Hervorgehobener Beitrag
Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Die ostdeutsche Übernahme – oder: Der Märchenfilm in der BRD von 1990 bis heute

Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Was ist heute vom DEFA-Märchenfilm der untergegangenen DDR übrig geblieben?

Als der Historiker llko-Sascha Kowalczuk mit „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ (2019) ostdeutsche Befindlichkeiten unter die Lupe nahm, provozierte er – dreißig Jahre nach dem Mauerfall – eine kontroverse Debatte. Lobte der 1976 von der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann in der „Berliner Morgenpost“ Kowalczuks Essay als „glänzendes Buch“ und „wahrhaftige Analyse“, so urteilte im „Deutschlandfunk Kultur“ die DDR-Ex-Leistungssportlerin Ines Geipel deutlich kritischer.

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de

Stille Post: Auch das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR wurde 1990 abgewickelt / © LoB/pixelio.de


Kowalczuk bediene mit seiner „Strategie des halben Blicks“ nur den „aktuellen Hype: da der Schuld-Westen, dort der Opfer-Osten“, so Geipel, die auch Mitbegründerin des „Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR“ ist. Gleichwohl hält die Zeit des Bilanzziehens unvermindert an. Sie mündet dabei vor allem in einer Frage: Wie wirkt sich eine sogenannte „Übernahme“, oder anders gesagt: der Beitritt der DDR (nach Artikel 23 des alten Grundgesetzes), auf das heutige Deutschland aus?

„Kulturelle Hegemonie“ und fehlende „Ost-Eliten“

Dabei rückte Kowalczuk den Blick auch auf eine westdeutsche ‚Vorherrschaft’ im Kulturbetrieb des seit 30 Jahren vereinten Deutschlands. Diese Erkenntnis war zwar schon damals nicht neu, gewann aber mehr und mehr an Relevanz im öffentlichen Diskurs. Jene ‚West-Dominanz’ nannte Kowalczuk „kulturelle Hegemonie“, geprägt von fehlenden „Ost-Eliten“ und einer damit verbundenen „Abwertung“ ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler.

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de

Die da oben, wir hier unten? Im DDR-Kinderwagen gab es vielfältige Sitzmöglichkeiten / © Daniel Franke/pixelio.de


Dabei meint der wissenschaftlich eher umstrittene Begriff „Eliten“ (vgl. Waldmann 1998, S. 113–116) Personen, die in Institutionen oder Organisationen aufgrund ihrer (Leitungs-)Funktion und der daraus resultierenden Macht einen gesellschaftspolitischen Einfluss besitzen. „Ost-Eliten“ sind hierbei jene, die in der DDR geboren oder nach dem 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern oder Ostberlin geboren und/oder aufgewachsen sind und deren Eltern aus der DDR stammen.

Eine ‚West-Vorherrschaft’ im Märchenfilm nach 1990?

Zwar gibt es einige wenige Statistiken, die den Anteil der Ostdeutschen an den gesamtdeutschen Eliten bemessen (vgl. Kollmorgen 2021), doch gilt landläufig die Meinung, dass sich ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler „im vereinten Vaterland noch am besten behauptet“ haben (Eckert 2021, S. 283).

Dennoch finden sich selten valide Erhebungen, die sich tiefergehend dem Kulturbetrieb, zum Beispiel der Filmbranche widmen. Schon gar nicht dem bundesdeutschen Märchenfilm, der aber vor dem Hintergrund der 40-jährigen DDR-Märchenfilmgeschichte und des anhaltenden gesamtdeutschen Märchenfilmbooms seit Mitte der 2000er-Jahre einen näheren Blick lohnt und Fragen aufwirft.

Gibt es heute (oder immer noch) eine sogenannte „Repräsentationslücke“ (Kollmorgen 2021, S. 231) von DDR-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern, oder umgekehrt gefragt eine ‚West-Vorherrschaft’, im bundesdeutschen Märchenfilm nach 1990? Und wenn ja, wie groß ist diese, was sind hierfür die Gründe und folgen daraus unmittelbare Defizite?

Die Abwicklung von DFF und DEFA

Als die DEFA, das ehemalige staatliche Filmstudio der DDR, 1992 von der Treuhandanstalt an einen französischen Mischkonzern verkauft wird, blickt es in seiner über 45-jährigen Geschichte auf etwa 40 Schauspieler-Märchenkinofilme zurück. Zudem produziert die DEFA für den staatlichen Deutschen Fernsehfunk (DFF, 1956–1971, 1990–1991) bzw. das Fernsehen der DDR (1972–1990) etwa 20 Märchenfernsehfilme bzw. -spiele.

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG

Filmstudio Potsdam-Babelsberg: Hier befand sich das VEB DEFA-Studio für Spielfilme / © Studio Babelsberg AG


Ihr künstlerisches Niveau, lobenswerte Leistungen der Schauspielstars und dramaturgisch gut durchdachte Geschichten machten viele der Märchenadaptionen – trotz einer mal mehr, mal weniger durchschimmernden Ideologie – damals wie heute zu Filmklassikern, die sogar in den Westen exportiert und dort in TV und Kino gezeigt wurden. Dennoch fielen mit der Abwicklung von DEFA und DFF schlagartig zwei Institutionen weg, die diese Märchenfilme produzierten. Das daran beteiligte künstlerische Personal verlor von heute auf morgen seine gesicherte Existenz.

Neuanfang in unbekanntem Produktionsmarkt

„Das Telefon stand plötzlich still“, erinnerte sich später der Filmkomponist Peter M. Gotthardt in einem Interview an die Nachwendezeit – und meinte damit die ausbleibenden Aufträge. Gotthardt, der mit der Filmmusik zu „Die Legende von Paul und Paula“ (DDR, 1973, R: Heiner Carow), aber auch zum DEFA-Märchenfilm „Schneeweißchen und Rosenrot“ (DDR, 1979, R: Siegfried Hartmann) zu den wichtigsten DDR-Filmkomponisten zählte, schaffte den Neuanfang in einem gänzlich unbekannten Produktionsmarkt mit hohem Konkurrenzdruck. Vielen anderen Kolleginnen und Kollegen gelang das allerdings nicht.

