Hervorgehobener Beitrag
Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Was ist heute vom DEFA-Märchenfilm der untergegangenen DDR übrig geblieben?

Als der Historiker llko-Sascha Kowalczuk mit „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ (2019) ostdeutsche Befindlichkeiten unter die Lupe nahm, provozierte er – dreißig Jahre nach dem Mauerfall – eine kontroverse Debatte. Lobte der 1976 von der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann in der „Berliner Morgenpost“ Kowalczuks Essay als „glänzendes Buch“ und „wahrhaftige Analyse“, so urteilte im „Deutschlandfunk Kultur“ die DDR-Ex-Leistungssportlerin Ines Geipel deutlich kritischer.

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de


Kowalczuk bediene mit seiner „Strategie des halben Blicks“ nur den „aktuellen Hype: da der Schuld-Westen, dort der Opfer-Osten“, so Geipel, die auch Mitbegründerin des „Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR“ ist. Gleichwohl hält die Zeit des Bilanzziehens unvermindert an. Sie mündet dabei vor allem in einer Frage: Wie wirkt sich eine sogenannte „Übernahme“, oder anders gesagt: der Beitritt der DDR (nach Artikel 23 des alten Grundgesetzes), auf das heutige Deutschland aus?

„Kulturelle Hegemonie“ und fehlende „Ost-Eliten“

Dabei rückte Kowalczuk den Blick auch auf eine westdeutsche ‚Vorherrschaft’ im Kulturbetrieb des seit 30 Jahren vereinten Deutschlands. Diese Erkenntnis war zwar schon damals nicht neu, gewann aber mehr und mehr an Relevanz im öffentlichen Diskurs. Jene ‚West-Dominanz’ nannte Kowalczuk „kulturelle Hegemonie“, geprägt von fehlenden „Ost-Eliten“ und einer damit verbundenen „Abwertung“ ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler.

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de


Dabei meint der wissenschaftlich eher umstrittene Begriff „Eliten“ (vgl. Waldmann 1998, S. 113–116) Personen, die in Institutionen oder Organisationen aufgrund ihrer (Leitungs-)Funktion und der daraus resultierenden Macht einen gesellschaftspolitischen Einfluss besitzen. „Ost-Eliten“ sind hierbei jene, die in der DDR geboren oder nach dem 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern oder Ostberlin geboren und/oder aufgewachsen sind und deren Eltern aus der DDR stammen.

Eine ‚West-Vorherrschaft’ im Märchenfilm nach 1990?

Zwar gibt es einige wenige Statistiken, die den Anteil der Ostdeutschen an den gesamtdeutschen Eliten bemessen (vgl. Kollmorgen 2021), doch gilt landläufig die Meinung, dass sich ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler „im vereinten Vaterland noch am besten behauptet“ haben (Eckert 2021, S. 283).

Dennoch finden sich selten valide Erhebungen, die sich tiefergehend dem Kulturbetrieb, zum Beispiel der Filmbranche widmen. Schon gar nicht dem bundesdeutschen Märchenfilm, der aber vor dem Hintergrund der 40-jährigen DDR-Märchenfilmgeschichte und des anhaltenden gesamtdeutschen Märchenfilmbooms seit Mitte der 2000er-Jahre einen näheren Blick lohnt und Fragen aufwirft.

Gibt es heute (oder immer noch) eine sogenannte „Repräsentationslücke“ (Kollmorgen 2021, S. 231) von DDR-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern, oder umgekehrt gefragt eine ‚West-Vorherrschaft’, im bundesdeutschen Märchenfilm nach 1990? Und wenn ja, wie groß ist diese, was sind hierfür die Gründe und folgen daraus unmittelbare Defizite?

Die Abwicklung von DFF und DEFA

Als die DEFA, das ehemalige staatliche Filmstudio der DDR, 1992 von der Treuhandanstalt an einen französischen Mischkonzern verkauft wird, blickt es in seiner über 45-jährigen Geschichte auf etwa 40 Schauspieler-Märchenkinofilme zurück. Zudem produziert die DEFA für den staatlichen Deutschen Fernsehfunk (DFF, 1956–1971, 1990–1991) bzw. das Fernsehen der DDR (1972–1990) etwa 20 Märchenfernsehfilme bzw. -spiele.

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG


Ihr künstlerisches Niveau, lobenswerte Leistungen der Schauspielstars und dramaturgisch gut durchdachte Geschichten machten viele der Märchenadaptionen – trotz einer mal mehr, mal weniger durchschimmernden Ideologie – damals wie heute zu Filmklassikern, die sogar in den Westen exportiert und dort in TV und Kino gezeigt wurden. Dennoch fielen mit der Abwicklung von DEFA und DFF schlagartig zwei Institutionen weg, die diese Märchenfilme produzierten. Das daran beteiligte künstlerische Personal verlor von heute auf morgen seine gesicherte Existenz.

Neuanfang in unbekanntem Produktionsmarkt

„Das Telefon stand plötzlich still“, erinnerte sich später der Filmkomponist Peter M. Gotthardt in einem Interview an die Nachwendezeit – und meinte damit die ausbleibenden Aufträge. Gotthardt, der mit der Filmmusik zu „Die Legende von Paul und Paula“ (DDR, 1973, R: Heiner Carow), aber auch zum DEFA-Märchenfilm „Schneeweißchen und Rosenrot“ (DDR, 1979, R: Siegfried Hartmann) zu den wichtigsten DDR-Filmkomponisten zählte, schaffte den Neuanfang in einem gänzlich unbekannten Produktionsmarkt mit hohem Konkurrenzdruck. Vielen anderen Kolleginnen und Kollegen gelang das allerdings nicht.

