sondern verbündet sich mit ihr, um König Konrad auszuschalten.

Die weiße Schlange (2015): Im Baum der Erkenntnis hat sich die Titelfigur versteckt / © ZDF/Volker Glaeser
Am Schluss hat Endres einen anderen Blick auf die Welt und sich selbst – denn er ist gereift. Dabei hat er typische Stationen des Erwachsenwerdens (Coming-of-Age) durchlaufen: Eltern-Konflikt und Ablösung, Einsamkeit und Suchwanderung, Liebe und Beziehung, Verantwortung und Bewährungsprobe, Selbstfindung und Selbstbehauptung.
Sein vermeintlich neues väterliches Vorbild hat sich dabei als Trugbild erwiesen. Geradezu exemplarisch zeigt das ein lateinisches Sprichwort, das König Konrad in der ersten Hälfte des Märchenfilms erwähnt, kurz bevor er Endres als Leibdiener einstellt.
Seneca-Zitat versinnbildlicht Filmethik
„Nemo enim potest personam diu ferre“, was bedeutet: „Niemand kann auf Dauer eine Maske tragen.“ Nicht König Konrad sondern Endres verwendet es am Ende nochmals, als er den Herrscher im Kampf besiegt – und ihm so im übertragenen Sinn die Maske vom Kopf reißt.
Das Zitat wird Lucius Annaeus Seneca, kurz: Seneca (um 1 n. Chr.–65), zugesprochen, einem römischen Philosophen und Lehrer des späteren Kaisers Nero (37–68).

Die weiße Schlange (2015): Die Farbdramaturgie (Schwarz = Böse, Weiß = Gut) ist eindeutig / © ZDF/Volker Glaeser
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Die Schneekönigin (D/FIN 2014): Gefühl gegen Verstand
Die sechs Schwäne (D 2012): Kunstgeschichte im Märchenfilm
Der Eisenhans (D 2011) – oder: Die Suche nach erzählerischer Geschlossenheit
Das Sprichwort besteht im Übrigen noch aus einem zweiten Teil, der da heißt: „… ficta cito in naturam suam recidunt“, in etwa: „… denn Vorgespieltes sinkt schnell an seine wahre Natur zurück.“ König Konrad hat seinem Volk ebenso etwas vorgespielt. Dass er von der zweiten weißen Schlange verschlungen wird, da er die erste grausam tötete, um sich unbotmäßig die Tiersprache anzueignen, ist da nur konsequent.
Film: „Die weiße Schlange“ (BRD/AT, 2015, R: Stefan Bühling). Ist auf DVD erschienen.
Drehorte: u. a.
- Schloss Greillenstein, Greillenstein 1, 3592 Röhrenbach, Österreich
- Schloss Rosenburg, Rosenburg 1, 3573 Rosenburg, Österreich
Verwendete Quellen:
- Brüder Grimm: Die weiße Schlange. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam, 1980, Bd. 1, S. 112–117.
- Freund, Winfried: Märchen. Köln: DuMont, 2005
- Hangartner, Selina/Petraitis, Marian: Frühreife und Spätzünder. Zur Entwicklung des Coming-of-Age-Films. In: Filmbulletin. Zeitschrift für Film und Kino. H. 362 (2017), S. 50–57.
- Harmening, Dieter: Schlange. In: Ders.: Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart: Reclam, 2005, S. 376–379.
- Luther, Martin: Der Sündenfall. Das erste Buch Mose. Das Alte Testament. In: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers. Altenburg, 1979, S. 9.
- Scherf, Walter: Die weiße Schlange. In: Ders.: Das Märchenlexikon. Zweiter Band L–Z. Sonderausgabe. München: C. H. Beck, 2007, S. 1380–1382.
Headerfoto: Bauernsohn Endres (Tim Oliver Schultz) kämpft mit der weißen Schlange / © ZDF/Volker Glaeser