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR

Schneeweißchen und Rosenrot (DDR 1979): Er zählt zu den zehn erfolgreichsten DEFA-Märchenfilmen / © MDR


Das hatte auch damit zu tun, dass sich – auf das Märchenfilmgenre bezogen – die Nachfolger des DFF, die 1992 neu gegründeten ARD-Landesrundfunkanstalten Mitteldeutscher Rundfunk (MDR) und Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB, seit 2003: Rundfunk Berlin-Brandenburg, kurz: RBB) erst einmal neu aufstellen mussten (vgl. Wiedemann 2017, S. 215). Die Produktion neuer Märchenfilme stand nicht auf der Tagesordnung. Das künstlerische DEFA-Märchenfilmerbe schien vorerst niemanden zu interessieren.

Einige ‚Überläufer’ in Fernsehen und Kino

Mit wenigen Ausnahmen: MDR und ORB übernahmen 1992 gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem Sender Freies Berlin (SFB) die Endproduktion von „Sherlock Holmes und die sieben Zwerge“ (TV-Erstausstrahlung: 10.5.1992). Gedreht wurde die 8-teilige Fantasy-Serie nach Motiven der Brüder Grimm noch von der bereits abgewickelten DEFA-Studio Babelsberg GmbH (vgl. Wiedemann 2015, S. 9).

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB

Sherlock Holmes und die sieben Zwerge (D 1992): DDR-Star Alfred Müller als Kriminalhauptkommissar / © MDR/RBB


Der Filmstab gehörte fast ausschließlich zum früheren DEFA-Personal: Die Regie übernahm der ehemalige DDR-Regisseur Günter Meyer (u. a. „Spuk unterm Riesenrad“, 1978), der bis Anfang der 2000er-Jahre weiter Akzente im Fantasy-Fach setzte.

Zudem starteten sogenannte ‚Überläufer’ wie „Das Licht der Liebe“ (DDR/D 1991) und „Olle Hexe“ (DDR/D 1991), die bereits vor dem 3. Oktober 1990 abgedreht, aber erst danach im gesamtdeutschen Kino uraufgeführt wurden.

Stabile Strukturen und Netzwerke im Westen

Der frühe gesamtdeutsche Märchenfilm nach 1990 wurde dennoch von den Akteurinnen und Akteuren in den etablierten alten Bundesländern geprägt. Hier gab es Strukturen und Netzwerke, die über Jahrzehnte gewachsen waren und sich weiter als stabil erwiesen. So führte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) Anfang der 1990er-Jahre seine Reihe „Die Welt des Märchens“ fort. Darin verfilmte der öffentlich-rechtliche Sender in Koproduktion mit der ČSSR (später: ČSFR und ČZ) sowie westeuropäischen Fernsehanstalten bekannte Märchen für Kino und TV.

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF

Des Kaisers neue Kleider (ČZ/D/ES/I 1994): Harald Juhnke (2. v. r.) spielte die Titelfigur / © ZDF


Opulente Produktionen wie „Dornröschen“ (ČSSR/D/F 1990), „Der Reisekamerad“ (ČSSR/D/F/I/AT 1990), „Der Froschkönig“ (ČSFR/D/F/I 1991), „Schneewittchen und das Geheimnis der Zwerge“ (ČSFR/D/I/ES 1992) oder „Des Kaisers neue Kleider“ (ČZ/D/ES/I 1994) rekrutierten ihr Personal dabei ausschließlich aus populären westdeutschen Schauspielstars, wie Iris Berben, Judy Winter, Michael Degen oder Harald Juhnke, und tschechoslowakischen Filmschaffenden.

Ebenso verfuhr die ARD, die „Das Zauberbuch“ (ČZ/D 1996) mitproduzierte, oder der Bayerische Rundfunk (BR), der sich an „Der Feuervogel“ (ČZ/D 1997) und „Die Seekönigin“ (ČZ/D 1998) beteiligte. Ostdeutsches Personal war auch hier, aufgrund der beteiligten westdeutschen Landesrundfunkanstalt (BR), so gut wie nicht vertreten.

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF

Die Seekönigin (ČZ/D 1998): Die tschechische Schauspielerin Ivana Chýlková in der Titelrolle / © ZDF


Für westliche Entscheidungsträgerinnen und -träger in ARD und ZDF kamen Ostdeutsche auch deshalb nicht infrage, weil etwaige künstlerische Positionen in den TV-Redaktionen oder Filmstäben ohnehin bereits besetzt waren. Eine Neu- oder Umverteilung war nicht gewollt.

Ostdeutsche Aspirantinnen und Aspiranten wurden nicht zuletzt diskreditiert („Bolschewistenfunk“), weil sie nach Ansicht der westdeutschen Elite mit ihrer (künstlerischen) Arbeit das DDR-Regime direkt oder indirekt gestützt hätten. Und das, obwohl nach dessen Ende das DEFA- und DFF-Personal über berufliche Qualifikationen und notwendiges Fachwissen verfügte.

Lichtblick am Ende der 1990er-Jahre

Da wirkte es wie eine große Überraschung als Ende der 1990er-Jahre der frühere DEFA-Regisseur Rolf Losansky „Hans im Glück“ (D 1999) vorlegte – und dabei auf ein proportional ausgeglichenes hochkarätiges Ost-West-Schauspielensemble zurückgriff. Der Grund dafür mag darin gelegen haben, dass den von der Westberliner Genschow-Film GmbH produzierten Märchenfilm neben dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) auch der in Potsdam ansässige ORB und der 1997 im thüringischen Erfurt gestartete ARD-/ZDF-Kinderkanal (seit 2012: KiKA) mitfinanzierte, für den der MDR bis heute verantwortlich ist.