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR


Das hatte auch damit zu tun, dass sich – auf das Märchenfilmgenre bezogen – die Nachfolger des DFF, die 1992 neu gegründeten ARD-Landesrundfunkanstalten Mitteldeutscher Rundfunk (MDR) und Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB, seit 2003: Rundfunk Berlin-Brandenburg, kurz: RBB) erst einmal neu aufstellen mussten (vgl. Wiedemann 2017, S. 215). Die Produktion neuer Märchenfilme stand nicht auf der Tagesordnung. Das künstlerische DEFA-Märchenfilmerbe schien vorerst niemanden zu interessieren.

Einige ‚Überläufer’ in Fernsehen und Kino

Mit wenigen Ausnahmen: MDR und ORB übernahmen 1992 gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem Sender Freies Berlin (SFB) die Endproduktion von „Sherlock Holmes und die sieben Zwerge“ (TV-Erstausstrahlung: 10.5.1992). Gedreht wurde die 8-teilige Fantasy-Serie nach Motiven der Brüder Grimm noch von der bereits abgewickelten DEFA-Studio Babelsberg GmbH (vgl. Wiedemann 2015, S. 9).

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB


Der Filmstab gehörte fast ausschließlich zum früheren DEFA-Personal: Die Regie übernahm der ehemalige DDR-Regisseur Günter Meyer (u. a. „Spuk unterm Riesenrad“, 1978), der bis Anfang der 2000er-Jahre weiter Akzente im Fantasy-Fach setzte.

Zudem starteten sogenannte ‚Überläufer’ wie „Das Licht der Liebe“ (DDR/D 1991) und „Olle Hexe“ (DDR/D 1991), die bereits vor dem 3. Oktober 1990 abgedreht, aber erst danach im gesamtdeutschen Kino uraufgeführt wurden.

Stabile Strukturen und Netzwerke im Westen

Der frühe gesamtdeutsche Märchenfilm nach 1990 wurde dennoch von den Akteurinnen und Akteuren in den etablierten alten Bundesländern geprägt. Hier gab es Strukturen und Netzwerke, die über Jahrzehnte gewachsen waren und sich weiter als stabil erwiesen. So führte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) Anfang der 1990er-Jahre seine Reihe „Die Welt des Märchens“ fort. Darin verfilmte der öffentlich-rechtliche Sender in Koproduktion mit der ČSSR (später: ČSFR und ČZ) sowie westeuropäischen Fernsehanstalten bekannte Märchen für Kino und TV.

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF


Opulente Produktionen wie „Dornröschen“ (ČSSR/D/F 1990), „Der Reisekamerad“ (ČSSR/D/F/I/AT 1990), „Der Froschkönig“ (ČSFR/D/F/I 1991), „Schneewittchen und das Geheimnis der Zwerge“ (ČSFR/D/I/ES 1992) oder „Des Kaisers neue Kleider“ (ČZ/D/ES/I 1994) rekrutierten ihr Personal dabei ausschließlich aus populären westdeutschen Schauspielstars, wie Iris Berben, Judy Winter, Michael Degen oder Harald Juhnke, und tschechoslowakischen Filmschaffenden.

Ebenso verfuhr die ARD, die „Das Zauberbuch“ (ČZ/D 1996) mitproduzierte, oder der Bayerische Rundfunk (BR), der sich an „Der Feuervogel“ (ČZ/D 1997) und „Die Seekönigin“ (ČZ/D 1998) beteiligte. Ostdeutsches Personal war auch hier, aufgrund der beteiligten westdeutschen Landesrundfunkanstalt (BR), so gut wie nicht vertreten.

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF


Für westliche Entscheidungsträgerinnen und -träger in ARD und ZDF kamen Ostdeutsche auch deshalb nicht infrage, weil etwaige künstlerische Positionen in den TV-Redaktionen oder Filmstäben ohnehin bereits besetzt waren. Eine Neu- oder Umverteilung war nicht gewollt.

Ostdeutsche Aspirantinnen und Aspiranten wurden nicht zuletzt diskreditiert („Bolschewistenfunk“), weil sie nach Ansicht der westdeutschen Elite mit ihrer (künstlerischen) Arbeit das DDR-Regime direkt oder indirekt gestützt hätten. Und das, obwohl nach dessen Ende das DEFA- und DFF-Personal über berufliche Qualifikationen und notwendiges Fachwissen verfügte.

Lichtblick am Ende der 1990er-Jahre

Da wirkte es wie eine große Überraschung als Ende der 1990er-Jahre der frühere DEFA-Regisseur Rolf Losansky „Hans im Glück“ (D 1999) vorlegte – und dabei auf ein proportional ausgeglichenes hochkarätiges Ost-West-Schauspielensemble zurückgriff. Der Grund dafür mag darin gelegen haben, dass den von der Westberliner Genschow-Film GmbH produzierten Märchenfilm neben dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) auch der in Potsdam ansässige ORB und der 1997 im thüringischen Erfurt gestartete ARD-/ZDF-Kinderkanal (seit 2012: KiKA) mitfinanzierte, für den der MDR bis heute verantwortlich ist.

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film


Und auch wenn der Posten des KiKA-Programmgeschäftsführers von 1997 bis 2017 mit westdeutsch sozialisierten männlichen Entscheidungsträgern besetzt wurde (seit 2018: Astrid Plenk aus Bernburg/Sachsen-Anhalt), ist es denkbar, dass sich schon Ende der 1990er-Jahre die Redaktionen zum Teil aus ostdeutschem Personal zusammensetzten – und sich dieser Umstand auf die Märchenfilm-Produktionsplanung (Regie, Drehbuch, Schauspiel etc.) auswirkte.

