Dornröschen (D 1936): Der Prinz (Peer Baedeker) weckt die schlafende Titelfigur (Ilse Petri) / Quelle: SDK

Von Setting bis Stopptrick: Filmsprache im NS-Märchenfilm

Zwar werden Märchenfilme im „Dritten Reich“ politisch instrumentalisiert, doch das populäre Filmgenre sucht auch nach neuen gestalterischen und erzählerischen Wegen.

Einerseits gilt die Märchenfilmproduktion im „Dritten Reich“ als eine der produktivsten Perioden in der Geschichte des deutschen Märchenfilms: Zwischen 1933 und 1945 wurden fast 20 Märchen als Realfilme für ein Kinderpublikum adaptiert und aufgeführt. Nicht eingerechnet sind damals begonnene, aber nicht fertiggestellte Kinofilme, wie „Frau Holle“ (1944/48, R: Hans Grimm), oder als verschollen geltende Verfilmungen, wie „Hans im Glück“ (1940, R: Hubert Schonger) mit Joachim Brennecke (1919–2011) in der Titelrolle.

Frau Holle (D/West 1944/48): Blondmarie (Elfie Beyer) schüttelt das Kopfkissen, bis die Federn fliegen / Quelle: SDK

Frau Holle (D/West 1944/48): Blondmarie (Elfie Beyer) schüttelt das Kopfkissen, bis die Federn fliegen / Quelle: SDK


Andererseits steht die NS-Märchenfilmproduktion zweifellos für eine ideologische Instrumentalisierung. Die literarischen Märchenheldinnen und -helden, die sich durch Ehre, Mut, Tapferkeit, Pflichtgefühl, Gehorsam und Opferbereitschaft auszeichnen, ließen sich leicht für die nationalsozialistische Erziehung einspannen, weil die Protagonistinnen und Protagonisten genau die Ideale verkörperten, die das „Dritte Reich“ propagierte. Doch: Welche erzählerischen, gestalterischen und dramaturgischen Wege gingen dabei die NS-Märchenfilme?

Welche Märchen werden im „Dritten Reich“ verfilmt?

Werden die literarischen Vorlagen mit den sechs Kurz- und 13 abendfüllenden uraufgeführten Spielfilmen verglichen, so sind die Volksmärchen der Brüder Grimm überproportional vertreten: 14 Drehbücher lehnen sich an bekannte Grimm’sche „Kinder- und Hausmärchen“ an, wie „Schneewittchen“, „Hänsel und Gretel“ oder „Der Froschkönig“. Nur vier Adaptionen gehen auf Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts zurück.

Schneewittchen und die sieben Zwerge (D 1939): Die Titelfigur (Marianne Simson) wird umringt / Quelle: Bundesarchiv

Schneewittchen und die sieben Zwerge (D 1939): Die Titelfigur (Marianne Simson) wird umringt / Quelle: Bundesarchiv


Die Heinzelmännchen (D 1939): Die Titelfiguren schauen nach, ob die Menschen schon schlafen / Quelle: Bundesarchiv

Die Heinzelmännchen (D 1939): Die Titelfiguren schauen nach, ob die Menschen schon schlafen / Quelle: Bundesarchiv


Diese werden von Wilhelm Hauff (1802–1827), Hans-Christian Andersen (1805–1875), Friedrich Hebbel (1813–1863) und Theodor Storm (1817–1888) geschrieben. Eine Verfilmung findet in einer deutschen Sage bzw. in der daraus entstandenen volkstümlichen Ballade von August Kopisch (1799–1863) ihre Vorlage („Die Heinzelmännchen von Köln“) – wurde aber ausdrücklich als Märchenfilm bezeichnet (1939, R: Hubert Schonger).

Weniger ‚Leerstellen’, neue Nebenfiguren

Allerdings irritierte das dem Kunstmärchen so eigene „skeptisch[e] Verhältnis zur Wirklichkeit“ (Freund 2005, S. 46) die NS-Pädagoginnen und -Pädagogen. Zudem werden in den fantastischen Geschichten oftmals komplexe Erzählstrukturen bevorzugt, die sich filmisch nicht immer entsprechend umsetzen lassen. Auch deshalb favorisierten die NS-Filmschaffenden eher die einfach strukturierten Handlungen und Lebenswelten Grimm’scher Volksmärchen mit ihren oftmals holzschnittartig gezeichneten Märchenfiguren.

Das hieß gleichzeitig aber auch, die meist kurzen „Kinder- und Hausmärchen“, die nicht selten auf wenigen Buchseiten erzählt werden, Film adäquat auszufabulieren. Die Drehbuchschreiberinnen und -schreiber überlegten deshalb, wie sie sogenannte ‚Leerstellen’ erzählerisch aufwerten. Zu diesen gehören kurze und offenbar unmotivierte Auftritte von Märchenfiguren. Beispiele dafür sind der Diener (Eiserner Heinrich) aus „Der Froschkönig“, der überraschend erst am Schluss erscheint und sich freut, dass sein Herr entzaubert ist.