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film

Hans im Glück (D 1999): Ost (Fred Delmare, r.) und West (Andreas Bieber) vor der Kamera / © Genschow-Film


Und auch wenn der Posten des KiKA-Programmgeschäftsführers von 1997 bis 2017 mit westdeutsch sozialisierten männlichen Entscheidungsträgern besetzt wurde (seit 2018: Astrid Plenk aus Bernburg/Sachsen-Anhalt), ist es denkbar, dass sich schon Ende der 1990er-Jahre die Redaktionen zum Teil aus ostdeutschem Personal zusammensetzten – und sich dieser Umstand auf die Märchenfilm-Produktionsplanung (Regie, Drehbuch, Schauspiel etc.) auswirkte.

Märchen-Parodien in Kino und TV für Erwachsene

Dennoch ging von „Hans im Glück“ vorerst keine Trendwende aus. Schlichtweg aus dem einfachen Grund, weil das deutsche Märchenfilmgenre Anfang der 2000er-Jahre keine wichtigen Adaptionen nach Grimm, Andersen und Co. für ein Kinderpublikum produzierte. Fragen nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ spielten deshalb vorerst noch keine Rolle.

Gleichwohl war das Märchen weiter präsent: als Parodie in Kino und TV für Erwachsene. So funktionierten die von Otto Waalkes mitproduzierten Filmkomödien „7 Zwerge – Männer allein im Wald“ (D 2004) und „7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug“ (D 2006) an den Kinokassen. Und im Privatsender ProSieben flimmerte „Die Märchenstunde“ (D/AT/ČZ 2006–2012) der Rat Pack Filmproduktion (München) über die Bildschirme.

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures

7 Zwerge – Männer allein im Wald (D 2004): Das West-Ensemble war meist unter sich / © Universal Pictures


Hier wie dort griffen die Filmverantwortlichen auf westdeutsches Personal zurück, das vor oder hinter der Kamera agierte, wenn man von wenigen im Osten geborenen Schauspielstars (Nina Hagen, Mirco Nontschew, Jeanette Biedermann etc.) einmal absah.

„Sechs auf einen Streich“ und „Märchenperlen“

Ab Mitte der 2000er-Jahre erlebte der Märchenfilm im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von ARD und ZDF ein Comeback. Die meist an den Weihnachtsfeiertagen erstmalig gezeigten Adaptionen der Reihen „Märchenperlen“ (ZDF, seit 2005, auch Koproduktionen) und „Sechs auf einen Streich“ (ARD, seit 2008) richteten sich dabei sowohl an ein Kinder- als auch Familienpublikum.

Dafür gründete die Kinder- und Jugendredaktion des ZDF Anfang der 00er-Jahre eine Art ‚Think Tank’, dem auch der Münchner Filmproduzent Ernst Geyer angehörte. Die Denkfabrik sollte eine Konzeption für zunächst sechs Märchenfilme entwickeln. Darin wurden auch fünf Drehbuchautoren und eine Drehbuchautorin aus den alten Bundesländern berufen. Mitfinanziert wurden die ersten vier Märchenfilme (2005–2008) neben der Länderförderung Bayern und Hamburg von der in Leipzig ansässigen Mitteldeutschen Medienförderung (vgl. Ungureit 2009, S. 10f.).

Ostdeutsche im ARD- und ZDF-Märchenfilm

Um tendenzielle Aussagen darüber zu treffen, ob und wie viele DDR-sozialisierte Filmemacherinnen und -macher das bundesdeutsche Märchengenre mitpräg(t)en, soll der Blick stichprobenartig auf die Bereiche Regie und Drehbuch gelenkt werden.

Bis 2021 drehte das ZDF 19 Märchenfilme*, an denen insgesamt 13 Regisseure (10) und Regisseurinnen (3) beteiligt waren. Davon sind zwei (15 Prozent)** im Osten geboren: Karola Hattop, die seit 1973 Kinder- und Familienfilme für das DDR-Fernsehen und später für das ZDF zwei Märchenfilme („Die sechs Schwäne“, 2012 und „Die Schneekönigin“, 2014) inszenierte, sowie Carsten Fiebeler („Die goldene Gans“, 2013), der erst nach der Wende als Regisseur arbeitete. Koproduziert wurden diese drei ZDF-Märchenfilme von der im Jahr 2000 im thüringischen Erfurt gegründeten Kinderfilm GmbH (später: Mideu Films GmbH).

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans

Die sechs Schwäne (D 2012): Sinja Dieks und André Kaczmarczyk in den Hauptrollen / © ZDF/Steffen Junghans


Anders als beim ZDF verteilt sich die Produktion der ARD-Märchenfilme auf die neun Landesrundfunkanstalten. Die in der DDR geborene ehemalige RBB-Mitarbeiterin Sabine Preuschhof koordinierte die Reihe „Sechs auf einen Streich“ in den ersten Jahren. Werden die 52 ARD-Adaptionen bis 2021 im Hinblick auf Ost-West-Besetzung ausgewertet, zeigt sich folgendes Bild: Von insgesamt 26 Regisseuren (20) und Regisseurinnen (6) haben fünf (19 Prozent) eine Ost-Sozialisation**.

Fürneisen und Fiebeler gehören zu Top-Regisseuren

Darunter ist Bodo Fürneisen, der bei fünf ARD-Märchenfilmen auf dem Regiestuhl sitzt – er wird nur übertroffen vom westdeutschen Regisseur Christian Theede mit sechs NDR-Adaptionen. Fürneisen hatte bereits für das DDR-Fernsehen die Klassiker „Die Geschichte vom goldenen Taler“ (DDR 1985) sowie „Die Weihnachtsgans Auguste“ (DDR 1988) inszeniert. Fiebeler kommt insgesamt auf vier ARD-Adaptionen und zeigt, dass man in ZDF und ARD erfolgreich Märchen verfilmen kann.