Märchen-Parodien in Kino und TV für Erwachsene

Dennoch ging von „Hans im Glück“ vorerst keine Trendwende aus. Schlichtweg aus dem einfachen Grund, weil das deutsche Märchenfilmgenre Anfang der 2000er-Jahre keine wichtigen Adaptionen nach Grimm, Andersen und Co. für ein Kinderpublikum produzierte. Fragen nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ spielten deshalb vorerst noch keine Rolle.

Gleichwohl war das Märchen weiter präsent: als Parodie in Kino und TV für Erwachsene. So funktionierten die von Otto Waalkes mitproduzierten Filmkomödien „7 Zwerge – Männer allein im Wald“ (D 2004) und „7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug“ (D 2006) an den Kinokassen. Und im Privatsender ProSieben flimmerte „Die Märchenstunde“ (D/AT/ČZ 2006–2012) der Rat Pack Filmproduktion (München) über die Bildschirme.

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures


Hier wie dort griffen die Filmverantwortlichen auf westdeutsches Personal zurück, das vor oder hinter der Kamera agierte, wenn man von wenigen im Osten geborenen Schauspielstars (Nina Hagen, Mirco Nontschew, Jeanette Biedermann etc.) einmal absah.

„Sechs auf einen Streich“ und „Märchenperlen“

Ab Mitte der 2000er-Jahre erlebte der Märchenfilm im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von ARD und ZDF ein Comeback. Die meist an den Weihnachtsfeiertagen erstmalig gezeigten Adaptionen der Reihen „Märchenperlen“ (ZDF, seit 2005, auch Koproduktionen) und „Sechs auf einen Streich“ (ARD, seit 2008) richteten sich dabei sowohl an ein Kinder- als auch Familienpublikum.

Dafür gründete die Kinder- und Jugendredaktion des ZDF Anfang der 00er-Jahre eine Art ‚Think Tank’, dem auch der Münchner Filmproduzent Ernst Geyer angehörte. Die Denkfabrik sollte eine Konzeption für zunächst sechs Märchenfilme entwickeln. Darin wurden auch fünf Drehbuchautoren und eine Drehbuchautorin aus den alten Bundesländern berufen. Mitfinanziert wurden die ersten vier Märchenfilme (2005–2008) neben der Länderförderung Bayern und Hamburg von der in Leipzig ansässigen Mitteldeutschen Medienförderung (vgl. Ungureit 2009, S. 10f.).

Ostdeutsche im ARD- und ZDF-Märchenfilm

Um tendenzielle Aussagen darüber zu treffen, ob und wie viele DDR-sozialisierte Filmemacherinnen und -macher das bundesdeutsche Märchengenre mitpräg(t)en, soll der Blick stichprobenartig auf die Bereiche Regie und Drehbuch gelenkt werden.

Bis 2021 drehte das ZDF 19 Märchenfilme*, an denen insgesamt 13 Regisseure (10) und Regisseurinnen (3) beteiligt waren. Davon sind zwei (15 Prozent)** im Osten geboren: Karola Hattop, die seit 1973 Kinder- und Familienfilme für das DDR-Fernsehen und später für das ZDF zwei Märchenfilme („Die sechs Schwäne“, 2012 und „Die Schneekönigin“, 2014) inszenierte, sowie Carsten Fiebeler („Die goldene Gans“, 2013), der erst nach der Wende als Regisseur arbeitete. Koproduziert wurden diese drei ZDF-Märchenfilme von der im Jahr 2000 im thüringischen Erfurt gegründeten Kinderfilm GmbH (später: Mideu Films GmbH).

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans


Anders als beim ZDF verteilt sich die Produktion der ARD-Märchenfilme auf die neun Landesrundfunkanstalten. Die in der DDR geborene ehemalige RBB-Mitarbeiterin Sabine Preuschhof koordinierte die Reihe „Sechs auf einen Streich“ in den ersten Jahren. Werden die 52 ARD-Adaptionen bis 2021 im Hinblick auf Ost-West-Besetzung ausgewertet, zeigt sich folgendes Bild: Von insgesamt 26 Regisseuren (20) und Regisseurinnen (6) haben fünf (19 Prozent) eine Ost-Sozialisation**.

Fürneisen und Fiebeler gehören zu Top-Regisseuren

Darunter ist Bodo Fürneisen, der bei fünf ARD-Märchenfilmen auf dem Regiestuhl sitzt – er wird nur übertroffen vom westdeutschen Regisseur Christian Theede mit sechs NDR-Adaptionen. Fürneisen hatte bereits für das DDR-Fernsehen die Klassiker „Die Geschichte vom goldenen Taler“ (DDR 1985) sowie „Die Weihnachtsgans Auguste“ (DDR 1988) inszeniert. Fiebeler kommt insgesamt auf vier ARD-Adaptionen und zeigt, dass man in ZDF und ARD erfolgreich Märchen verfilmen kann.

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR


Dabei verantwortet die fünf Fürneisen-Märchenfilme und eine Fiebeler-Adaption die in Potsdam ansässige Landesanstalt RBB. Fiebelers drei andere ARD-Verfilmungen entstehen zwar unter Federführung der westdeutschen Anstalten Hessischer Rundfunk (HR) bzw. Südwestrundfunk (SWR), werden aber zum Teil von der Kinderfilm GmbH produziert: „Das blaue Licht“ (D 2010).

Nur wenige ‚ostdeutsche’ Märchenfilm-Drehbücher

Bei zwei weiteren mit Osthintergrund (Regie) gedrehten Filmen ist neben Radio Bremen (RB), dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem HR auch der MDR als Koproduzent vertreten. Einen weiteren Märchenfilm verantwortet die in Leipzig ansässige Landesanstalt ganz allein, wobei zudem die Kinderfilm GmbH das Märchen im Auftrag des MDR produziert.