Der Froschkönig (D 1940): Prinzessin Ilse (Helga Wasmer) erhält ihre Kugel / Quelle: SDK

Der Froschkönig (D 1940): Prinzessin Ilse (Helga Wasmer) erhält ihre Kugel / Quelle: SDK


Oder auch das Märchen „Schneeweißchen und Rosenrot“, in dem der Bruder eines Prinzen plötzlich am Ende auftritt und eines der Mädchen heiratet. In der gleichnamigen Verfilmung (1938, R: Alfred Stöger) wird dem titelgebenden Schwesternpaar gleich zu Beginn ein Brüderpaar gegenübergestellt. Hier sucht der bei den Grimms nur am Rand erwähnte Königssohn nach seinem in einen Bären verzauberten Bruder. Gleichzeitig entwickeln sich im Laufe der Handlung zwei Liebesfabeln, die am Schluss in einer Doppelhochzeit enden.

Zudem wurde das Figurentableau in NS-Märchenfilmen um neue Charaktere erweitert – oft in Verbindung mit Komik: Der Diener Knickebein – ein sogenannter Trickster, hier ein tolpatschiger Begleiter – unterstützt in „Schneeweißchen und Rosenrot“ den Prinzen bei der Suche und ist zudem für die humoristischen Momente verantwortlich.

Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart: Raum und Zeit

Die Märchen der Brüder Grimm boten für die Filmemacherinnen und -macher aber auch Vorteile, weil die Geschichten räumlich und zeitlich nicht festgelegt sind („Es war einmal …“). Werden die Märchen verfilmt, kann deshalb das Setting, der Handlungsort, exakt historisch konkretisiert und in einer bestimmten Epoche angesiedelt werden.

So orientieren sich Raum, Zeit und Kostüm in „Dornröschen“ (1936, R: Alf Zengerling) am deutschen Spätmittelalter. Dagegen kämpft „Das tapfere Schneiderlein“ (1941, R: Hubert Schonger) im deutschen Rokoko erfolgreich gegen Riesen, Einhorn und Wildschwein.

Das tapfere Schneiderlein (D 1941): Die Titelfigur (Hans Hessling) wird ausgelacht und verspottet / Quelle: SDK

Das tapfere Schneiderlein (D 1941): Die Titelfigur (Hans Hessling) wird ausgelacht und verspottet / Quelle: SDK


Rotkäppchen und der Wolf (D 1937): Der Jäger (Fritz Genschow) schneidet den Wolfsbauch auf / Quelle: DIF

Rotkäppchen und der Wolf (D 1937): Der Jäger (Fritz Genschow) schneidet den Wolfsbauch auf / Quelle: DIF


Räumliche und zeitliche Bezüge zur Gegenwart bietet dagegen die moderne Rahmenhandlung in „Rotkäppchen und der Wolf“ (1937, R: Fritz Genschow), die das eigentliche Grimm’sche Märchen dramaturgisch geschickt einbettet – dabei aber auch NS-Symbole der ‚braunen’ Jetztzeit verwendete.

Obwohl Kunstmärchen meist schon mit geografischen und oftmals auch zeitlichen Ausmalungen festgelegt sind, geht das Szenenbild in „Der kleine Muck. Ein Märchen für große und kleine Leute“ (1944, R: Franz Fiedler) einen anderen Weg. Die Märchenwelt aus Tausendundeiner Nacht – in der Vorlage von Wilhelm Hauff beschrieben – weicht einer Ausstattung, die sich am 17. und 18. Jahrhundert orientiert. Diese entstand zum Teil in einem Münchner Atelier.

Drehorte für Märchenfilme: Dresden, Kassel und Berlin

Wird die Anzahl der reinen Atelierproduktionen mit den Adaptionen verglichen, die zum Großteil auch Außenaufnahmen einbeziehen, ist das Verhältnis ausgeglichen: Für „Der gestiefelte Kater“ (1935) wurden die Anlagen der drei Albrechtsschlösser bei Dresden genutzt. „Dornröschen“ (1936) entstand in der Löwenburg bei Kassel und „Der Froschkönig“ (1940) auf der Pfaueninsel bei Berlin. Dagegen wurden „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (1939) sowie „Hänsel und Gretel“ (1940) im Filmstudio gedreht.