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR

Die Weihnachtsgans Auguste (DDR 1988): Dietrich Körner spielte den Opernsänger Ludwig Löwenhaupt / © MDR


Dabei verantwortet die fünf Fürneisen-Märchenfilme und eine Fiebeler-Adaption die in Potsdam ansässige Landesanstalt RBB. Fiebelers drei andere ARD-Verfilmungen entstehen zwar unter Federführung der westdeutschen Anstalten Hessischer Rundfunk (HR) bzw. Südwestrundfunk (SWR), werden aber zum Teil von der Kinderfilm GmbH produziert: „Das blaue Licht“ (D 2010).

Nur wenige ‚ostdeutsche’ Märchenfilm-Drehbücher

Bei zwei weiteren mit Osthintergrund (Regie) gedrehten Filmen ist neben Radio Bremen (RB), dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) und dem HR auch der MDR als Koproduzent vertreten. Einen weiteren Märchenfilm verantwortet die in Leipzig ansässige Landesanstalt ganz allein, wobei zudem die Kinderfilm GmbH das Märchen im Auftrag des MDR produziert.

Im Hinblick auf eine Ost-West-Sozialisation von Drehbuchautorinnen und -autoren im ZDF- und ARD-Märchenfilm zeigt sich ein ähnliches Bild: Von insgesamt 17, die an den „Märchenperlen“ beteiligt sind, hat nur ein Drehbuchschreiber (6 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Dieser ist aber an drei ZDF-Märchenfilmen beteiligt. Bei den ARD-Produktionen haben von insgesamt 28 Autorinnen und Autoren vier (14 Prozent) einen ostdeutschen Hintergrund**. Zwei davon arbeiten allerdings gleich an drei Märchenfilmen mit.

Von „Das kalte Herz“ zu „Timm Thaler“

Einzelne Kinofilme in den 2010er-Jahren wie die Filmmärchen „Aschenbrödel und der gestiefelte Kater“ (D 2013) und „Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte“ (D 2013, koproduziert vom BR), aber auch das nach einer klassischen Vorlage entstandene „Das kalte Herz“ (D 2016, koproduziert u. a. von ARD/MDR/SWR und mitfinanziert u. a. von Mitteldeutsche Medienförderung und Medienboard Berlin-Brandenburg) entstehen wieder weitgehend mit westdeutsch sozialisierten Filmschaffenden, wobei letztere Märchenverfilmung mit André M. Hennicke und Jule Böwe zwei ostdeutsch sozialisierte Schauspielstars engagiert.

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH

Das kalte Herz (D 2016): Frederick Lau als Peter Munk, der sein Herz tauscht / © Weltkino Filmverleih GmbH


Eine Ausnahme stellt die fantastische Romanverfilmung „Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen“ (D 2017) dar, die u. a. von den im thüringischen Gera geborenen Andreas Dresen (Regie) und Jörg Hauschild (Schnitt) sowie von der aus Potsdam stammenden Sabine Greunig (Kostüme) inszeniert wurde. Ostdeutsche wie Charly Hübner, Nadja Uhl, Reiner Heise oder Steffi Kühnert, aber auch die westdeutschen Schauspieler Justus von Dohnányi, Axel Prahl oder Bjarne Mädel machten den u. a. vom ZDF koproduzierten Kinofilm zu einem gesamtdeutschen Projekt.

Ostanteil proportional zur Gesamtbevölkerung

Demnach sind seit 1990 in Deutschland über 100 Märchenfilme entstanden, die entweder vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ARD, ZDF) oder von freien Produktionsfirmen hergestellt wurden. Doch untermauern die Statistiken und Filmbeispiele die These, dass es im bundesdeutschen Märchenfilm heute noch eine „Repräsentationslücke“ von DDR- oder ostdeutsch-sozialisierten Filmemacherinnen und -machern gibt?

Vor dem Hintergrund, dass etwa 17 Prozent aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger ostdeutscher Herkunft sind (vgl. Kollmorgen 2021, S. 235) und diese Zahl als Vergleichsgröße gilt, wirkt der Regieanteil im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von 19 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“) und 15 Prozent (ZDF: „Märchenperlen“) sowie der Drehbuchanteil von 14 Prozent (ARD: „Sechs auf einen Streich“)** relativ proportional. Nur der ‚ostdeutsche’ Drehbuchanteil am ZDF-Märchenfilm von 6 Prozent ist unterproportional.**

Die Zahlen zeigen zudem wenig überraschend, wenn die beiden ‚Ost-Landesanstalten’ RBB und MDR an Märchenfilmen der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ beteiligt sind, werden für die Posten Drehbuch und Regie ebenso ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler interessant. Zudem wirkt sich die Beteiligung ostdeutscher Produktionsfirmen, beispielsweise der „Kinderfilm-GmbH“, auf den Anteil im Osten sozialisierter Akteure und Akteurinnen aus.

ARD-Landesanstalten mit ‚Lokalpatriotismus’

Dennoch lässt das nicht pauschal den Schluss zu, die in Thüringen bzw. Sachsen-Anhalt ansässige Firma arbeite vorrangig mit ostdeutschem Personal, im Unterschied zu im Westen ansässigen Produktionsfirmen.

Dafür spricht, dass „Kinderfilm“ auch ZDF-Märchenfilme verantwortete, die eine westdeutsche Regisseurin (Anne Wild: „Hänsel und Gretel“, 2006) oder einen westdeutschen Regisseur (Frank Stoye: „Der Zauberlehrling“, 2017; „Der süße Brei“, 2018) rekrutierten. Das gilt auch für die von „Kinderfilm“ produzierten ARD-Märchenfilme „König Drosselbart“ (D 2008), „Die Gänsemagd“ (D 2009) und „Rotkäppchen“ (D 2012) – alle in der Regie der Münchnerin Sibylle Tafel.

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland

Rotkäppchen (D 2012): Der Wolf (Edgar Selge) mit der Titelfigur (Amona Aßmann) im Wald / © HR/Felix Holland


Trotzdem scheint es, dass „Kinderfilm“ – im Gegensatz zu im Westteil Deutschlands ansässigen Produktionsfirmen – ein Stück weit sensibilisierter mit der Rekrutierung von Filmschaffenden umgeht. Andererseits kann dem Unternehmen, wie auch einigen ost- und westdeutschen ARD-Landesrundfunkanstalten allgemein vorgehalten werden, dass sie einen ‚Lokalpatriotismus’ bedienen, das heißt: vor allem Filmschaffende engagieren, die auf dem Gebiet der jeweiligen Rundfunkanstalt oder eines Bundeslandes leben und für den Sender bereits arbeiten.

Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Wenn RBB und MDR keine oder weniger im Osten sozialisierte Künstlerinnen und Künstler rekrutieren würden, lägen die Anteile bei Regie und Drehbuch deutlich unter dem erwähnten quantitativen Minderheitenstatus der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung (17 Prozent). Denn die anderen sieben im Westen ansässigen Landesanstalten NDR, RB, WDR, HR, SWR, BR und Saarländischer Rundfunk (SR) würden das mit dem von ihnen engagierten Ostpersonal nicht auffangen.

Die ostdeutsche Übernahme

Doch wie wirkt sich der Ost-Regieanteil von 19 bzw. 15 Prozent sowie -Drehbuchanteil von 14 bzw. 6 Prozent auf die öffentlich-rechtliche Märchenfilmproduktion** aus? Folgen daraus unmittelbare Defizite?

Glaubt man Josef Göhlen, ehemaliger Leiter des Kinderprogramms beim HR und ZDF, so ist es genau umgekehrt: Der heutige bundesdeutsche Märchenfilm ist eigentlich ein DEFA-Märchenfilm 2.0. Denn für Göhlen orientieren sich die ARD- und ZDF-Märchen „an einer tradierten Märchendramaturgie, wie sie seinerzeit insbesondere von der ostdeutschen Produktionsfirma DEFA gepflegt wurde“ (Gangloff 2016, S. 8f.). Damit meint er, dass darin die Armen und Unterdrückten immer zu den im ethischen Sinn Guten, die Reichen dagegen durchgehend zu den Bösen zählten. Er halte es für einen großen Fehler, diese Dramaturgie nachzuahmen.

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR

Das tapfere Schneiderlein (DDR 1956): König Griesgram (Fred Kronström), Prinz Eitel (Horst Drinda), Prinzessin Liebreich (Gisela Kretzschmar) gelten in dem DEFA-Märchenfilm als die Bösen / © MDR


Die Schweizer Filmkritikerin Christine Lötscher meint, dass sich die ARD- und ZDF-Adaptionen zudem gestalterisch „an der historisierenden Ästhetik der DEFA-Märchenfilme“ (Lötscher 2017, S. 310) orientieren. Und: Wie den DDR-Produktionen liege dem öffentlich-rechtlichen Märchenfilm „eine Analyse und Interpretation der Textvorlage zugrunde; die zeitlosen Konflikte der Figuren werden konkretisiert, psychologisiert und in die Gegenwart übertragen“ (ebd. S. 311). Allerdings gelinge es eher selten, den ganz eigenen Zauber der DEFA-Filme zu reproduzieren.

Daraus wäre auf die hier diskutierte Frage zu schließen, dass sich seit 1990 keine westdeutsche „Übernahme“ in der gesamtdeutschen Märchenfilmproduktion, sondern umgekehrt eine ostdeutsche „Übernahme“ vollzogen hat – wenn auch ‚nur’ in dramaturgischer und gestalterischer Hinsicht.

Diversität: Frauenanteil und Migrationshintergrund

Gleichwohl bleibt damit die Frage nach einer angemessenen personellen ostdeutschen Teilhabe in der bundesdeutschen Märchenfilmproduktion bestehen. Flankiert wird sie allerdings im 21. Jahrhundert mit der Forderung nach einer generellen Diversität in diesem Filmgenre: Die stichprobenartigen Statistiken zeigten beispielsweise, dass der Frauenanteil – nicht nur im Regie- und Drehbuchfach – sehr gering ist.

Zudem sind Filmschaffende mit Migrationshintergrund noch Ausnahmen. Der deutsch-türkische Regisseur Cüneyt Kaya („Das Märchen vom goldenen Taler“, 2020), der in Istanbul geborene Regisseur und Drehbuchautor Su Turhan („Die drei Federn“, 2014; „Prinzessin Maleen“, 2015; „Der starke Hans“, 2020) oder der in Vietnam geborene Kameramann und Regisseur Ngo The Chau (u. a. „Die Hexenprinzessin“, D/CZ, 2020) sind drei Beispiele. Ebenso lassen sich hier der Finne Hannu Salonen („Des Kaisers neue Kleider“, 2010) oder die in Stockholm geborene deutsche Regisseurin Maria von Heland („Die Sterntaler“, 2011; „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, 2013) nennen.

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein

Die Hexenprinzessin (ČZ/D 2020): Zottel (Charlotte Krause), Prinz (Jerry Hoffmann), Bero (J. Vogel) / © ZDF/Conny Klein


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DDR reloaded: Der identitätsstiftende DEFA-Märchenfilm

Die Frage nach einer ‚West-Dominanz’ oder einer ‚Ost-Verdrängung’ im deutschen Märchenfilmgenre sollte deshalb um andere Gruppen (Frauen, Migrationshintergrund) in den nächsten Jahren erweitert werden. Um das personelle Defizit ausgeglichener zu gestalten, braucht es nicht unbedingt starre Quotenregelungen. Dafür sensibilisierte Filmschaffende in den Chefinnen- und Chefetagen wären schon einmal ein Anfang.

* Ohne den Märchenfilm „Zwerg Nase“ (D, 2008, R: Felicitas Darschin). Dieser entstand im Auftrag des BR, wird aber zu den ZDF-„Märchenperlen“ gezählt, obwohl der Sender nicht daran beteiligt war.

** Die Herkunft der Filmschaffenden wurde in öffentlichen Quellen (Internet, Fachmedien) recherchiert und/oder individuell bei den Künstlerinnen und Künstlern angefragt (E-Mail). Da nicht zu allen Filmschaffenden die Herkunft recherchiert werden konnte, können die Zahlen prozentual leicht abweichen (Stand: 24.3.2022).