Im Hinblick auf eine Ost-West-Sozialisation von Drehbuchautorinnen und -autoren im ZDF- und ARD-Märchenfilm zeigt sich ein ähnliches Bild: Von insgesamt 17, die an den „Märchenperlen“ beteiligt sind, hat nur ein Drehbuchschreiber (6 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Dieser ist aber an drei ZDF-Märchenfilmen beteiligt. Bei den ARD-Produktionen haben von insgesamt 28 Autorinnen und Autoren vier (14 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Zwei davon arbeiten allerdings gleich an drei Märchenfilmen mit.

Von „Das kalte Herz“ zu „Timm Thaler“

Einzelne Kinofilme in den 2010er-Jahren wie die Filmmärchen „Aschenbrödel und der gestiefelte Kater“ (D 2013) und „Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte“ (D 2013, koproduziert vom BR), aber auch das nach einer klassischen Vorlage entstandene „Das kalte Herz“ (D 2016, koproduziert u. a. von ARD/MDR/SWR und mitfinanziert u. a. von Mitteldeutsche Medienförderung und Medienboard Berlin-Brandenburg) entstehen wieder weitgehend mit westdeutsch sozialisierten Filmschaffenden, wobei letztere Märchenverfilmung mit André M. Hennicke und Jule Böwe zwei ostdeutsch sozialisierte Schauspielstars engagiert.

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH


Eine Ausnahme stellt die fantastische Romanverfilmung „Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen“ (D 2017) dar, die u. a. von den im thüringischen Gera geborenen Andreas Dresen (Regie) und Jörg Hauschild (Schnitt) sowie von der aus Potsdam stammenden Sabine Greunig (Kostüme) inszeniert wurde. Ostdeutsche wie Charly Hübner, Nadja Uhl, Reiner Heise oder Steffi Kühnert, aber auch die westdeutschen Schauspieler Justus von Dohnányi, Axel Prahl oder Bjarne Mädel machten den u. a. vom ZDF koproduzierten Kinofilm zu einem gesamtdeutschen Projekt.

Ostanteil proportional zur Gesamtbevölkerung

Demnach sind seit 1990 in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden, die entweder vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ARD, ZDF) oder von freien Produktionsfirmen hergestellt wurden. Doch untermauern die Statistiken und Filmbeispiele die These, dass es im bundesdeutschen Märchenfilm heute noch eine „Repräsentationslücke“ von DDR- oder ostdeutsch-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern gibt?

Vor dem Hintergrund, dass etwa 17 Prozent aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger ostdeutscher Herkunft sind (vgl. Kollmorgen 2021, S. 235) und diese Zahl als Vergleichsgröße gilt, wirkt der Regieanteil im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von 19 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“) und 15 Prozent (ZDF: „Märchenperlen“) sowie der Drehbuchanteil von 14 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“)** relativ proportional. Nur der ‚ostdeutsche’ Drehbuchanteil am ZDF-Märchenfilm von 6 Prozent ist unterproportional.**

Die Zahlen zeigen zudem wenig überraschend, wenn die beiden ‚Ost-Landesanstalten’ RBB und MDR an Märchenfilmen der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ beteiligt sind, werden für die Posten Drehbuch und Regie ebenso ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler interessant. Zudem wirkt sich die Beteiligung ostdeutscher Produktionsfirmen, beispielsweise der „Kinderfilm-GmbH“, auf den Anteil im Osten sozialisierter Akteure und Akteurinnen aus.

ARD-Landesanstalten mit ‚Lokalpatriotismus’

Dennoch lässt das nicht pauschal den Schluss zu, die in Thüringen bzw. Sachsen-Anhalt ansässige Firma arbeite vorrangig mit ostdeutschem Personal, im Unterschied zu im Westen ansässigen Produktionsfirmen.

Dafür spricht, dass „Kinderfilm“ auch ZDF-Märchenfilme verantwortete, die eine westdeutsche Regisseurin (Anne Wild: „Hänsel und Gretel“, 2006) oder einen westdeutschen Regisseur (Frank Stoye: „Der Zauberlehrling“, 2017; „Der süße Brei“, 2018) rekrutierten. Das gilt auch für die von „Kinderfilm“ produzierten ARD-Märchenfilme „König Drosselbart“ (D 2008), „Die Gänsemagd“ (D 2009) und „Rotkäppchen“ (D 2012) – alle in der Regie der Münchnerin Sibylle Tafel.

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland


Trotzdem scheint es, dass „Kinderfilm“ – im Gegensatz zu im Westteil Deutschlands ansässigen Produktionsfirmen – ein Stück weit sensibilisierter mit der Rekrutierung von Filmschaffenden umgeht. Andererseits kann dem Unternehmen, wie auch einigen ost- und westdeutschen ARD-Landesrundfunkanstalten allgemein vorgehalten werden, dass sie einen ‚Lokalpatriotismus’ bedienen, das heißt: vor allem Filmschaffende engagieren, die auf dem Gebiet der jeweiligen Rundfunkanstalt oder eines Bundeslandes leben und für den Sender bereits arbeiten.

Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Wenn RBB und MDR keine oder weniger im Osten sozialisierte Künstlerinnen und Künstler rekrutieren würden, lägen die Anteile bei Regie und Drehbuch deutlich unter dem erwähnten quantitativen Minderheitenstatus der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung (17 Prozent). Denn die anderen sieben im Westen ansässigen Landesanstalten NDR, RB, WDR, HR, SWR, BR und Saarländischer Rundfunk (SR) würden das mit dem von ihnen engagierten Ostpersonal nicht auffangen.

Die ostdeutsche Übernahme

Doch wie wirkt sich der Ost-Regieanteil von 19 bzw. 15 Prozent sowie -Drehbuchanteil von 14 bzw. 6 Prozent auf die öffentlich-rechtliche Märchenfilmproduktion** aus? Folgen daraus unmittelbare Defizite?