Der kleine Muck (D 1944): Das Setting des Märchenfilms wird in die Kunstepoche des Barock verlegt / Quelle: SDK

Der kleine Muck (D 1944): Das Setting des Märchenfilms wird in die Kunstepoche des Barock verlegt / Quelle: SDK


Hänsel und Gretel (D 1940): Die Titelfigur (Gisela Bussmann) stößt die Hexe (Elsa Wagner) in den Ofen / Quelle: SDK

Hänsel und Gretel (D 1940): Die Titelfigur (Gisela Bussmann) stößt die Hexe (Elsa Wagner) in den Ofen / Quelle: SDK


Dennoch montierten Regisseure hier und dort Natur- oder Tierszenen aus Kulturfilmen in die Atelierproduktionen ein, um beispielsweise zeitliche Abfolgen im Märchenfilm zu verbildlichen. So wird in „Schneeweißchen und Rosenrot“ (1938) der Wechsel der Jahreszeiten mit realen Naturaufnahmen im Zeitraffer bildlich umgesetzt, obwohl die Adaption komplett im Studio produziert ist. Inserts, das heißt: eingefügte Schnitte, wurden aber oftmals noch aus einem ganz anderen Grund im Film verwendet – um das Märchenwunder darzustellen.

Alles Trick! – Überblendung, Stopptrick und Zeitraffer

Denn in Märchen mit sprechenden Tierfiguren stößt auch die Filmdramaturgie der 1930er- und 1940er-Jahre an ihre Grenzen, wie die kostümierten Schauspieler in „Der gestiefelte Kater“ (1935) und „Der Froschkönig“ (1940) zeigen. Mitunter wählten Regisseure einen Mittelweg, der aber nicht immer ästhetisch funktioniert: Als sich vor den Augen des gestiefelten Katers ein böser Zauberer in einen Löwen verwandelt, wird erst ein kostümierter Schauspieler als Löwe gezeigt, dann folgen kurz reale Aufnahmen eines echten brüllenden Löwen. Der Kontrast zwischen den Tier- und Märchenfilmszenen wirkt hier besonders auffällig.

Der gestiefelte Kater (D 1935): Die Titelfigur (Paul Walker) beim König (Hans Pokorny, M.) / Quelle: SDK

Der gestiefelte Kater (D 1935): Die Titelfigur (Paul Walker) beim König (Hans Pokorny, M.) / Quelle: SDK


Der Hase und der Igel (D 1940): Meister Lampe (Paul Walker) vor dem Rennen mit Mecki / Quelle: SDK

Der Hase und der Igel (D 1940): Meister Lampe (Paul Walker) vor dem Rennen mit Mecki / Quelle: SDK


Zweifellos kommen in der Märchenfilmproduktion zwischen 1933 und 1945 auch klassische Tricktechniken zum Einsatz, um das Märchenwunder auf der Leinwand umzusetzen. Mit Hilfe des Stopptricks erscheint „Rumpelstilzchen“ (1940), um Stroh zu Gold zu spinnen. Und per Überblendung wird „Der Froschkönig“ (1940) entzaubert. Bisweilen ist auch die Zeitraffertechnik eine Möglichkeit – mittels Wettlauf oder Zauberpantoffeln – das Wunderbare darzustellen, zum Beispiel in „Der Hase und der Igel“ (1940, R: Alf Zengerling) und „Der kleine Muck. Ein Märchen für große und kleine Leute“ (1944).

Experimente mit Sachtrick- und Realfilmszenen

Auch mit der Einbindung klassischer Animationstechniken im Schauspieler-Märchenfilm wurde Anfang der 1940er-Jahre experimentiert. So werden drei Kurzfilme mit realer Handlung in einer Länge zwischen 15 und 33 Minuten produziert, die jeweils mit Sachtrickszenen kombiniert sind.

Für „Der süße Brei“ (1940, R: Erich Dautert) entstanden beispielsweise die Drehorte maßstabsgetreu im Miniaturformat, um diese von einer zähen Flüssigkeit überschwemmen zu lassen. Im Film werden zwischen diesen Sachtrickszenen Inserts montiert, welche die Schauspielerinnen und Schauspieler in derselben Studiodekoration zeigen, die der Miniaturwelt ähnlich sieht.

Rumpelstilzchen (D 1940): Königin (Trude Häfelin) mit Männchen (Paul Walker) / Quelle: SDK

Rumpelstilzchen (D 1940): Königin (Trude Häfelin) mit Männchen (Paul Walker) / Quelle: SDK


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Diese Experimente zeigen, dass die NS-Filmschaffenden neue gestalterische Wege suchten, Märchen filmisch zu adaptieren. Einen neuen Schub konnten sie dem in Deutschland populären Filmgenre allerdings nicht verleihen. Erst der staatliche DDR-Märchenfilm ab den 1950er-Jahren knüpfte an die hohen künstlerischen Maßstäbe des Märchenfilms vom Anfang der 1920er-Jahre – und präsentierte anspruchsvolle erzählerische und gestalterische Ideen.

Verwendete Quellen:


Headerfoto: Dornröschen (D 1936): Der Prinz (Peer Baedeker) weckt die schlafende Titelfigur (Ilse Petri) / Quelle: Stiftung Deutsche Kinemathek (SDK)

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