Verwendete Quellen:


Headerfoto: Die kluge Bauerntochter (BRD 2010): Die Titelfigur (Anna Maria Mühe, l.) und ihre Freundin die Magd (Sabine Krause) bestaunen das Fernrohr des Königs / Foto: MDR/Sandy Rau

Der Petrusschlüssel (CZ/SK/D 2023): Der magische Türöffner des Jesu-Jüngers ist geklaut / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá

90 Minuten Christenlehre: Der Petrusschlüssel (CZ/SK/D 2023)

Der magische Türöffner des Jesu-Jüngers ist geklaut. Was als Märchen-Satire höchst amüsant hätte werden können, endet in einem durchschnittlichen Erziehungsfilm.

Zwar gehören Himmel und Hölle zum Märchen wie Krieg und Frieden. Doch die Filmemacherinnen und -macher reizt die Unterwelt deutlich mehr als das Gottesreich.

Beispiele sind deutsche Adaptionen des Grimmmärchens „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ (1955, 1977, 2009, 2013), der DEFA-Märchenfilm „Hans Röckle und der Teufel“ (DDR 1974), die 80er-Jahre-Produktion „Mit dem Teufel ist nicht gut spaßen“ (ČSSR 1985) frei nach Božena Němcová („Des Teufels Schwager“) oder zuletzt die slowakisch-dänisch-tschechische Zusammenarbeit in „Die Teufelsfeder“ (2018).

Hier wie dort wird die Hölle zumeist als Ort komischer Verwicklungen inszeniert, in denen der Teufel als Hausherr oftmals den Kürzeren zieht.

Moralische Legendenmärchen

Der Schneider im Himmel (1916): Illustration von Paul Hey / Quelle: Grimm-Wiki

Der Schneider im Himmel (1916): Illustration von Paul Hey / Quelle: Grimm-Wiki

Dabei ist das Gottesreich im literarischen Märchen ebenbürtig vertreten, wie z. B. in den Grimmmärchen „Der Schneider im Himmel“ oder „Das Bürle im Himmel“: In beiden, dem Schwank nahestehenden Geschichten tritt der heilige Petrus auf, der den Schlüssel fürs Himmelsreich verwahrt. Auch die Legendenmärchen der tschechischen Schriftstellerin Božena Němcová sind hier mit zu nennen.

Jedoch schienen solche Art ‚Himmel-Märchen’ lange Zeit ungeeignet für eine Adaption, was den klassischen Märchenfilm betraf. Das hat einerseits mit ihrer Kürze und geringen Bekanntheit zu tun, andererseits damit, dass darin märchenhafte Elemente in den Hintergrund und die christliche Moral deutlich in den Vordergrund treten.

„Ein Engel des Herrn“ (2005)

Im tschechischen Kino änderte sich das allerdings mit der Weihnachtskomödie „Ein Engel des Herrn“ (CZ 2005): Die Geschichte erzählt von Erzengel Petronel, der (einen Tag vor der Geburt des kleinen Christus) im Himmel Unfug treibt. Als er sich auch noch mit Gott anlegt, wird er zu 24 Stunden bei den Menschen verdonnert, um einen Sünder zu bekehren. Gelingt es ihm nicht, landet er am ersten Weihnachtsfeiertag in der Hölle.

Ein Engel des Herrn 2 (CZ 2016): Die Fortsetzung erzählt über die Suche nach dem Apfel des Wissens / © Česká televize

Ein Engel des Herrn 2 (CZ 2016): Die Fortsetzung erzählt über die Suche nach dem Apfel des Wissens / © Česká televize


Der von Jiří Strach inszenierte Film basiert im Kern auf einer Idee von Božena Němcová (ein wandernder Engel auf der Erde). Ansonsten ist er mit intelligentem Witz und Humor frei erzählt, mahnt Demut und Nächstenliebe an und ist mit einer Reihe Märchenmotive (Zaubertasche u. a.) gespickt. Sowohl „Ein Engel des Herrn“ als auch die Fortsetzung („Ein Engel des Herrn 2“, CZ 2016) erreichten beim tschechischen Publikum hohe Einschaltquoten (vgl. Sůva 2018, S. 260ff.).

„Als ein Stern vom Himmel fiel“ (2020)

Es hatte den Anschein, dass die beiden Filme – für das Märchengenre gesprochen – den Weg für ähnliche Plots ebneten, wie z. B. für „Als ein Stern vom Himmel fiel“ (CZ/SK/D 2020).

Als ein Stern vom Himmel fiel (CZ/SK/D 2020): Der Tagesstern (Tereza Ramba, M.) auf der Erde / © KiKA/Česká televize

Als ein Stern vom Himmel fiel (CZ/SK/D 2020): Der Tagesstern (Tereza Ramba, M.) auf der Erde / © KiKA/Česká televize


Die Handlung spielt ebenso kurz vor Weihnachten, an dem ein vermenschlichter weiblicher Stern auf der Erde dem Glück auf die Sprünge hilft. Das Drehbuch steht hier der christlichen Weihnachtsgeschichte nahe (wenn der vom Himmel gefallene Stern, aber nicht die Geburt Jesu ankündigt, wie im Evangelium nach Matthäus [Mt 2,2], sondern die Liebe zweier Erdenbürger aus unterschiedlichen sozialen Schichten befördert).

„Der Petrusschlüssel“ (2023)

Die 90-minütige, tschechisch-slowakisch-deutsche Koproduktion „Der Petrusschlüssel“ (2023) lässt sich ebenso mit in diese Reihe aufnehmen. Sie entsteht in einer Zusammenarbeit der öffentlich-rechtlichen Sender Česká televize (ČT), RTVS – Rozhlas a televíza Slovenska und KiKA. Dennoch ist die Handlung weitaus stärker und eindeutiger an der biblischen Überlieferungsgeschichte ausgerichtet – und vor dem Hintergrund eines moralischen Kodex weitererzählt.