Glaubt man Josef Göhlen, ehemaliger Leiter des Kinderprogramms beim HR und ZDF, so ist es genau umgekehrt: Der heutige bundesdeutsche Märchenfilm ist eigentlich ein DEFA-Märchenfilm 2.0. Denn für Göhlen orientieren sich die ARD- und ZDF-Märchen „an einer tradierten Märchendramaturgie, wie sie seinerzeit insbesondere von der ostdeutschen Produktionsfirma DEFA gepflegt wurde“ (Gangloff 2016, S. 8f.). Damit meint er, dass darin die Armen und Unterdrückten immer zu den im ethischen Sinn Guten, die Reichen dagegen durchgehend zu den Bösen zählten. Er halte es für einen großen Fehler, diese Dramaturgie nachzuahmen.

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR


Die Schweizer Filmkritikerin Christine Lötscher meint, dass sich die ARD- und ZDF-Adaptionen zudem gestalterisch „an der historisierenden Ästhetik der DEFA-Märchenfilme“ (Lötscher 2017, S. 310) orientieren. Und: Wie den DDR-Produktionen liege dem öffentlich-rechtlichen Märchenfilm „eine Analyse und Interpretation der Textvorlage zugrunde; die zeitlosen Konflikte der Figuren werden konkretisiert, psychologisiert und in die Gegenwart übertragen“ (ebd. S. 311). Allerdings gelinge es eher selten, den ganz eigenen Zauber der DEFA-Filme zu reproduzieren.

Daraus wäre auf die hier diskutierte Frage zu schließen, dass sich seit 1990 keine westdeutsche „Übernahme“ in der gesamtdeutschen Märchenfilmproduktion, sondern umgekehrt eine ostdeutsche „Übernahme“ vollzogen hat – wenn auch ‚nur’ in dramaturgischer und gestalterischer Hinsicht.

Diversität: Frauenanteil und Migrationshintergrund

Gleichwohl bleibt damit die Frage nach einer angemessenen personellen ostdeutschen Teilhabe in der bundesdeutschen Märchenfilmproduktion bestehen. Flankiert wird sie allerdings im 21. Jahrhundert mit der Forderung nach einer generellen Diversität in diesem Filmgenre: Die stichprobenartigen Statistiken zeigten beispielsweise, dass der Frauenanteil – nicht nur im Regie- und Drehbuchfach – sehr gering ist.

Zudem sind Filmschaffende mit Migrationshintergrund noch Ausnahmen. Der deutsch-türkische Regisseur Cüneyt Kaya („Das Märchen vom goldenen Taler“, 2020), der in Istanbul geborene Regisseur und Drehbuchautor Su Turhan („Die drei Federn“, 2014; „Prinzessin Maleen“, 2015; „Der starke Hans“, 2020) oder der in Vietnam geborene Kameramann und Regisseur Ngo The Chau (u. a. „Die Hexenprinzessin“, D/CZ, 2020) sind drei Beispiele. Ebenso lassen sich hier der Finne Hannu Salonen („Des Kaisers neue Kleider“, 2010) oder die in Stockholm geborene deutsche Regisseurin Maria von Heland („Die Sterntaler“, 2011; „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, 2013) nennen.

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein


_____________________
MEHR ZUM THEMA
DDR reloaded: Der identitätsstiftende DEFA-Märchenfilm

Die Frage nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ im deutschen Märchenfilmgenre sollte deshalb um andere Gruppen (Frauen, Migrationshintergrund) in den nächsten Jahren erweitert werden. Um das personelle Defizit ausgeglichener zu gestalten, braucht es nicht unbedingt starre Quotenregelungen. Dafür sensibilisierte Filmschaffende in den Chefinnen- und Chefetagen wären schon einmal ein Anfang.

* Ohne den Märchenfilm „Zwerg Nase“ (D, 2008, R: Felicitas Darschin). Dieser entstand im Auftrag des BR, wird aber zu den ZDF-„Märchenperlen“ gezählt, obwohl der Sender nicht daran beteiligt war.

** Die Herkunft der Filmschaffenden wurde in öffentlichen Quellen (Internet, Fachmedien) recherchiert und/oder individuell bei den Künstlerinnen und Künstlern angefragt (E-Mail). Da nicht zu allen Filmschaffenden die Herkunft recherchiert werden konnte, können die Zahlen prozentual leicht abweichen (Stand: 24.3.2022).

Verwendete Quellen:


Headerfoto: Die kluge Bauerntochter (BRD 2010): Die Titelfigur (Anna Maria Mühe, l.) und ihre Freundin die Magd (Sabine Krause) bestaunen das Fernrohr des Königs / Foto: MDR/Sandy Rau

Sechse kommen durch die ganze Welt (D 2014) / © rbb/Daniela Incoronato

Märchenhafte Drehorte: Wo Sechse durch die ganze Welt kommen

Theater, Kino und Fernsehen geben dem Grimmmärchen einen Popularitätsschub, von dem es bis heute profitiert – egal ob es auf der Bühne oder an (Außen-)Drehorten entstanden ist.

Die Geschichte war ursprünglich in Soldatenkasernen zu Hause und handelt – wen wundert’s – von geringem Kriegssold, schöner Prinzessin, lustigem Trinkgelage und ganz viel Gold. Doch der Reihe nach: Ein Ex-Soldat will sich am geizigen König rächen, weil der ihn schlecht entlohnte.

Mit fünf Verbündeten – einem Bäumeausreißer, Scharfschützen, Nasenlochbläser, Läufer mit abgeschnalltem Bein sowie Mann mit Frosthütchen – wandert er erst durch die „ganze Welt“, geht dann zum Herrscher, lässt den Sprinter mit der Königstochter um die Wette laufen (wobei der Schütze eine Schummelei der Prinzessin vereitelt) und bekommt sie zur Frau.

Sechse kommen durch die ganze Welt (1907): Otto Ubbelohde zeichnete das Märchen / Quelle: Grimm-Bilder Wiki

Sechse kommen durch die ganze Welt (1907): Otto Ubbelohde zeichnete das Märchen / Quelle: Grimm-Bilder Wiki

Doch die Tochter wehrt sich gegen den dahergelaufenen Heiratskandidaten und schmiedet mit ihrem Vater einen Mordplan, bei dem die Sechse während eines großen Gelage umkommen sollen. Dank des Frosthütchen-Mannes misslingt aber das Vorhaben.

Am Ende kauft der König seine Tochter frei, wobei der Soldat ausmacht: gegen „so viel, als mein Diener tragen kann“ (Brüder Grimm 1980, S. 374). Da schleppt der Starke alle Schätze des Herrschers hinweg. Der Versuch des Königs, den Sechsen ihren Reichtum wieder abzujagen, vereitelt letztlich der Bläser.

Zeitraffer und Windmaschine

Die Geschichte steht seit 1819 in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm, ist aber anfangs selten verfilmt. Vielleicht lag’s an den Sechsen selbst, deren übernatürliche Künste den Trickspezialistinnen und -spezialisten mitunter Kopfzerbrechen bereitet haben mögen. (Obgleich der Wettlauf schon in den Anfangsjahren der Kinematografie mit dem Zeitraffer umsetzbar war und der Bläser von der Windmaschine unterstützt worden wäre.)

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Märchen von Theater, Kino und Fernsehen entdeckt. Was kaum verwundert, bietet es doch mit Wald, (Windmühlen-)Landschaft sowie Schloss ein paar klassische Handlungsorte, die auf Szenenbild und Ausstattung einzahlen. Das fand zuletzt auch die ARD, die das Märchen – wenn auch spät – im Rahmen ihrer Reihe „Auf einen Streich“ verfilmte.

Marmorpalais/Potsdam: „Sechse kommen durch die ganze Welt“ (D 2014)

Der Held ist hier kein Soldat, sondern ein talentierter, aber armer Musikus namens Jasper (Rafael Gareisen). Der hat sich in die Prinzessin Ella (Laura Maria Heid) verliebt. Und sie in ihn. Wenn da nicht ihr Vater König Wilbur (Ex-„Tatort“-Hauptkommissar: Sebastian Bezzel) wäre. Der residiert im berühmten Marmorpalais im Neuen Garten in Potsdam, das das Architektenduo von Gontard (Gebäude) und Langhans (Innenausstattung) Ende der 1780er-Jahre entwarf.

Die Innenaufnahmen entstanden im Berliner Schloss Friedrichsfelde, das Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts sein frühklassizistisches Aussehen erhielt. Szenenbildner Oliver Munck versieht die Räume mit menschlichen Schachfiguren, einer Mini-Golfanlage und großen Spielwürfeln, denn der Herrscher ist zerstreuungssüchtig. Zudem sehen Diener und Soldaten wie Spielkarten aus (Kostümbild: Petra Neumeister). Alles wirkt ein wenig wie im Reich der ebenso despotischen Herzkönigin aus Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“.

Sechse kommen durch die ganze Welt (2014): König (Sebastian Bezzel) und Tochter (Laura Maria Heid) vorm Marmorpalais / © rbb/Daniela Incoronato

Sechse kommen durch die ganze Welt (2014): König (Sebastian Bezzel) und Tochter (Laura Maria Heid) vorm Marmorpalais / © rbb/Daniela Incoronato

Sechse kommen durch die ganze Welt (2014): Innenaufnahmen entstanden in Friedrichsfelde / © marctwo/pixelio.de

Sechse kommen durch die ganze Welt (2014): Innenaufnahmen entstanden in Friedrichsfelde / © marctwo/pixelio.de


_____________________
MEHR ZUM THEMA
Sechse kommen durch die ganze Welt (D 2014) – oder: Die glorreichen Sieben

Als Jasper beim König um Ellas Hand anhält, landet er im Verlies – Drehort war die Zitadelle Spandau, eine mittelalterliche Festung im Berliner Bezirk Spandau. Dort trifft er Lukas „den Starken“ (Anton Rubtsov) und die „Hexe“ Flora (Alissa Wilms) – und flieht mit den beiden. Auf ihrer Wanderung schließen sich Markus „der Läufer“ (Maximilian Gehrlinger), Benjamin „der Schütze“ (Emil Reinke) und Lisa „die Eisige“ (Nicole Mercedes Müller) an. Drehbuchschreiber David Ungureit setzt damit auf ein modernes, geschlechtlich austariertes Ensemble.

Und: Alle Sechs ecken mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten im Land König Wilburs an und werden ausgegrenzt. Damit wirkt die Geschichte in sich geschlossener im Vergleich zur Grimm’schen Vorlage. Während der Dreharbeiten, die zwischen dem 3. Juni und 25. Juni 2014 stattfanden, filmte man auch im Potsdamer Schlosspark Marquardt mit seinen verschlungenen Wegen und hügeligen Grasflächen nebst Schlänitzsee.

Drehorte: u. a.

  • Marmorpalais, Im Neuen Garten 10, 14469 Potsdam (Außenaufnahmen)
  • Schloss Friedrichsfelde, Am Tierpark 125, 10319 Berlin (Innenaufnahmen)
  • Schloss und Park Marquardt, Hauptstraße 14, 14476 Potsdam OT Marquardt
  • Zitadelle Spandau, Am Juliusturm 64, 13599 Berlin

Film: „Sechse kommen durch die ganze Welt“ (BRD, 2014, R: Uwe Janson). Auf DVD erschienen.