Der Petrusschlüssel (CZ/SK/D 2023): Hier hat der Heilige (Ivan Romančík) ihn noch / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá

Der Petrusschlüssel (CZ/SK/D 2023): Hier hat der Heilige (Ivan Romančík) ihn noch / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá


Denn der magische Türöffner von Petrus (einer der wichtigsten Apostel und Jünger Jesu, der den Zugang zum Himmelsreich gewährt oder verbietet, [Mt 16,19]) ist verloren gegangen. Im Film entspinnt sich daraufhin eine mit Screwball-Comedy-Elementen gespickte Geschichte inklusive viel Humor, schnellem Rhythmus, übersteigerten Charakteren und einer am Ende nicht-standesgemäßen Heirat – wie schon in „Als ein Stern vom Himmel fiel“.

„Wer viel lügt, hat kurze Beine!“

Das inhaltlich überspannende Thema sind aber christliche Verhaltenstugenden. Deutlich zeigt sich das bereits zu Beginn, als der gute und ehrliche Bänkelsänger Tobiáš (Filip Březina) ein Lied mit der Laute (Spiel: Lukáš Pelikán, Musik: David Solař) singt, dessen Text thematisch schon einmal den Rahmen absteckt:

Wer viel lügt, hat kurze Beine! /
Und bleibt ein Leben lang alleine. /
Drum rate ich: Bleib ehrlich und redlich, /
sonst sucht dich die Liebe tagtäglich vergeblich. /

Der Petrusschlüssel: Tobiáš (Filip Březina) singt vom Lügen und Stehlen / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá

Der Petrusschlüssel: Tobiáš (Filip Březina) singt vom Lügen und Stehlen / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá


Liebe Herren und liebe Frauen /
so höret auf, euch zu beklauen. /
Denn eines Tages, das könnt ihr mir glauben, /
wachet ihr auf mit Tränen in den Augen.

Erkennbar sind daraus zwei („Du sollst nicht lügen!“, „Du sollst nicht stehlen!“) der zehn Gebote aus dem Alten Testament herauszulesen, hier verbunden mit Folgen, wenn das Gebot missachtet wird. Der heilige Petrus (Ivan Romančík), der sich gerade unter die Menschen mischt und auf dem Weg ins Gasthaus ist (!), lobt das Lied anerkennend („Sehr schön!“).

Himmel oder Hölle?

Doch ausgerechnet Tobiáš wird von Kleinganove Wilhelm (Mark Kristián Hochman) und seinem weiblichen Pendant Emílie (Berenika Kohoutová) in einen Diebstahl hineingezogen (Wilhelm klaut Petrus den Himmelsschlüssel). Bei der Flucht ertrinkt das Trio im Fluss, steht später vor der Himmelspforte, wird von Petrus erkannt („Eure Sünden kenne ich schon, da muss ich erst gar nicht im Sündenbuch nachlesen!“) und zurück auf die Erde geschickt, um den Schlüssel zu holen. Sonst drohe die Hölle – wie schon in „Ein Engel des Herrn“.

Der Petrusschlüssel: Tobiáš (Filip Březina, v.l.n.r.), Wilhelm (Mark Kristián Hochman), Emílie (Berenika Kohoutová) / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá

Der Petrusschlüssel: Tobiáš (Filip Březina, v.l.n.r.), Wilhelm (Mark Kristián Hochman), Emílie (Berenika Kohoutová) / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá


Bildlich lehnt sich die Himmelstor-Sequenz an pittoreske Kirchen-Deckengemälde der Renaissance, in denen weiße Cumulus-Wolken die Figuren umschweben. Die Komposition atmet dank gold-glänzendem Licht zudem eine gott-erhabene Stimmung (Ausstattung: Jan Vlasák). Petrus selbst trägt überdies einen Heiligenschein – was hier nicht ironisch, sondern ernst gemeint ist. Allenfalls sein Bemühen, das verschlossene Himmelstor mit einem Brecheisen zu öffnen, zahlt auf den Humor ein.

Tschechoslowakische Märchentradition

Auf der anderen Seite verwendet das Filmskript bekannte Märchenmotive und populäre Märchenfiguren, die das Publikum aus anderen tschechisch-slowakischen (und auch tschechoslowakischen, 1948–1990) Märchenfilmen bereits kennt und mitunter eine Reminiszenz an die Tradition des Genres sind:

Dazu zählen im Figurenensemble eine kluge Prinzessin (Sára Korbelová); ein trotteliger Königsvater (Petr Nárožný); ein böser Kanzler (David Novotný), der selbst auf den Thron will, nebst ebenso böser Kanzlerfrau (Sabina Remundová), und ein unglücklich verliebter Wassermann (Lukáš Příkazký) aus dem Schlosssee, der die Prinzessin heiraten will.

Der Petrusschlüssel: Vater (Petr Nárožný) und Tochter (Sára Korbelová) / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá

Der Petrusschlüssel: Vater (Petr Nárožný) und Tochter (Sára Korbelová) / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá


Der Petrusschlüssel: Schon die Kostümfarbe Lila zeigt den negativen Charakter des Kanzlerehepaares (Sabina Remundová, David Novotný) an / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá

Der Petrusschlüssel: Schon die Kostümfarbe Lila zeigt den negativen Charakter des Kanzlerehepaares (Sabina Remundová, David Novotný) an / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá


Letztgenannte Figur ist aus Sagen und Märchen entlehnt, in denen Wassermänner und -frauen die Seelen Ertrunkener in kleinen Porzellantöpfchen sammeln. Im modernen Märchenfilm „Wie soll man Dr. Mráček ertränken? Oder: Das Ende der Wassermänner in Böhmen“ (ČSSR 1975) ist dieser Aberglaube originell ausfabuliert. In „Der Petrusschlüssel“ lässt der Wassermann die Seelen zudem in den Himmel zu Petrus aufsteigen.