Theater der Freundschaft/Berlin: „Sechse kommen durch die ganze Welt“ (DDR 1972)

Es war eine Programmtradition in der DDR, dass das eine oder andere Bühnenmärchen später als Aufzeichnung im Fernsehen lief. So auch bei „Sechse kommen durch die ganze Welt“, das am 5. Oktober 1972 seine Premiere im Ostberliner Theater der Freundschaft feierte (im Rahmen der alljährlich im Herbst stattfindenden „Berliner Festtage“) und 1974 im DDR-Fernsehen gezeigt wurde. Das Drehbuch schrieb Christian Noack, ein Mathematiker an der Ostberliner Humboldt-Universität, der damit sein Debüt als Bühnenautor gab (vgl. Buder 1972, S. 4).

(Noack gründete 1972 an der Uni auch das legendäre Laien-Puppentheater [vgl. To 1975, S. 5], schrieb Stücke wie z. B. „Der kleine Prinz“, ein Spiel mit Puppen und Menschen nach Saint-Exupéry, stieg zum renommierten Autor auf und wurde eines der prägenden Gesichter des Amateur-Puppenspiels in der DDR.)

Wie später in der ARD-Verfilmung hat auch bei Noack jeder der Sechse (schlechte) Erfahrungen mit dem gern Krieg führenden König (Dieter Schaarschmidt) gemacht: Der Läufer (Lutz Dechant), einst im Kampf verwundet, wurde vom Herrscher aus der Armee geworfen. Der Frostige (Gert Hänsch) musste als Zauberer am Hofe dienen. Und der Bläser (Heinz Schröder) wurde verstoßen, weil seine Frau (Monica Bielenstein) Afrikanerin ist (vgl. Wendlandt 1972, S. 4).

Sechse kommen durch die ganze Welt (1972): Minimalistisches Bühnenbild / © Deutsche Fotothek/Abraham Pisarek

Sechse kommen durch die ganze Welt (1972): Minimalistisches Bühnenbild / © Deutsche Fotothek/Abraham Pisarek

Sechse kommen durch die ganze Welt (1972): Abstrakt wirkendes Schloss / © Deutsche Fotothek/Abraham Pisarek

Sechse kommen durch die ganze Welt (1972): Abstrakt wirkendes Schloss / © Deutsche Fotothek/Abraham Pisarek

Offenbar eine Anspielung auf die Schwarze US-Bürgerrechtlerin Angela Davis, die in ihrer Heimat von 1970 bis 1972 unschuldig im Gefängnis saß und in der DDR zur Ikone des Widerstands wurde – obwohl gleichzeitig von der SED-Führung vereinnahmt (vgl. Lorenz 2020). Zudem kommen die Sechs von verschiedenen Kontinenten bzw. gehören unterschiedlichen indigenen Völkern an: der Soldat (Helmut Geffke) als Europäer (!), der Läufer als Indianer und der Horcher (Rainer Büttner) als Chinese.

Die Kritik lobte denn auch die „zeitnahe Abwandlung der poetischen Vorlage“ sowie den „Charakter des Internationalen“, aber ebenso „eine Fülle einprägsamer Bühnenarrangements“ (Wendlandt 1972, S. 4; Buder 1972, S. 4), wie den modernen Triumphwagen, auf dem der König mit lorbeerbekränztem Stahlhelm steht. Oder eine sich drehende Erdkugel, die die „ganze Welt“ spiegele (Bühnenbild: Otto Kähler).

Aufnahmeort: Theater der Freundschaft (heute: Theater an der Parkaue), Parkaue 29, 10367 Berlin

Aufführung: „Sechse kommen durch die ganze Welt“ (DDR, 5.10.1972, R: Mirjana Erceg). Noch nicht auf DVD/Blu-ray erschienen.

Schloss Moritzburg/Sachsen: „Sechse kommen durch die Welt“ (DDR 1972)

Kurz vor der Uraufführung des Theaterstücks lief der DEFA-Märchenfilm in den DDR-Kinos an (Start: 18.8.1972). Regie führte der ‚junge Wilde’ Rainer Simon, damals 31 Jahre und bereits mit „Wie heiratet man einen König“ (1969) Genre-erprobt. Er inszenierte die Geschichte als „Parabel auf die Gegenwart“ (Schenk 2007, S. 84) und versah sie mit subversiven ideologiekritischen Zügen, die auf die Situation in der DDR anspielten und nachdenklich stimmten.

Die offizielle Kritik machte dagegen punktuell eine „schwermütige, unzufriedenmachende Tendenz“ aus, die den Märchenfilm durchziehe, mit Figuren, die „mißmutig und traurig“ seien (Novotny 1972, S. 6) – wie den Jäger (Jürgen Gosch), den Fiedler (Christian Grashof) oder den Soldaten (gespielt vom Tschechen Jiří Menzel, der in der Heimat wegen seines Engagements während des Prager Frühlings kurzzeitig mit einem Berufsverbot belegt worden war),

Sechse kommen durch die Welt (1972): Schloss Moritzburg (Aufnahme von 2008) / © marge simpson/pixelio.de

Sechse kommen durch die Welt (1972): Schloss Moritzburg (Aufnahme von 2008) / © marge simpson/pixelio.de

Sechse kommen durch die Welt (1972): Der Leuchtturm (Aufnahme von 2024) ist im Wettrennen zu sehen / © Uwe Wattenberg/pixelio.de

Sechse kommen durch die Welt (1972): Der Leuchtturm (Aufnahme von 2024) ist im Wettrennen zu sehen / © Uwe Wattenberg/pixelio.de

Dennoch: „Die Wahl der Außendrehorte und die Art und Weise ihrer Inszenierung“, so die Kulturwissenschaftlerin Corinna Rader, „provoziert beim Publikum ein Erkennen“ (Rader 2021, S. 190) – das auf den (beabsichtigten) Gegenwartsbezug einzahlt und sich gegen eine allzu märchenhafte Entrücktheit stellt. Dazu gehört z. B. das Elbsandsteingebirge in der damaligen Grenzregion zwischen DDR und ČSSR, in der der Fiedler zum Soldaten stößt.