„Herzog Neptun“ und „Baron Tobiáš“

Außerdem nutzt Drehbuchschreiber Petr Hudský die im Volks- und Kunstmärchen häufig anzutreffenden Freierproben, denn Prinzessin Viola soll verheiratet werden. Dafür sucht das Kanzlerehepaar den „Herzog Neptun“ (Wassermann) aus, der die Prinzessin – so der geheime Kanzler-Plan – nach der Trauung mit in den See nimmt, wo sie ertrinken würde.

Der Petrusschlüssel: Das ist nicht der Hutmacher sondern der Wassermann (Lukáš Příkazký) / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá

Der Petrusschlüssel: Das ist nicht der Hutmacher sondern der Wassermann (Lukáš Příkazký) / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá


Doch auch der ehrliche Bänkelsänger Tobiáš, der wider Willen als „Baron Tobiáš“ mit Wilhelm und Emílie den Petrussschlüssel im Schloss sucht, findet sich plötzlich als Freier wieder. Dabei spannt die (Not-)Lüge des Trios – sie geben sich als jemand anderes aus als sie eigentlich sind – einen Bogen zu den Verhaltenstugenden („Du sollst nicht lügen!“). Zudem verliebt sich Tobiáš in die Prinzessin – und sie in ihn.

Drei Prüfungen für die beiden Freier

Beide Bewerber, Wassermann und Tobiáš, erfüllen wie im klassischen Märchen drei Aufgaben, die sich das Kanzlerehepaar ausdenkt. Auch jene kreisen um Verhaltenstugenden und um die Frage, ob diese in bestimmten (Not-)Situationen auch einmal umgangen werden können.

Der Petrusschlüssel: Der Kanzler (David Novotný) hintergeht den König (Petr Nárožný) / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá

Der Petrusschlüssel: Der Kanzler (David Novotný) hintergeht den König (Petr Nárožný) / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá


So müssen die Heiratskandidaten (1) Gold beschaffen (Tobiáš, Wilhelm und Emílie stehlen es dem Kanzlerehepaar, das es wiederum selbst der Bevölkerung mit Hilfe des magischen Petrusschlüssels gestohlen hat), (2) das goldene Fischlein herbeiholen, das Wünsche erfüllt (das Trio stiehlt es dem Wassermann) und (3) den Petrusschlüssel heraufholen, der sich mittlerweile auf dem Grund des Schlosssees befindet (Tobiáš lässt eine Kopie vom Schmied anfertigen, um den Wassermann und das Kanzlerehepaar zu täuschen).

„Aber mit Lügen ist jetzt Schluss!“

Dabei spiegelt sich in den Prüfungen Tobiáš’ in Wahrheit ehrbarer Charakter, wenn er vorschlägt, das gestohlene Gold an die Bevölkerung zu verteilen; sich vom Fischlein wünscht, Menschenleben zu retten und am Ende Prinzessin Viola vorm Ertrinken rettet – und dabei in Kauf nimmt, in der Hölle zu landen, wenn Petrus zu spät den Schlüssel zurückbekommt.

Am Ende hat der Heilige ein Einsehen, weil sich das Trio „gebessert“ hat und schenkt den dreien das Leben auf der Erde, schickt jedoch noch einen Satz hinterher: „Aber mit Lügen und komischen Geschichten ist jetzt endgültig Schluss!“

Keine Satire wie in „Das Leben des Brian“ (1979)

Im Vergleich mit Satiren auf die biblische Überlieferungsgeschichte, wie z. B. „Das Leben des Brian“ (GB 1979) und seiner originellen Kritik an christlichem und jüdischem Dogmatismus, hat „Der Petrusschlüssel“ – wenig überraschend – nichts gemein. Dabei hat die Ausgangsidee (jemand stiehlt dem Heiligen den Türöffner) durchaus das Potential einer spannenden, märchenhaft erzählten Geschichte.

Doch bleibt der Film in der Regie von Karel Janák (u. a. „Wie man keine Prinzessin heiratet“, 2021) streckenweise zu sehr lehrhaftes Exempel und Petrus selbst ein autoritärer Über-Himmel-und-Hölle-Entscheider, dessen Figur nur punktuell mit einem Augenzwinkern angelegt ist. Auch die Idee des „Sündenbuchs“ scheint gestrig und erinnert an „Ablasshandel“ und andere Dummheiten des Spätmittelalters.

Der Petrusschlüssel: Tobiáš (Filip Březina) ist in die Prinzessin verliebt / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá

Der Petrusschlüssel: Tobiáš (Filip Březina) ist in die Prinzessin verliebt / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá


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MEHR ZUM THEMA
Dornröschen und der Fluch der siebten Fee (D/CZ 2024) – oder: Die Erweckung Rosabellas
Magische Zeitreise: Die drei goldenen Dukaten (SK/CZ 2023)
Küssen verboten: Wie man keine Prinzessin heiratet (CZ/D/SK 2021)

Das Märchengenre selbst bedienen vor allem die außerfilmischen Drehorte, wie Schloss Sychrov („Dornröschen und der Fluch der siebten Fee“, D/CZ 2024) oder Burg Zvíkov, aber auch die neu entstandenen: Gemeint ist das vorzügliche Unterwasserreich mit dem Zuhause des Wassermanns, das einfallsreich einem versunkenenen Schiffswrack nachempfunden ist.

Film: „Der Petrusschlüssel“ (CZ/SK/BRD, 2023, R: Karel Janák).

Drehorte:

  • Burg Zvíkov (dt.: Klingenberg), Zvíkovské Podhradí 1, 397 01 Zvíkovské Podhradí, Tschechien
  • Marína Šturmovky, Orlík, 262 31 Bohostice, Tschechien
  • Schloss Sychrov (dt.: Sichrow), 463 44 Sychrov, Tschechien
  • 378 81 Slavonice, Tschechien (Stadtszenen)
  • Sportcentrum Suchdol ČZU, Sídlištní 1073, 165 00 Praha-Suchdol, Tschechien

Verwendete Quellen:


Headerfoto: Der Petrusschlüssel (CZ/SK/D 2023): Der magische Türöffner des Jesu-Jüngers ist geklaut / © KiKA/Česká televize/Pavla Černá