Sechse kommen durch die Welt (1972): Die Verfilmung ließ das Wort "ganze" weg und schränkte so die (DDR-)Märchenwelt ein / © MDR/Progress

Sechse kommen durch die Welt (1972): Die Verfilmung ließ das Wort „ganze“ weg und schränkte so die (DDR-)Märchenwelt ein / © MDR/Progress

_____________________
MEHR ZUM THEMA
Märchenhafte Drehorte: Wo die kluge Bauerntochter den König heiratet
Märchenhafte Drehorte: Wo der Schweinehirt die Prinzessin küsst
Märchenhafte Drehorte: Wo Brüderchen und Schwesterchen ein Obdach finden

Oder die 1803 erbaute Borner Bockwindmühle, im heutigen Landkreis Potsdam-Mittelmark, auf deren Stufen der Oberhofmeister (Berthold Schulze) das Wettrennen mit Prinzessin Bella Mirabella (Margit Bendokat) verkündet. (Die Mühle wurde am 13. November 1972 – wenige Monate nach den Dreharbeiten – durch den Orkan „Quimburga“ beschädigt, der über ganz Europa hinwegfegte.) Weitere Drehorte waren das „Aschenbrödel“-Schloss Moritzburg und das Fasanenschlösschen, unweit von Dresden, sowie der Rehgarten im Schloss Sanssouci bei Potsdam.

Drehorte: u. a.

  • Bockwindmühle Borne, Gruboer Straße, 14806 Bad Belzig OT Borne
  • Elbsandsteingebirge
  • Elsholz, 14547 Beelitz OT Elsholz
  • Falkenrehde, 14669 Ketzin/Havel OT Falkenrehde
  • Fasanenschlösschen, Fasanerie, 01468 Moritzburg
  • Langerwisch, 14552 Michendorf OT Langerwisch
  • Leuchtturm Moritzburg, Fasanerie 3, 01468 Moritzburg
  • Saarmund, 14558 Nuthetal OT Saarmund
  • Schloss Moritzburg, Schlossallee 1, 01468 Moritzburg
  • Sputendorf, 14532 Stahnsdorf OT Sputendorf
  • Park Sanssouci, Hauptallee, 14469 Potsdam
  • VEB DEFA Studio für Spielfilme, 1502 Potsdam-Babelsberg, August-Bebel-Straße 26–53

Film: „Sechse kommen durch die Welt“ (DDR, 1972, R: Rainer Simon). Auf DVD und Blu-ray erschienen.

Weitere Verfilmungen:

  • „Sechse kommen durch die ganze Welt“ (Zeichentrickfilm, DDR, 1958, R: Lothar Barke)
  • „Sechse kommen durch die ganze Welt“ (Puppentrickfilm, BRD, 1983, R: Peter Podehl, aus der Reihe: „Hallo Spencer“, NDR)

Verwendete Quellen:

  • Brüder Grimm: Sechse kommen durch die ganze Welt. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam, 1980, Bd. 1, S. 369–375.
  • Buder, Horst: Sechs ist eine gute Zahl. Märchenpremiere im Theater der Freundschaft. In: Neue Zeit 28 (1972), Nr. 240, 10.10.1972, S. 4.
  • Lorenz, Sophie: »Schwarze Schwester Angela« – Die DDR und Angela Davis. Kalter Krieg, Rassismus und Black Power 1965–1975. Bielefeld: transcript, 2020
  • Novotny, Ehrentraut: Der siegreichste König aller Zeiten wird besiegt. Neuer DEFA-Märchenfilm: „Sechse kommen durch die Welt“. In: Berliner Zeitung 28 (1972), Nr. 234, 24.8.1972, S. 6.
  • Rader, Corinna Alexandra: Sechse kommen durch die Welt (1972). Dies.: Von wahren Kunstwelten. Szenographie im DEFA-Märchenfilm. Weimar: VDG, 2021, S. 190–197.
  • Schenk, Ralf: Sechse kommen durch die Welt. In: Friedrich, Andreas (Hrsg.): Filmgenres. Fantasy- und Märchenfilm. Stuttgart: Reclam, 2007, S. 84–88.
  • Scholz, Joachim: Märchenspiel mit tieferer Bedeutung. Zur Premiere von „Sechse kommen durch die ganze Welt“. In: Berliner Zeitung 28 (1972), Nr. 282, 11.10.1972, S. 6.
  • To: Das Spiel mit den Puppen. Berufs- und Laienkünstler im Gedankenaustausch. In: Neue Zeit 31 (1975), Nr. 58, 10.3.1975, S. 5.
  • Wendlandt, K. J.: Des Bläsers Frau ist eine Afrikanerin. „Sechse kommen durch die ganze Welt“ von Christian Noack im Theater der Freundschaft. In: Neues Deutschland 27 (1972), Nr. 280, 9.10.1972, S. 4.
  • [o. A.]: Erfolgreicher Märchenfilm. In: Berliner Zeitung 28 (1972), Nr. 261, 20.9.1972, S. 6.


Headerfoto: Markus „der Läufer“ (Maximilian Gehrlinger, v.l.n.r.), Lukas „der Starke“ (Anton Rubstov), „Hexe“ Flora (Alissa Wilms), Musikus Jasper (Rafael Gareisen), Benjamin „der Schütze“ (Emil Reinke), Lisa „die Eisige“ (Nicole Mercedes Müller) / © rbb/Daniela Incoronato